T. Witschke: Gefahr für den Wettbewerb?

Cover
Titel
Gefahr für den Wettbewerb?. Die Fusionskontrolle der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die "Rekonzentration" der Ruhrstahlindustrie 1950-1963


Autor(en)
Witschke, Tobias
Reihe
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 10
Erschienen
Berlin 2009: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Obermüller, Ruhr-Universität Bochum

Der Vertrag über die Errichtung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahre 1950 markiert den ersten Schritt zu einem gemeinsamen Europa. Über die Gründung der Behörde, einzelne Ruhrunternehmen sowie die politischen Willensbildungsprozesse ist die historische Forschung ziemlich genau im Bilde. Als Forschungsdesiderate galten aber bis zu Tobias Witschkes Dissertation die Wirkung der Fusionskontrolle der EGKS und die Rolle der Hohen Behörde bei der Wiederverflechtung der deutschen Wirtschaft nach den alliierten Neuordnungsmaßnahmen.

Witschkes theoretischer Rahmen greift auf Ansätze der Neuen Institutionenökonomik zurück. Mit Hilfe der Prinzipal-Agent-Theorie untersucht er, inwiefern die Unternehmenszusammenschlüsse der Ruhrstahlindustrie den Wettbewerb behinderten und die Hohe Behörde den Artikel 66 des EGKS-Vertrags, also die Vorschriften zur Fusionskontrolle, falsch umsetzte, insofern also die Geschichte der europäischen Supranationalität mit einem Misserfolg anfing. Dazu werden zunächst ausführlich der Artikel 66 und die damit zusammenhängenden wettbewerbspolitischen Vorstellungen der alliierten Besatzungsmächte analysiert. Der Gegensatz zwischen amerikanischen Vorgaben und europäischen Widerständen gegen eine Fusionskontrolle wird dabei besonders evident. Witschke kommt zu dem Ergebnis, dass die Hohe Behörde mit der Aufnahme des Artikels in den EGKS-Vertrag zwar über ein Mandat zur Fusionskontrolle verfügte, das ihr allerdings von der amerikanischen Seite quasi aufgezwungen wurde. Faktisch hatten alle europäischen Mitgliedsstaaten verschiedene "Erwartungen hinsichtlich der Anwendung dieser Kompetenz" (S. 78). Von Beginn an widersprach die von den Mitgliedsstaaten verfolgte Wettbewerbspolitik dem Artikel 66; Deutschland wollte die Neuordnungsmaßnahmen revidieren, während Frankreich genau das verhindern wollte.

In den folgenden Kapiteln schildert Witschke souverän die Neuordnung der Ruhrindustrie. Neue Erkenntnisse kann er allerdings nur selten präsentieren. Sowohl die Neuordnungsmaßnahmen als auch der Schumanplan sollten, dies war das Hauptziel des französischen Chefunterhändlers Jean Monnet, den französischen Stahlproduzenten "einen möglichst gleichberechtigten Zugang zur Ruhrkohle" verschaffen. Die Durchführung auf technisch-wirtschaftlichem Gebiet sollte dann die Hohe Behörde übernehmen. Diese Pläne scheiterten jedoch frühzeitig, denn das von Deutschland eingeforderte Selbstverbrauchskontingent für die Ruhrstahlindustrie verhinderte einen gleichberechtigten Zugriff auf die Kohlevorkommen. Der Abschnitt über die Fusionskontrolle der mittleren Ruhrkonzerne fungiert eher als Auftakt zu den beiden Hauptteilen des Buchs über die Wettbewerbspolitik der Hohen Behörde am Beispiel der Nachfolgegesellschaften der Vereinigten Stahlwerke und der Thyssen-Gruppe.

In beiden Fällen entschied die Behörde nicht nach einem einheitlichen Kriterienkatalog, sondern traf inkohärente Entscheidungen. Es war, wie Witschke treffend formuliert, "nicht möglich vorauszusagen, wann die Hohe Behörde die Genehmigung eines Unternehmenszusammenschlusses nach Artikel 66 § 2 verweigern würde" (S. 311). Es gelang der Behörde zu keinem Zeitpunkt, ein einheitliches Konzept für die Umsetzung des Artikels zu entwickeln. Witschkes Urteil über ihre Wettbewerbspolitik fällt deshalb auch ziemlich deutlich aus: Zwar wurde ihr Vorgehen akzeptiert, doch basierte die Einführung des Artikels 66 nicht auf den wettbewerbspolitischen Überzeugungen der Mitgliedsstaaten. Zudem bedurfte es amerikanischen Drucks, um überhaupt ein Kartellverbot und eine Fusionskontrolle in den EGKS-Vertrag aufzunehmen.

Die These, wonach die Bundesregierung den Artikel 66 dazu benutzte, große Teile der Neuordnung zu revidieren, ist allerdings sachlich problematisch. Wesentliche Entscheidungen wurden auf Unternehmensebene getroffen; so sprach sich beispielsweise die Gutehoffnungshütte gegen eine Wiedereingliederung ihrer mittlerweile in selbständigen Gesellschaften befindlichen Bergbau- und Hüttenbetriebe aus. Auch die Feststellung, dass im EGKS-Vertrag Dinge standen, "die eigentlich keiner umsetzen wollte" (S. 344), bedürfte einer breiteren Untersuchung anhand amerikanischer und britischer Quellen. Witschkes Quellenbasis ist an manchen Stellen ziemlich einseitig, da beinahe ausschließlich französische Originaldokumente ausgewertet wurden. Dennoch wird dem EGKS-Vertrag die Intensivierung der politischen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten "durch die Entwicklung der europäischen Stahlindustrie" bescheinigt (S. 345).

Zwar hat Witschke den Anspruch, die gesamte Fusionskontrolle der Ruhrindustrie zu untersuchen. Er konzentriert sich aber auf die Vorgänge bei den Vereinigten Stahlwerken und der Thyssen-Gruppe. Nur diese beiden großen Kapitel fußen daher auf breiter archivalischer Quellenbasis. Bei den mittelgroßen Ruhrkonzernen wie Mannesmann und der Gutehoffnungshütte beschränkt sich Witschke auf kurze und wenig in die Tiefe gehende Darstellungen. Dem langen Zeitraum zwischen der Abgabe der Dissertation 2003 und der Veröffentlichung dürfte es geschuldet sein, dass die Arbeit sich in manchen Abschnitten nicht auf dem neuesten Forschungsstand bewegt (S. 199-202). Trotz dieser Einwände ist es Witschke gelungen, zu einem nur scheinbar "ausgeforschten" Bereich der Wirtschaftsgeschichte neue Aspekte und Ergebnisse zu Tage zu fördern. Die Arbeit kann ein Impuls für zukünftige Forschungen sein. Über viele Ruhrkonzerne wissen wir für die Zeit nach 1945 noch erstaunlich wenig. Tobias Witschke hat zumindest für einen Bereich eine klaffende Lücke schließen können.

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