: Stephanus Baluzius tutelensis - Étienne Baluze (1630-1718). Un savant tullois dans la France de Louis XIV. Tulle 2007 : Éditions de la rue Mémoire, ISBN 2-9519590-8-7 144 S. € 18,00

Boutier, Jean (Hrsg.): Etienne Baluize, 1630-1718. Érudition et pouvoirs dans l'Europe classique. Limoges 2008 : Presses universitaires de Limoges (Pulim), ISBN 978-2-842-87473-5 380 S. € 30,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Ulbert, Langues Étrangères Appliquées, Université de Bretagne Sud

Der europäischen Geisteswelt des ausgehenden 17. Jahrhunderts galt Étienne Baluze (1630-1718) als einer der größten Gelehrten seiner Zeit (Sammelband/S. 263). Die annähernd 60 Bücher, die der französische Kirchenhistoriker während seines langen Lebens verfasste oder edierte, wurden auch noch in den Jahrzehnten nach seinem Tode europaweit wiederaufgelegt, ausgiebig kommentiert und rezipiert (Sammelband/S. 335). Im 19. Jahrhundert begann Baluze dann immer mehr der Vergessenheit anheim zu fallen. Ihm wurde nie, im Gegensatz etwa zu seinem Kollegen Dom Jean Mabillon, die Ehre zuteil, Namensgeber einer Pariser Metrostation zu werden. Auch eine nach ihm benannte Straße sucht man außerhalb seiner Geburtsstadt Tulle im Limousin vergebens.

Der Grund für dieses Vergessen ist wohl auf zwei Umstände zurückzuführen. Zum einen ist das allgemeine Interesse an den Forschungsgegenständen Baluzes, das heißt an Patristik, kanonischem Recht und vor allem spätantiker und frühmittelalterlicher Kirchengeschichte, seit seinem Tode immer mehr zurückgegangen. Zum anderen ist fast sein gesamtes Werk in lateinischer Sprache verfasst, was seine Leserschaft schon aus sprachlichen Gründen über die Jahrhunderte immer weiter einschränkte. So sind sein Name und sein Werk allenfalls noch jenen am spätmittelalterlichen Südfrankreich interessierten Forschern ein Begriff, die über seine Quelleneditionen Zugriff auf Dokumente suchen, die seit ihrer Veröffentlichung durch Baluze verloren gegangen sind (Sammelband/S. 116, 129, 164, 167, 216, 244).

Die Wiederentdeckung des Gelehrten Étienne Baluze hat sich nun der Marseiller Historiker Jean Boutier zur Aufgabe gemacht. Gleich zwei der insgesamt drei im Laufe des Jahres 2008 erschienenen Bücher sind unter seiner Federführung entstanden 1. Beide Schriften gehen auf eine in Baluzes und Boutiers Geburtsstadt Tulle organisierten Festakt zurück.

Der erste Band (Stephanus Baluzius tutelensis) umfasst zwei Festvorträge, die Jean Boutier 2006 in kurzem Abstand in Paris und Tulle gehalten hat. Der zweite (Étienne Baluze, 1630-1718. Érudition et pouvoirs dans l'Europe classique) versammelt die Beiträge einer am 21. Oktober 2006 ebenfalls in Tulle abgehaltenen Tagung. Jean Boutier hat dabei nicht nur die Konzeption und Organisation der Tagung sowie die Herausgabe des dazugehörigen Bandes übernommen, sondern zeichnet auch gleich für vier der insgesamt 14 Aufsätze verantwortlich. Zudem ist jedem der beiden Bücher ein – ebenfalls maßgeblich von Boutier erstellter – Anhang beigegeben. So findet sich im zweiten Teil des erstgenannten Buchs ein ausführlicher chronologischer Abriss des Lebens Baluzes (Monografie/S. 67-82), die Liste seiner Pfründen (Monografie/S. 83-85), ein Abdruck seiner autobiografischen Notiz (Monografie/S. 87-97), das Verzeichnis seiner Schriften (Monografie/S. 99-128), eine Aufführung seiner Porträts und Plastiken (Monografie/S. 129-132) sowie eine Auswahl der ihn betreffenden Forschungsliteratur (Monografie/S. 133-135). Diese Liste wird im Anhang des zweiten Bandes (Sammelband/S. 341-358) so weit ergänzt, dass diese jetzt Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Beide Bände ergänzen sich also, zumindest was ihre Beigaben betrifft, und fügen sich zu einem Ganzen zusammen.

Zwar gibt es einige Überschneidungen zwischen beiden im ersten Band abgedruckten Vorträgen Boutiers und seinen vier Colloquiumsbeiträgen, für sich genommen ist jedes Buch jedoch ausgewogen und in sich geschlossen. Vor allem im Tagungsband finden alle Aspekte der Persönlichkeit und der Arbeit Baluzes eine ausreichende und fachkundige Würdigung.

Der Tagungsband unterteilt sich in vier Abschnitte. Der erste beschäftigt sich mit Baluzes familiärer Herkunft (Michel Cassan, Les Baluze avant Étienne Baluze. Dynamique ou stagnation sociale [XVIe-XVIIe siècles]? Sammelband/S. 15-35, und Jarosław Dumanowski, Les Baluze et la cour française en Pologne sous Jean-Casimir et Marie Louise, et sous Jean Sobieski, Sammelband/S. 37-53). Ein Beitrag zu Baluzes Jugend und Ausbildung wäre hier wohl ebenfalls wünschenswert gewesen, wie der Herausgeber selbst betont (Sammelband/S. 338), ob ein solcher angesichts der schlechten Quellenlage jedoch überhaupt machbar gewesen wäre, ist zu bezweifeln.

Der zweite Abschnitt des Bandes behandelt die verschiedenen Anstellungen, die Baluze im Laufe seines Lebens bekleidete. Vom Privatsekretär des ebenfalls historisch interessierten Prälaten Pierre de Marca (Nicolas Schapira, Des papiers en partage. Étienne Baluze secrétaire de Pierre de Marca, Sammelband/S. 57-78) über seine Stellung im Zentrum der Macht, als Bibliothekar Colberts, des Prinzipalministers Ludwigs XIV. (Jacob Soll, Entre bibliothécaire et agent d'information. Baluze au service de Jean-Baptiste Colbert, Sammelband/S. 79-91), bis hin zu seiner Arbeit als Professor für kanonisches Recht am Collège de France (Dinah Ribard, Le droit canon au Collège royal. Étienne Baluze et la politique du savoir juridique, Sammelband/S. 93-113) und schließlich seinen Funktionen innerhalb der Kirche (Pierre Gasnault, Baluze, homme d'Église. Un sermon inédit pour le Jeudi Saint de 1712, Sammelband/S. 115-125).

Im dritten Abschnitt steht das Werk Baluzes im Vordergrund. Hier werden Baluzes Editionstätigkeit (Pierre Gasnault, Baluze éditeur de textes anciens, Sammelband/S. 129-140; Pierre Petitmengin, Baluze éditeur des Pères de l'Église, Sammelband/S. 141-161), seine besondere Verbindung zum Forschungsgegenstand des Papsttums (Jacques Chiffoleau, Baluze, les papes et la France, Sammelband/S. 163-246), seine Bedeutung als Historiker (Patricia Gillet, Étienne Baluze, historien du Limousin, Sammelband/S. 247-261) und seine Stellung innerhalb der europäischen Gelehrtenrepublik (Jean Boutier, Étienne Baluze et l'Europe savante à l'âge classique, Sammelband/S. 263-311) untersucht.

Am Schluss des Bandes steht ein Epilog. Dieser beginnt mit einem Beitrag, der sich vor dem Hintergrund der umstrittenen Urheberschaft eines Textes zur Quellenkritik mit dem Verhältnis zwischen Étienne Baluze und dem zweiten großen Gelehrten seiner Zeit, Jean Mabillon, auseinandersetzt (Jean Boutier, Étienne Baluze et les „Règles générales pour discerner les anciens titres faux d'avec les véritables“, Sammelband/S. 315-334). Das Schlusswort hat wie gewohnt der Initiator der Tagung. Hier setzt sich Jean Boutier mit der Zukunft Baluzes auseinander (Jean Boutier, En guise de conslusions. Un futur pour Étienne Baluze, Sammelband/S. 335-340).

So entsteht schließlich das Bild eines Mannes, der sich sehr früh entschied, sein Leben der Gelehrsamkeit zu widmen. Um dieses Ziel möglichst ungestört verfolgen zu können, suchte Baluze sein Leben lang die Nähe mächtiger Förderer, die ihm einerseits ein Auskommen sicherten und ihm andererseits durch die Akkumulation von Sozialkapital (Sammelband/S. 58), durch die Vermittlung von Kontakten (Sammelband/S. 174), aber auch durch direkte Einflussnahme in seiner Forschungstätigkeit von Nutzen sein konnten. Zunächst war dies der Erzbischof von Toulouse, Pierre de Marca, ein ebenfalls kirchengeschichtlich interessierter Gallikaner, dem er bis zu seinem Tode 1662 als Sekretär diente und dessen Papiere er posthum publizierte. Er war, wie Baluze später selbst schrieb, sein „optimus Mecenas“ (Sammelband/S. 285). Von 1667 bis 1701 diente er der Familie Colbert als Bibliothekar, erst dem Vater Jean-Baptiste, dem „Großen Colbert“, dann dem Sohn Seigneley, dem Marineminister, und schließlich dem Neffen Jean-Nicolas de Colbert, dem Erzbischof von Rouen. Der letzte Beschützer Baluzes war Kardinal von Bouillon.

War Baluze vielleicht nicht der größte französische Patrist seiner Zeit und wurde auf diesem Gebiet wohl von den Benediktinern Bernard de Montfaucon und Thierry Ruinart übertroffen, so war er doch einer der bedeutendsten Spezialisten für mittelalterliches Recht (Sammelband/S. 158). Hierbei legte er größten Wert auf wissenschaftliche Genauigkeit und intellektuelle Aufrichtigkeit. Um keiner Fälschung aufzusitzen, versuchte er grundsätzlich – gemäß dem Grundsatz „testis unus, testis nullus“ – verschiedene Quellen zu einem Ereignis miteinander abzugleichen und das nicht nur innerhalb ein und derselben Quellengattung (Sammelband/S. 210, 215, 253). Nicht die Authentizität eines Aktenstücks suchte er zu beweisen, sondern den Umstand, dass dieses nicht gefälscht war (Sammelband/S. 327). Dabei entwickelte er ein ganz besonderes Gespür für das Aufspüren von unbekannten Handschriften, wurde gar zum „traqueur de documents“, zum „Dokumentenjäger“ (Sammelband/S. 250).

Eben diese Fähigkeit machten sich alle seine Gönner zu Nutzen. Erzbischof Marca bediente sich seiner, um sich bei der Abfassung seiner gallikanisch motivierten Schriften zuarbeiten zu lassen. Der Kardinal Bouillon erhoffte sich von ihm Hilfe bei der Erstellung seines Stammbaums (Sammelband/S. 317). Für Colbert war er über Jahrzehnte einer jener Wissenschaftler, die halfen, als „artisans of glory“, wie sie Orest Ranum einmal treffend bezeichnete 2, die außenpolitischen Ambitionen Ludwigs XIV. mit historischen Argumenten zu legitimieren. Seine Arbeiten dienten beispielsweise zur Rechtfertigung der französischen Ansprüche auf Avignon und die Reste der Grafschaft Venaissin (Sammelband/S. 236-237, 242, 245), stützten aber auch die gallikanische Position der französischen Krone in ihrem Dauerstreit mit dem Papsttum (Sammelband/S. 178, 183, 194, 202). So war die Geschichtsschreibung Baluzes immer eng mit den territorialen und politischen Interessen der Bourbonenmonarchie (Sammelband/S. 177) und die Auswahl seiner Forschungsgegenstände wiederum eng mit seinen Karriereüberlegungen verbunden (Sammelband/S. 175-176).

Und doch blieb Baluze in seiner Arbeit immer gewissenhaft und scheint seine Ergebnisse niemals wissentlich an die Erwartungen seiner Förderer angepasst zu haben (Sammelband/S. 264). Wie sehr er sein Leben auf die Forschung ausrichtete, lässt sich nicht zuletzt an seiner untypischen Stellung innerhalb der europäischen Gelehrtenrepublik erkennen. Denn im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, suchte Baluze nicht etwa Kontakt zu allen Geistesgrößen seiner Zeit, sondern einzig und allein zu jenen, deren Forschungsinteressen ähnlich gelagert waren, wie seine eigenen. So ist es etwa Leibniz nie gelungen, eine regelmäßige Korrespondenz mit Baluze aufzubauen (Sammelband/S. 296-303). Überhaupt sind die Briefwechsel Baluzes weit weniger umfangreich als die vergleichbarer Zeitgenossen und blieben eine reine Arbeitskorrespondenz (Sammelband/S. 272).

Jean Boutier ist es mit diesen beiden sich ergänzenden Bänden gelungen, eine ausgewogene, detailreiche, ja vollständige Biographie eines zu unrecht vergessenen Gelehrten des französischen Barocks vorzulegen. Dabei ist die Form des Sammelbandes der Sache keineswegs abträglich. Zwar hätte ein auf sich allein gestellter Autor ohne Frage in einem stringenteren Stil geschrieben, es wäre ihm wohl aber nur schwerlich gelungen, ähnlich tiefe Einblicke in so verschieden gelagerte Themenkomplexe wie das Leben am polnischen Hof während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts oder die Funktionsweise des Collège de France unter Ludwig XIV. zu nehmen. Naturgemäß sind auch in diesem Tagungsband nicht alle Beiträge von gleich hoher Qualität, regelrechte Ausfälle gibt es jedoch keine. So sei die Lektüre beider Bücher jedem am ludovizianischen Frankreich Interessierten ans Herz gelegt.

Anmerkungen:
1 Beim Dritten handelt es sich um die regionalgeschichtlich ausgerichtete Dissertation von Patricia Gillet (Étienne Baluze et l'histoire du Limousin. Desseins et pratiques d'un érudit du XVIIe siècle, Genf 2008). Diese wurde zwar bereits im Jahre 1988 eingereicht, ist aber erst 2008 in einer überarbeiteten Fassung im Druck erschienen. Ein Rezensionsexemplar wollte der Verlag leider nicht zur Verfügung stellen.
2 Orest Ranum, Artisans of Glory: Writers and Historical Thought in Seventeenth Century France, Chapel Hill 1980.

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