S. Möbius: Mehr Angst vor dem Offizier als vor dem Feind?

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Titel
Mehr Angst vor dem Offizier als vor dem Feind?. Eine mentalitätsgeschichtliche Studie zur preußischen Taktik im Siebenjährigen Krieg


Autor(en)
Möbius, Sascha
Erschienen
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Jessen, Freiburg im Breisgau

Frischer Wind im alten Preußen: Die jüngere Forschung hat unseren Blick auf die friderizianische Monarchie verändert. Ein viel dynamischeres Bild von Staat und Gesellschaft ist entstanden.1 Aus der Sicht von unten, von den Regionen her, durch die Untersuchung ständischer Traditionen und staatsferner Landgemeinden, nach dem Aufhellen vornationaler Züge im Personenkult um Friedrich den Großen, dank der Betonung des „Nichtabsolutistischen im Absolutismus“ (Gerhard Oestreich), ist deutlich geworden: Auch in Preußen war die Moderne nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie ein Werk des Staates, sprich: der Reformer um Stein, Hardenberg und Humboldt.

Sogar dem angeblich erstarrten Militärwesen gesteht die jüngere Forschung eine begrenzte Beweglichkeit zu. Das Heer hat, wenn überhaupt, offenbar nur sehr unruhig auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen geschlummert. Ins Wanken geraten sind altbeliebte Erklärungen für die Niederlage gegen Napoleon. Dass tatsächlich eine „veraltete“ Armee als Spiegel eines „überlebten“ Staates den Weg nach Jena ebnete, scheint nicht länger ausgemacht. Das Bild vom altpreußischen Soldaten als sozial gebrandmarkten Fürstenbüttel ist endgültig ins Märchenreich verbannt. Für Jena 1806 jedenfalls steht fest: Nichts könnte irriger sein als die Überlieferung vom fluchtbereiten Söldnerhaufen, der in die Schlacht geprügelt werden musste. Gelten ähnliche Befunde möglicherweise auch schon für den Siebenjährigen Krieg?

Vor allem diese Frage treibt den Magdeburger Historiker Sascha Möbius um. Dessen Studie fußt auf seiner Magisterarbeit aus dem Jahr 2001, betreut durch Hermann Wellenreuther in Göttingen. Möbius geht es um „Emotionen, Gedanken und Verhaltensweisen einfacher Soldaten und Linienoffiziere“ (S. 3). Er will zweierlei klären. Erstens: Was brachte diese Männer zum Kämpfen? Zweitens: Fand ihr Denken und Handeln Eingang in Theorie wie Praxis der Elementartaktik, also in die Kampfweise und Ausbildung militärischer Kleinverbände? Kurzum: Bot der Musketier des Siebenjährigen Krieges dem Tod wie ein Schießautomat nur als Rädchen einer Maschine die Stirn, dem Worte Friedrichs II. entsprechend, jeder Soldat müsse seinen Offizier mehr fürchten als den Feind? Oder gab es für sein Kampfverhalten individuelle, psychologische, mentalitätsgeprägte Gründe, die nicht auf Zwang von oben beruhten?

Nur angedeutet wird zunächst, warum sich der Leser auf 151 Seiten darüber den Kopf zerbrechen soll. Was eigentlich geht es ihn an, ob uniformierte Bauern, Handwerker und Söldner vor über 250 Jahren im Gefecht eine erduldende, eine handelnde, oder eine handelnd-erduldende Rolle gespielt haben? Könnte die Antwort etwas Grundsätzliches, Übergeordnetes, Wichtiges erklären helfen – vielleicht sogar mit Blick auf das Werden unserer Gegenwart? Möbius beschränkt sich einleitend auf den Hinweis, er wolle „einen Beitrag zur Debatte um das Kriegswesen im Absolutismus“ (S. 13) leisten. Und tatsächlich sind Feldzugs-, Kampf- und Gewalterfahrungen im friderizianischen Heer bisher weitgehend im Dunkeln geblieben.

In ihren Hauptquellen schöpft die Studie aus Reglements und Weisungen für Offiziere, aus der zeitgenössischen Militärgeschichtsschreibung und -theorie sowie aus Selbstzeugnissen von Beteiligten. Das erste Kapitel untersucht, welchen Stellenwert die soldatische Psyche in Ausbildung wie Taktik besessen hat. Im zweiten Kapitel hofft Möbius, sich der Wirklichkeit des Kampfes anzunähern – jenem „Antlitz des Krieges“, das John Keegans gleichnamiger Klassiker so eindringlich für Azincourt, Waterloo und die Somme nachgezeichnet hat. Ihm weiß Möbius sich ausdrücklich verpflichtet. Im dritten Kapitel stehen Gefühle und Gedanken der Kämpfenden im Mittelpunkt. Das letzte Kapitel schließlich soll wichtige Umstände erhellen, die das Kampfverhalten beeinflusst haben, insbesondere die Beziehung zwischen Offizier und Soldat.

Überzeugend weist Möbius nach, dass elementartaktische Vorschriften des Königs in hohem Maße von psychologischen Erwägungen durchdrungen waren. Mit dem Drill im Verband zum Beispiel zielte der Monarch nicht zuletzt auf den Glauben des Einzelnen, Teil eines mächtigen Ganzen zu sein, dem in der Schlacht nichts zu widerstehen vermochte. Der Massenangriff mit gefälltem Bajonett setzte wie jede Kavallerieattacke gegen Infanterie auf eine Schockwirkung, die den Gegner in Panik versetzen, schon dadurch in die Flucht schlagen und blutige Nahkämpfe nach Möglichkeit vermeiden sollte.

Auch im Gefecht ähnelte die Armee keineswegs einer Maschine, die der König gleichsam per Knopfdruck bediente. Die Wirklichkeit der Lineartaktik etwa auf dem Schlachtfeld bei Prag (S. 37ff.) wich vom Wunschbild vieler Theoretiker ab, die als Kinder der Aufklärung geometrische, berechenbare Manöver ersannen. Das Antlitz des Siebenjährigen Krieges sieht Möbius denn auch keineswegs durch Züge der Apathie und des Erduldens gezeichnet, sondern vom beweglichen „Zusammenspiel von taktischer Situation, Anordnungen der Offiziere und Einschätzungen und Emotionen der Soldaten“ (S. 136). Angst und Stress konnten umschlagen in Wut und Mordlust. Zugleich bezeugen viele Soldatenbriefe aber auch, dass der Einzelne im Gefecht seine persönliche Lage und die seines Verbandes sehr genau wahrnahm.

Die Frage, was Männer zum Kämpfen brachte, beantwortet Möbius sechsfach: Standesethos, Religion, Protonationalismus, Aussicht auf finanzielle Belohnung, Zwang und das Beispiel der Vorgesetzten. Die wichtigste Rolle spielte laut Möbius neben der Belohnung und dem Vorbild der Offiziere aber die Religion. Das sind neue, zum Teil verblüffende Befunde. Denn die ältere deutschsprachige Forschung hielt das Ethos des Offiziersstandes, vor allem aber eine erprügelte Disziplin für die Angelpunkte, um die sich das „Puppenwerk“ absolutistischer Heere drehte.

Immer wieder betont Möbius den Einfluss der Regimentskultur auf Kantonisten wie Ausländer (S. 106, 109, 126). Das ist bemerkenswert, weil deutschen Historikern der Begriff „Regimentskultur“ meist fremd geworden ist. Denn können etwa britische Regimenter ihre Historie oft mindestens bis zur Waterloo-Kampagne zurückverfolgen, ist in Deutschland bekanntlich nicht nur die Formationsgeschichte voller Brüche. Preußische Regimenter feierten besondere Ehrentage, hatten eigene Kantone, Fahnen, Uniformen und Schulen, waren oft seit Jahrzehnten mit ihrer Garnison verbunden, besaßen Nummern, die sich auf ihr Stiftungsjahr bezogen und zu einem bestimmten Platz in der Schlachtordnung berechtigten. Hoffentlich gehen weiterführende Studien noch genauer der Frage nach, wie Alter, Verdienste und Blutzoll eines Regimentes das Ansehen von Offizieren wie Soldaten bestimmt und zur Tapferkeit verpflichtet haben.

Belohnungen aus der Schatulle des Königs waren für den Kampfgeist offenbar ähnlich bedeutsam wie Fuchtel oder Stock (S. 117ff.). Neue Veröffentlichungen, die Möbius nicht zur Verfügung standen, ergänzen solche Befunde. So befassen sich Lehrbücher oder Denkschriften von Generalen wie Schwerin, Fink und Winterfeld ausführlich mit dem Plündern und der Leichenfledderei durch Soldaten.2

Nicht Drohungen oder Schläge, der gemeinsame Wille zum Überleben, so Möbius, habe in der Schlacht das Verhältnis zwischen Offizier und Soldat beherrscht; im Kampf führten Offiziere vor allem durch Vorbild und Können. Auch die charismatische Bindekraft des roi connétable wird in vielen Berichten bezeugt. Gewalt gegen eigene Soldaten, wertet Möbius, habe es zweifellos gegeben, „doch es ist fraglich, ob sie eine größere Rolle spielte, als z. B. in den Heeren der napoleonischen Kriege“ (S. 137). In der Tat ist spätestens seit Keegans Waterloo-Studie bekannt, dass französische und englische Offiziere ihre Männer noch 1815 auf dem Schlachtfeld gelegentlich geschlagen haben. Keegan schildert Wellingtons Soldaten zudem als raubeinige Gesellen, die mit religiösen Formen oder Deutungen nichts mehr am Hut hatten. Vielmehr betont er die Rolle des Alkohols vor und während der Schlacht – ein Punkt, den Möbius entweder übergeht oder der in den Quellen tatsächlich nicht auftaucht. Auf beeindruckende Weise aber kann Möbius nachweisen, wie nur ein halbes Jahrhundert zuvor die Selbstverständlichkeit der Religion von Soldaten als Antrieb und Tröstung begriffen wurde (S. 106ff.). Die religiös begründete militärische Pflichterfüllung „in seinem Stand“ entsprach ständischen Denkmustern. Nur ihrem Feldherrn blieb diese Deutung verschlossen. Das Singen von Chorälen vor dem Kampf zum Beispiel erklärte der König schlichter: „Meine Lumpenkerle haben Angst“ (S. 107). Möbius aber macht klar: Von seiner religiösen Vorstellungswelt her betrachtet, erscheint uns Friedrichs Musketier bei Leuthen heute ungleich fremder als Wellingtons Infanterist bei Waterloo. Aber auch die Soldaten des Siebenjährigen Krieges, urteilt Möbius, waren fähig, „Taktiken anzuwenden, die nicht mit apathischem Erdulden auskamen, sondern flexibles und offensives Denken und Handeln, aber auch Ausdauer erforderten“ (S. 138). Militärisch minderwertig „gegenüber dem Nationalismus späterer Zeiten“ (S. 138) sei ihre Denkweise nicht gewesen. Weil sie den Kampf kaum national verklärten, sondern als „blutiges Gemetzel und Jammertal“ (S. 138) betrachtet hätten, entspreche diese Sicht zudem der Wirklichkeit des Krieges. Vielleicht haben, wird man anmerken dürfen, Menschen auch in den Schlachten Napoleons nur selten an Begriffe wie „Nation“ und „Vaterland“ gedacht, sondern vor allem an das eigene Überleben im Verband.

Alles in allem ist dem Autor eine überaus lesenswerte, quellengesättigte, farbige und wichtige Studie gelungen. Am Ende passt der Möbius-Stein zwanglos in das Mosaik der jüngeren Forschung. So eröffnet sich aus der soldatischen Sicht von unten ebenfalls der Blick auf das „Nichtabsolutistische im Absolutismus“. Möbius macht aus Maschinen wieder Menschen. Im Grunde aber ist das Buch ein Beitrag zur Debatte über Ursprünge und Wesen der Heeresreform. Denn auch militärisch war die Moderne in Preußen offenbar nicht allein ein Werk des Staates. Darüber hinaus haben Scharnhorst, Boyen und Gneisenau ihr Handeln vor allem mit der Notwendigkeit begründet, wegen militärischer Zwänge Veraltetes durch Neues ersetzen zu müssen – und deren Wehrpflicht prägt immerhin noch unsere Gegenwart. Doch nicht nur die Erträge von Möbius legen nahe: Wehrpflicht oder die Öffnung des Offizierskorps für Bürgerliche waren keineswegs das Ergebnis militärischer Zwänge, sondern Ausdruck politischer, sozialer und kultureller Modernisierungsprozesse der Sattelzeit. Schon das Werk von Scharnhorst wäre demnach Ausdruck keiner militärischen, sondern einer politischen Grundsatzentscheidung, die auf sozialen und kulturellen Bedingungen fußt, die nunmehr 200 Jahre zurückliegen. Vielleicht ist Historia keine Anwältin von Franz Josef Jung.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Neugebauer, Das alte Preußen. Aspekte der neuesten Forschung, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 122 (2002), S. 463-482.
2 Jürgen Kloosterhuis / Sönke Neitzel (Hrsg.), Krise, Reformen – und Militär. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806 (= Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Neue Folge, 10), Berlin 2009.

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