Geschichte der Bonner Politikwissenschaft

: Karl Dietrich Bracher und die Anfänge der Bonner Politikwissenschaft. . Baden-Baden 2008 : Nomos Verlag, ISBN 978-3-8329-3740-9 436 S. € 69,00

Mayer, Tilman; Kronenberg, Volker (Hrsg.): Streitbar für die Demokratie. "Bonner Perspektiven" der Politischen Wissenschaft und Zeitgeschichte 1959-2009. Bonn 2009 : Bouvier Verlag, ISBN 978-3-416-03248-3 645 S. € 59,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK), Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Bestandsaufnahmen wissenschaftlicher Disziplinen, Fachbereiche und Institute zu ihren Jubiläen präsentieren sich oft in Gestalt einer bunten Mischung: Eine Rückschau auf programmatische Reden und Aufsätze, Professurenprofile, eine Synopse von Forschung und Lehre sowie die oft sehr persönlich gehaltenen Erinnerungen Studierender und Lehrender an ihre ehemalige oder derzeitige Wirkungsstätte gehören wie selbstverständlich dazu. Die Politikwissenschaft, deren Gründungslehrstühle und -institute in den vergangenen Jahren auf ihr jeweils 50-jähriges Jubiläum zurückblicken konnten, unterscheidet sich dabei nicht von den übrigen Geistes- und Sozialwissenschaften.

In die wachsende Reihe dieser Veröffentlichungen1 – die institutionelle Etablierung der Politikwissenschaft erfolgte nach 1945/49 in einer relativ kurzen Zeitspanne – reiht sich nun auch der von Tilman Mayer und Volker Kronenberg herausgegebene Band zum Universitätsstandort Bonn ein. Wer hier unter dem programmatisch zu verstehenden Titel „Streitbar für die Demokratie“ einen Überblick zur Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Seminars für Politische Wissenschaft in Bonn erwartet, wird allerdings enttäuscht werden: Von einem knappen Vorwort abgesehen, beschränkt sich der Band darauf, in sechs vom Umfang her unterschiedlich gewichteten Themenblöcken nicht weniger als 32 Aufsätze, Reden, Vorträge und Zeitungsbeiträge aus den letzten fünf Jahrzehnten zu versammeln, von denen allein einige der Wortbeiträge bisher noch nicht gedruckt vorlagen. Als einende Klammer der Autorinnen und Autoren dient der persönliche Bezug zum Bonner Seminar, sei es als ehemalige oder aktive Studierende, Lehrende und Forschende.

Trotz der Schwerpunktsetzung auf den Bereich Demokratie- und Diktaturforschung, gruppiert um die demokratischen Chiffren „Weimarer“, „Bonner“ und „Berliner Republik“, sowie eines gelungenen Wechselspiels zwischen eher normativ und eher empirisch ausgerichteten Texten (zwei Merkmale, die schon das umfangreiche Werk des ersten Bonner Lehrstuhlinhabers Karl Dietrich Bracher auszeichneten), verbindet die Beiträge letztendlich nur ein loser Faden – aus dem sich der Leser sein Bild selbst zusammenspinnen muss. Eine plastische Vorstellung des umfangreichen und vielschichtigen Verbindungsgeflechtes zwischen Politikwissenschaft als „Wirklichkeitswissenschaft“ (S. 57) und der (Zeit-)Geschichte liefert insbesondere der erste Themenblock, der Brachers Gedenkrede von 1960 auf seinen Bonner „Vorgänger im Geiste“, Friedrich Christoph Dahlmann, und eine überarbeitete Fassung von Ludger Kühnhardts persönlich gehaltener Hommage an Bracher zu dessen 70. Geburtstag im Jahr 1992 vereinigt.

Mayer und Kronenberg als Herausgebern ist durchaus das Verdienst zuzusprechen, zeitgenössische wie auch einige überzeitliche „Bonner Perspektiven“ einem breiteren Publikum in gebündelter Form zu präsentieren. Ein „Mehrwert“ des Sammelbandes ist darüber hinaus aber nicht erkennbar. Aus Sicht der Disziplingeschichte, die aus den eingangs erwähnten Jubiläumsmischungen zumeist wenigstens durch den Abdruck einzelner Schlüsseldokumente oder Verzeichnisse der Promotionen und Habilitationen an den gewürdigten Instituten und Fachbereichen einen Gewinn zu ziehen vermag, bietet der Band leider ebenfalls keine neuen Einsichten. Dies ist einerseits schade, andererseits vielleicht auch dem Umstand geschuldet, dass mit Ulrike Quadbecks aus ihrer Bonner Dissertation hervorgegangener Studie zu Karl Dietrich Bracher ein zweites Werk vorliegt, das sich der Genese einer spezifisch „Bonner“ Politikwissenschaft widmet.

Quadbecks Arbeit gliedert sich in sechs größere Kapitel, von denen die ersten beiden der Fachgeschichte gewidmet sind. Nach der Einleitung und einem knapp gehaltenen Überblick zu den historischen Wurzeln der Wissenschaft von der praktischen Politik seit der Antike folgt ein weiteres Kapitel, das den Forschungsstand zur Neugründung der Politikwissenschaft nach 1945/49 referiert. Hierbei rückt Quadbeck insbesondere den erklärten Bildungsauftrag des neuen Faches als „Demokratiewissenschaft“ in den Mittelpunkt, um sodann – eingebettet in die Entwicklung des Faches in der Bundesrepublik bis in die frühen 1960er-Jahre – die eigentliche Planungs- und Gründungsphase des Bonner Seminars zu skizzieren: Der zweite Anlauf, hier einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft zu errichten, führte zum Erfolg; Bracher trat sein Amt als Ordinarius am 1. Januar 1959 an. Umfang und Intensität seiner akademischen Prägekraft, die sich in Bonn und weit darüber hinaus in den nächsten Jahrzehnten entfalten sollten, hängen in entscheidendem Maße wohl auch mit dem „glücklichen“ Umstand zusammen, dass Bracher bis 1969 alleiniger Inhaber eines Lehrstuhls am Seminar für Politische Wissenschaft gewesen ist.

Die weiteren Kapitel sind auf den ersten Blick chronologisch strukturiert. Quadbeck gelingt es in ihrer Darstellung aber durchgängig, die vielschichtig und auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verwobenen biographischen, inhaltlichen und methodologischen Aspekte in ihrer Komplexität abzubilden. Das vierte Kapitel beginnt mit einem biographischen Abriss. Schnell wird klar, in welchem Umfang die konkreten Lebenserfahrungen und Zeitumstände von Diktatur, Krieg und Wiederaufbau Brachers politische Ideenwelt von Anfang an mitbestimmt und den Weg von seiner Dissertation in der Alten Geschichte zu den Arbeitsfeldern Zeitgeschichte und Politikwissenschaft in Berlin, und später auch in Bonn, geprägt haben. Als Vorbilder für den „Brückenschlag von der Zeitgeschichte zur Politikwissenschaft“ (S. 134), die selbst jeweils für eine spezifische Verbindung von Politik und Geschichte gestanden haben, sind neben dem schon erwähnten Dahlmann insbesondere zwei Berliner zu nennen: der Neuzeithistoriker Hans Herzfeld und der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel. Leider gerät der kurze Abschnitt zum zeitgeschichtlichen Wissenschaftsansatz (S. 141-146) zu einem Parforceritt, in dem Zeitgeschichte fast nur aus einer Ex-post-Perspektive und über Sekundärliteratur erschlossen wird. Die Grundlagen und die Methodologie von Brachers eigenem Wissenschaftsverständnis arbeitet Quadbeck dagegen pointiert aus dessen Werk heraus. In der zwar zugespitzten, aber gleichsam symptomatischen Frage, ob es sich bei Karl Dietrich Bracher auf Basis seiner Methodologie und seines Werkes um einen Politikwissenschaftler oder doch um einen Historiker handle – die Denomination des Lehrstuhls „Wissenschaft von der Politik“ wurde auf Brachers Wunsch hin im Wintersemester 1961/62 um den Zusatz „und Zeitgeschichte“ ergänzt (S. 215), schließt sich Quadbeck dem Urteil Eberhard Jäckels an und charakterisiert Bracher als „systematischen Historiker“ (S. 207).

Die folgenden Abschnitte bieten eine eng mit der Person und dem Lehrstuhl Brachers verwobene, in die Tiefe gehende Beschreibung des Seminars für Politische Wissenschaft in Bonn. Quadbeck illustriert im Detail Aspekte des organisatorischen Auf- und Ausbaus, inklusive Personal- und Raumfragen, sowie die vom Lehrstuhlinhaber gesetzten Schwerpunkte in Forschung und Lehre. Ein besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf das Umfeld des Faches am Ort des Regierungssitzes in Bonn: Für Studierende wie Lehrende erwiesen sich die Rahmenbedingungen, das heißt eine „Politikwissenschaft am Ort der Politik“ (S. 254), in mancherlei Hinsicht als äußerst günstig. Im fünften Kapitel lässt Quadbeck ihre ausführliche Beschreibung mit dem Ende der ersten Dekade von Brachers Tätigkeit langsam auslaufen – die Entwicklung in den 1970er- und 1980er-Jahren wird in der Folge nur noch kurz skizziert. Dieses Vorgehen erscheint durchaus stichhaltig: Nicht nur die Personalstruktur des Seminars erweiterte sich im Zeichen der Massenuniversität; „1968“ rückte zudem verstärkt die Probleme und Krisensymptome der zeitgenössischen deutschen Hochschullandschaft wie auch der Politikwissenschaft als Disziplin in den Fokus.

In ihrer Schlussbetrachtung wendet sich Quadbeck noch der in der Disziplingeschichte quasi „obligatorischen“ Frage zu, ob es unter der Ägide Brachers eine „Bonner Schule“ der Politikwissenschaft gegeben habe.2 Trotz oder gerade wegen der Zahl von nahezu 200 Dissertationen, die Bracher betreute (S. 248), führt diese Frage aber zu keiner befriedigenden Antwort: Die schiere Zahl der Doktoranden wie die Pluralität ihrer Themen und methodischen Ansätze zeigen deutlich die Sackgasse, in welche der Begriff der wissenschaftlichen Schule angesichts ausdifferenzierter Wissenschaftssysteme und Einzeldisziplinen spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führen muss. Hier und an einigen anderen Stellen macht sich denn auch bemerkbar, dass Quadbeck sich insgesamt zu wenig von den kanonisierten Fragestellungen der politikwissenschaftlichen Fachgeschichte zu lösen vermag, insbesondere hinsichtlich der Generationen, Schulen und Institutionen. Gerade die Person und das Werk Brachers hätten aber genügend Spielraum für stärkere eigene Schwerpunktsetzungen geboten. Hiervon abgesehen kommt der Autorin das Verdienst zu, Leben und Werk eines bedeutenden bundesdeutschen Zeithistorikers ausführlich gewürdigt zu haben.

Der Anhang enthält neben ergänzenden Informationen zu Brachers zahlreichen Auslandsaufenthalten auch einen umfangreichen und insbesondere für die Fachgeschichte informativen Überblick zu den Magistranden und Doktoranden, deren Arbeiten Bracher zwischen 1959 und 1987 bzw. 1995 betreute. Zusammen mit den über den gesamten Text verteilten Tabellen eröffnet Quadbecks Studie ein ausgezeichnetes, in die Tiefe gehendes Panorama der Binnenentwicklung der Bonner Politikwissenschaft – ohne die Verbindungen nach „außen“ zu vernachlässigen, also zur Gesamtdisziplin sowie zu den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik. Für die Historiografie der Politikwissenschaft schließt Ulrike Quadbecks material- und umfangreiche Veröffentlichung somit eine entscheidende Lücke.

Charakteristisch für den Wissenschaftsstandort Bonn war das Agieren an der Schnittstelle zwischen Politik- und Geschichtswissenschaft. Eine aktive Interpretation einer solchen Scharnierfunktion, die auf den antidemokratischen Erfahrungen insbesondere der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Negativfolie aufbaute, leistete das wissenschaftliche Werk Karl Dietrich Brachers. Wie Quadbeck plastisch herausarbeitet, verkörperte er diese Vermittlerrolle auch als Person – und zwar sogar in doppelter Hinsicht: als ein erfolgreicher Wandler zwischen den Welten zweier akademischer Disziplinen und als ein unermüdlicher Vermittler zeithistorischer Expertise in der demokratischen Öffentlichkeit. Das Wirken Brachers sticht aus heutiger Sicht umso mehr hervor, als sich die zwei Disziplinen inhaltlich wie personell weit voneinander entfernt haben: Die Politikwissenschaft hat sich aus der historisch-politischen Analyse weitgehend zurückgezogen und integriert historische Ansätze nur noch sehr selektiv, die Zeitgeschichte segelt als „Leit-Kulturwissenschaft“ (Paul Nolte) in neuen Gewässern. Ob beiden Fächern diese gewollte Entfremdung zum Vorteil gereicht, darf gerade nach eingehender Betrachtung von Brachers Lebenswerk in Zweifel gezogen werden.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Hecker / Joachim Klein / Hans Karl Rupp (Hrsg.), Politik und Wissenschaft. 50 Jahre Politikwissenschaft in Marburg, 2 Bde., Münster 2001/03; Jürgen W. Falter / Felix W. Wurm (Hrsg.), Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. 50 Jahre DVPW, Wiesbaden 2003; zuletzt Arno Mohr / Dieter Nohlen (Hrsg.), Politikwissenschaft in Heidelberg. 50 Jahre Institut für Politische Wissenschaft, Heidelberg 2008.
2 Diese Frage ist mittlerweile für jeden größeren Standort des Faches in der Bundesrepublik erörtert worden – wenn auch nicht immer mit einem entsprechenden Gewinn. Vgl. hierzu erstmals die Beiträge in: Wilhelm Bleek / Hans J. Lietzmann (Hrsg.), Schulen der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999.

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