Titel
Graf Roger I. von Sizilien. Wegbereiter des normannischen Königreichs


Autor(en)
Becker, Julia
Reihe
Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 117
Erschienen
Tübingen 2008: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
X, 315 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lioba Geis, Historisches Institut, RWTH Aachen

Julia Becker widmet sich in ihrer Passauer Dissertation Graf Roger I. von Sizilien, der neben seinem Bruder Robert Guiscard zu den wichtigsten Protagonisten der normannischen Eroberung Süditaliens zählt. Anders als die bisherige Forschung, die Roger I. meistens unter diesem eingeschränkten Blickwinkel der militärischen Eroberungserfolge behandelt hat, rückt Becker erstmals die gesamte Herrschaft des Grafen in den Vordergrund. Ziel ihrer Arbeit ist es, die politischen Leistungen Rogers I. herauszuarbeiten und nach ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung Süditaliens zu fragen: Inwieweit schuf der Normanne durch seine Entscheidungen Grundlagen, an die seine Nachfolger anknüpfen konnten und die den Weg zur Entstehung des Königreichs Sizilien ebneten? Zur Beantwortung dieser Leitfrage analysiert Becker zum einen die Herrschaftspraxis Rogers I. Zum anderen beleuchtet sie die hinter diesen politischen Entscheidungen stehenden Herrschaftskonzepte und die Fundamente, auf denen der Graf seine Herrschaft aufbauen konnte. Als Quellen dienen neben den bekannten historiografischen Werken vor allem die 78 erhaltenen Urkunden Rogers I., die zuvor noch nicht systematisch ausgewertet wurden und deren kritische Edition die Autorin derzeit vorbereitet.1

Im ersten Kapitel der Arbeit werden die Anfänge der normannischen Eroberung Süditaliens behandelt. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die konfliktreiche und rechtlich nicht eindeutig zu fassende Beziehung zwischen Roger I. und Robert Guiscard gelegt. Die Eroberung Siziliens und die Politik Rogers I. gegenüber dem Festland nach dem Tod Robert Guiscards stehen im Zentrum des zweiten Kapitels. Anhand der wichtigsten ereignisgeschichtlichen Phasen verdeutlicht Becker, dass es Roger I. bereits während der Eroberung der Insel gelang, seinen dortigen Einfluss gegenüber seinem Bruder auszubauen und zu festigen. Nach dem Tod Robert Guiscards profitierte Roger I. von der Schwäche des neuen apulischen Herzogs Roger Borsa, der auf die Unterstützung des sizilischen Grafen angewiesen war. Roger I. entwickelte sich so zu einem entscheidenden Bündnispartner für das süditalienische Festland und konnte seinen Einfluss auf dieses Gebiet nachhaltig stärken.

Das dritte Kapitel nimmt die innere Konsolidierung des eroberten Herrschaftsgebiets in den Blick. Die Einführung lehnsähnlicher Strukturen, die kontrollierte Vergabe von Ländereien und die Ausstattung von Kirchen und Klöstern dienten Roger I. als Instrumentarium, um seine Herrschaft zu festigen, Verwaltungsstrukturen aufzubauen und die landwirtschaftliche Produktion zu fördern. Eingebunden waren in diesen Prozess der Herrschaftsstabilisierung bevorzugt Familienangehörige, normannische Landsleute und geistliche Große, die oft zur Entourage Rogers I. zählten. Ihr widmet Julia Becker einen gesonderten Abschnitt, der die personelle Zusammensetzung des gräflichen Hofs untersucht. Neben ausgewählten normannischen Adelsfamilien, die oft über verwandtschaftliche Beziehungen zu Roger I. verfügten, band der Graf griechische und – in geringerem Umfang – auch arabische „Amtsträger“ an seinen Hof. Dabei verfolgte Roger I. mehrere Ziele: Die normannischen Adligen wurden vor allem zur Sicherung seines Herrschaftsbereichs eingesetzt, indem sie über ihren engeren Lehnsbesitz hinaus die Interessen des Grafen in Kalabrien und auf Sizilien vertraten und damit für eine indirekte Latinisierung dieser Gebiete sorgten. Die griechischen und teilweise auch arabischen Vertrauten übernahmen unterschiedliche Aufgaben, um das Funktionieren der Verwaltung aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig erfüllten sie eine Mittlerfunktion zwischen der griechischen Bevölkerung und der normannischen Führungsschicht.

Im vierten Kapitel rückt Julia Becker das Verhältnis Rogers I. zum Papsttum in den Vordergrund und konstatiert, dass der sizilische Graf aufgrund seiner Konsolidierungspolitik und seiner nachhaltigen Bemühungen um den Wiederaufbau der sizilischen Kirchenstruktur über ungewöhnlich gute Beziehungen zu Papst Urban II. verfügte. Als Beispiel führt Becker zunächst die Verleihung der apostolischen Legation 1098 an, die Rogers I. Handlungen in kirchenrechtlicher Hinsicht legitimierte, aber ohne weit reichende Konsequenzen blieb. Eine vom Herrscher kontrollierte Landeskirche wurde von Roger I. nicht beansprucht, wie Becker anhand einer geringen Rezeption des Legatentitels in seinen Urkunden nachweisen kann. Zurückzuführen ist dieser Umstand auf die übereinstimmenden normannischen und päpstlichen Interessen gegenüber der sizilischen Kirche. Als zweites Beispiel untersucht Becker Rogers I. Haltung zum Ersten Kreuzzug. Der Graf dürfte aus pragmatischen Gründen eine Kreuzzugsbeteiligung abgelehnt haben, da die Integration der arabischen Bevölkerung in seinen Herrschaftsbereich höhere Priorität besaß als der Zug ins Heilige Land. Auch der Papst scheint der Konsolidierung der Grafschaft, speziell dem Wiederaufbau der lateinischen Kirche, den Vorzug gegeben zu haben, so dass auch in diesem Fall eine grundsätzliche Übereinstimmung von päpstlicher und gräflicher Politik festzuhalten ist.

Der Neuorganisation der Bistumsstruktur in Kalabrien und Sizilien und der Klosterpolitik Rogers I. wendet sich Julia Becker im fünften Kapitel zu. In einem ausführlichen Überblick werden die gräflichen Prämissen der Kirchenpolitik analysiert, indem die (Wieder-)Gründung und Ausstattung der einzelnen Bistümer nachgezeichnet werden. Die Initiative ging dabei meistens vom Grafen aus, die nachträglich durch den Papst bestätigt wurde. Ziel war es dabei, die bevorzugten Residenzen Mileto und Troina abzusichern, die Grafschaft langsam zu latinisieren und die Herrschaft weiter zu konsolidieren, indem wichtige, ehemals byzantinische und arabische Städte zu Bischofssitzen erhoben wurden. Eine ähnliche Funktion übten die Klöster in Südkalabrien und auf Sizilien aus. Dabei förderte der Graf nicht nur Benediktinerklöster, sondern vor allem auch die Kartäuser und die griechischen Klöster, um der griechischen Bevölkerung eine Integration in seine Grafschaft zu erleichtern. Mit den Abteien verfügte Roger I. zudem über ein Personalreservoir, aus dem er bei der Besetzung seiner Bistümer schöpfen konnte. Am Rande erwähnt Becker in diesem Zusammenhang auch die Sorge des Normannen um sein eigenes Seelenheil und seine persönliche Religiosität als Motive für die Förderung der Kirchen und Klöster in seinem Herrschaftsbereich.

Das sechste Kapitel thematisiert die schwer zu fassende Herrschaftsrepräsentation Rogers I. auf Münzen und in Form sakraler Bauten sowie seine auswärtigen Beziehungen, insbesondere die Heiratspolitik, mit welcher der Graf versuchte, Sizilien im europäischen Mächtesystem anschlussfähig zu machen. Das siebte Kapitel behandelt das Erbe Rogers I., indem seine Nachfolgeregelung diskutiert und die Regentschaft seiner Frau Adelasia beschrieben werden. Dieses Kapitel ist besonders instruktiv, da Julia Becker im Sinne ihrer Leitfrage zeigen kann, dass große Teile der Entourage Rogers I. von Adelasia übernommen und fast alle politischen Entscheidungen des Grafen von ihr aufgegriffen und fortgeführt wurden. Als Roger II. schließlich 1112 seine eigenständige Herrschaft antrat, konnte er über eine innen- wie außenpolitisch stabile Grafschaft verfügen. Diesem Ausblickskapitel schließen sich ein Epilog mit der Zusammenfassung der Ergebnisse, eine ausführliche Regestenübersicht zu den Urkunden Rogers I., Genealogien und Karten sowie ein Register an.

Julia Becker gelingt es in ihrer Dissertation überzeugend, das bisherige Bild Rogers I. in vielen Einzelbeobachtungen zu bestätigen, neu zu interpretieren oder anders zu gewichten. Quellennah, forschungsorientiert und in klarem, präzisem Stil arbeitet sie dabei die Fundamente der Rogerschen Herrschaft heraus, auf denen seine Nachfolger aufbauen konnten: seine pragmatische, um Ausgleich bemühte Konsolidierungspolitik, die behutsam, erst langsam einsetzende Latinisierung der Grafschaft sowie die Einbindung der griechischen und arabischen Bevölkerungsgruppen in seine Herrschaft, insbesondere in die Verwaltung. Dabei behält sie ihre Leitfrage nach den politischen Leistungen Rogers I. und deren Relevanz für die weitere Geschichte Süditaliens stets im Blick. Auf diese Weise entwirft Julia Becker ein umfassendes Bild Rogers I. als dem „Wegbereiter des normannischen Königreichs“.

Anmerkung:
1 Vgl. zum Editionsprojekt <http://www.dhi-roma.it/projekt_becker0.html?&Lmp;L> (12.08.09)

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