P. Aumann: Kybernetik – Mode und Methode

Cover
Titel
Mode und Methode. Die Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland


Autor(en)
Aumann, Philipp
Reihe
Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte - Neue Folge 24
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
489 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Witte, Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Was ist Kybernetik? Diese Frage beschäftigte seit den ausgehenden 1950er-Jahren bis in die 1970er-Jahre hinein nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Es kam zu einer wahren Publikationswelle: In unzähligen Artikeln, Aufsätzen und Büchern wurden Definitionsversuche dieses über die Disziplinengrenzen hinausgehenden Phänomens unternommen. Dabei lautete das Versprechen der in den 1940er-Jahren in den USA entstandenen und von dem Mathematiker Norbert Wiener als ‚Kybernetik‘ bezeichneten Wissenschaft von der Steuerung, die Funktions- und Regelungsprozesse komplexer Systeme – unabhängig, ob künstliche, organische oder gesellschaftliche – mit mathematischen Methoden beschreibbar und damit planbar zu machen. Ob „Brücke zwischen den Wissenschaften“ (Helmar Frank) oder populärwissenschaftlicher Trend – bei der Kybernetik handelte es sich um einen schillernden und facettenreichen Gegenstand, der in der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung bisher jedoch wenig Berücksichtigung fand.1

Philipp Aumann versucht nun, diese Lücke mit seiner Dissertation „Mode und Methode. Die Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland“ zu schließen. Der Fokus liegt dabei auf dem Wechselverhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft: Aumann vertritt die These, dass öffentliche Debatten die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kybernetik prägten und nicht zuletzt dazu führten, dass diese zu einer „Modewissenschaft in einem spezifisch bundesrepublikanischen Verständnis“ wurde (S. 13). Sein Ziel ist es, die Entstehungsbedingungen und die Etablierung der Kybernetik in der Bundesrepublik mit einem zeitlichen Schwerpunkt auf den „langen 1960er Jahren“ (ebd.) nachzuzeichnen und sie in ihrer „inhaltlichen, politischen und sozialen Dimension“ zu untersuchen, um einen „Beitrag zur Frage nach der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und der Vergesellschaftung von Wissenschaft“ zu leisten (S. 30).

Aumann hat seine Studie, die neben Einleitung und Zusammenfassung neun Kapitel umfasst, in drei große Teile gegliedert: Im ersten Block charakterisiert er die zentralen Aspekte und leitenden Begriffe der wissenschaftlichen Kybernetik, im zweiten Block rekonstruiert er die Etablierung und Institutionalisierung der Kybernetik in Westdeutschland, und im dritten Block widmet der Autor sich dem Stellenwert der Kybernetik in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1960er-Jahre sowie dem Wechselspiel zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.

Der erste Teil steht unter dem Titel „Die Kybernetik in einer idealtypisch angenommenen Ganzheit“. Hier zeichnet Aumann auf Basis amerikanischer und deutscher Publikationen (und zunächst ungeachtet der jeweiligen historischen Bedingtheit dieser Schriften) die Grundlagen, Leitideen und zentralen Begriffe der Kybernetik und ihre Position im Wissenschaftssystem nach, um zu zeigen, „was Kybernetik eigentlich ist“ (S. 33). Ziel dieses Abschnitts ist es, der Leserin oder dem Leser jenseits der historischen Entwicklung einen Überblick zur inhaltlichen und begrifflichen Spannbreite der Kybernetik zu verschaffen. Das Kapitel schließt mit einer Skizze zu den vermeintlichen deutschen Vorläufern der Kybernetik (dem Physiologen Richard Wagner und dem Regelungstechniker Hermann Schmidt) sowie zur historischen Entwicklung der Kybernetik.

Im folgenden Hauptteil befasst sich Aumann mit der „Kybernetik in ihrer tatsächlichen Vielfalt“. Anhand von Archivalien, Publikationen und Interviews schildert er die unterschiedlichen wissenschaftlichen Institutionen und Netzwerke, in denen sich Wissenschaftler/innen mit Kybernetik befassten. Hierbei handelte es sich Aumann zufolge erstens um Biokybernetiker, die sich in der Max-Planck-Gesellschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Kybernetik organisierten, zweitens um Informationstheoretiker des Instituts für Nachrichtenverarbeitung der Universität Karlsruhe und des Fraunhofer-Instituts für Informationsverarbeitung und Biologie sowie drittens schließlich um ein Netzwerk von Personen, die sich aus geisteswissenschaftlicher Perspektive mit Kybernetik befassten. Der Autor schildert dabei nicht nur die personellen Konstellationen, sondern auch die für die jeweiligen Netzwerke spezifischen Ausprägungen des Begriffs Kybernetik.

Nach den ersten beiden Blöcken der Studie schiebt Aumann ein Zwischenfazit ein, in dem er die zuvor skizzierten kybernetischen Netzwerke als „Räume des Wissens“ interpretiert, da die Kybernetik „als neues, revolutionäres Konzept in keinen vorhandenen sozialen Raum“ passte, sondern sich „über die Grenzen bestehender Räume hinweg etablieren“ musste (S. 365). Nicht zuletzt deswegen, aber auch wegen der Unterschiede zwischen den einzelnen Netzwerken sei die Konsolidierung der Kybernetik als eigenständige Disziplin gescheitert.

Der letzte Teil des Buches handelt schließlich von dem Wechselverhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Aumann legt hier das ‚außerwissenschaftliche‘ Bild der Kybernetik dar und porträtiert mit Karl Steinbuch und Hans Sauer zwei Protagonisten der Kybernetik, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen. Abschließend widmet er sich der „gegenseitigen Bedingtheit wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen“ (S. 421). Dabei kommt Aumann zu dem Schluss, dass die in den 1960er-Jahren geführten öffentlichen Debatten über Kybernetik sowie ihre ‚Verwendung‘ im gesellschaftlichen und politischen Bereich keine Entsprechung in der Wissenschaft fanden. Zugespitzt formuliert: Die wissenschaftlich institutionalisierte Kybernetik war eine andere als die politik- und sozialwissenschaftlich debattierte Kybernetik, die – obwohl sie keinen einheitlichen „Kanon von Begriffen, Fragen und Methoden“ vorweisen konnte (S. 446) – in den 1960er-Jahren als modisches Instrument von Planung und Rationalisierung Einfluss auf die Politik gewann.

Dieses Ergebnis schließt folgerichtig an Aumanns Ausführungen an, wenn man bedenkt, dass der Kanon der Kybernetik auch unter den ‚wissenschaftlichen‘ Kybernetikern unterschiedlich ausgedeutet wurde und von Netzwerk zu Netzwerk in seiner Bedeutung variierte. Doch verweist diese Schlussfolgerung auch auf ein grundsätzliches Problem der Studie: Aumann betont wiederholt den Unterschied zwischen ‚wissenschaftlicher‘ und ‚außerwissenschaftlicher‘ Kybernetik (z.B. S. 383). Damit entwirft er eine fehlleitende Dichotomie, die auch seinem eigenen Vorhaben zuwiderläuft, das Wechselverhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft darzustellen. Wenn er zwischen der „diskursiv angenommenen“ und der „realen Bedeutung kybernetischer Theorien und Methoden“ unterscheidet (S. 447), interpretiert er die Wissenschaft als dem gesellschaftlichen Diskurs nicht zugehörig und den Diskurs umgekehrt zwar als wirkungsmächtig, aber nicht als Teil der Wissenschaft. Fraglich ist, ob eine solche Sichtweise einem Feld wie der Kybernetik gerecht werden kann, die – folgt man den Ansprüchen der beteiligten Akteure bzw. deren Popularisierungsbemühungen – disziplinäre und wissenschaftliche Grenzen überschreiten wollte und deswegen kaum mit ‚klassischen Disziplinen‘ vergleichbar ist.

Möglicherweise ist diese Problematik aber auch der oft unpräzisen Begriffsverwendung geschuldet: Deutlich wird dies insbesondere am Begriff der Öffentlichkeit, zu der Aumann alle Akteure zählt, „die sich von außen ein Bild über die Wissenschaft machen und damit Einfluss auf diese ausüben“ (S. 29). Empirische Beispiele solcher Einflüsse lässt die Studie jedoch vermissen. Und obwohl der Autor den Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit als einen zentralen Aspekt der Studie ankündigt, kommt dieser in der empirischen Ausarbeitung deutlich zu kurz. So hätte man sich etwa eine ausführliche Diskursanalyse der ausgewerteten „Spiegel“-Artikel gewünscht, um Aumanns These nachvollziehen zu können, bei der Kybernetik habe es sich um eine Modewissenschaft gehandelt, die im öffentlichen Diskurs vom Utopischen und Spekulativen geprägt gewesen sei. Darüber hinaus wäre eine stärkere Einbettung der Studie in den breiteren (auch angloamerikanischen) Forschungsstand wünschenswert gewesen, um die Thesen bisheriger Arbeiten empirisch zu widerlegen oder zu modifizieren, anstatt sie rundheraus abzulehnen. Auch hätte man stärker an die zeithistorischen Arbeiten zum Stellenwert von Planung und Zukunftsforschung anknüpfen können2, um das Interesse von Wissenschaft und Öffentlichkeit an Kybernetik besser zu verdeutlichen.

Doch trotz dieser theoretisch-methodischen Defizite leistet Aumanns Monographie einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der bundesrepublikanischen Wissenschafts- und Technikgeschichte der 1950er- bis 1970er-Jahre. Die Studie zeichnet sich durch eine detailreiche und stringente Schilderung der institutionalisierten Kybernetik aus. Angesichts der Vielzahl der Akteure liefert das ausführliche Register eine gute zusätzliche Orientierung. Hervorzuheben ist insbesondere die breite Basis an Archivquellen, auf der Aumann die spezifisch westdeutsche Entwicklung des Konzepts Kybernetik nachzeichnet. Die Betonung der jeweiligen Besonderheiten der untersuchten Netzwerke zeigt, wie unterschiedlich Kybernetik ausgedeutet wurde und wie weit der Einfluss dieser Interpretationen reichte.

Anmerkungen:
1 Einzelne Arbeiten zum Thema stammen eher aus der Wissenschaftsgeschichte; siehe Michael Hagner / Erich Hörl (Hrsg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt am Main 2008 (rezensiert von Jens Elberfeld: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-185>); Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 19 (2008) H. 4: Geschichte der Kybernetik (Inhaltsverzeichnis und Abstracts: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/zeitschriften/ausgabe=4935>).
2 Siehe hierzu etwa Heinz-Gerhard Haupt / Jörg Requate (Hrsg.), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, ČSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004 (rezensiert von Michael Pullmann: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-036>).

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