A. Hentschel: Diakonia Im Neuen Testament

Titel
Diakonia Im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen


Autor(en)
Hentschel, Anni
Reihe
Wissenschaftliche Untersuchungen Zum Neuen Testament 2/226
Erschienen
Tübingen 2007: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XIV, 498 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rajah Scheepers, Institut für Soziologie, Universität Hannover

Die institutionalisierten Formen der christlichen Nächstenliebe, die katholische „Caritas“ und die protestantische „Diakonie“, sind zunehmend gezwungen, ihre corporate Identity bzw. – theologisch ausgedrückt – ihr Proprium herauszustellen, um sich am hart umkämpften Markt der sozialen Dienste behaupten zu können. Allein in den zum Dachverband des „Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland“ gehörigen Institutionen arbeiten über 450.000 Angestellte und 400.000 Ehrenamtliche. Allerdings muss sich die Diakonie, um ihr evangelisches Profil zu bewahren, immer wieder ihrer Ursprünge, auch in biblischer Hinsicht, vergewissern.

Diese historische Rückbesinnung ist nicht nur für Theologen von Interesse, sondern durchaus auch für Historiker: Zieht sich doch das diakonische Handeln einzelner Christen und Christinnen sowie der Kirchen wie ein roter Faden durch zwei Jahrtausende Kirchengeschichte und beeinflusste dabei die Entwicklungen in Politik, Medizin, Alltag – angefangen von dem aufopfernd diakonischen Handeln von Herrscherpersönlichkeiten wie Elisabeth von Thüringen bis hin zu heutigen Wechselbeziehungen zwischen professioneller Krankenpflege und religiöser Motivation.

Nun bringt eine von Anni Hentschel bei der Erlanger Neutestamentlerin Oda Wischmeyer erarbeitete Promotionsschrift genau diesen Rückbezug auf die vermeintlich biblischen Wurzeln zum Einsturz: Anni Hentschel weist in ihrer konzisen Monographie zur Bedeutung der Diakonia im Neuen Testament nach, dass es weder ein rein diakonisch-karitatives Amt von Diakonen gegeben habe, noch in der tätigen Nächstenliebe engagierte Diakonissen, ja, dass zwischen Diakonia und sozial-karitativem Engagement im Neuen Testament überhaupt kein Zusammenhang bestehe, da Diakonia in neutestamentlicher Zeit weder ,niedriges Dienen’ noch ‚fürsorgende Barmherzigkeit’ ausdrücke. Was ist nun daraus zu folgern?

Ehe diese Frage beantwortet werden kann, gilt es, die tatsächliche Bedeutung des Lexems „Diakonia“ im Neuen Testament zu rekonstruieren. Und dies hat Anni Hentschel in ihrer 2005 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommenen Dissertationsschrift in beeindruckender und präziser Weise getan. Zunächst verwendet sie durchweg den Terminus „Diakonia“ und nicht das weit verbreitete deutsche Lehnwort „Diakonie“, mit dem seit den 1930er-Jahren zunehmend das vorher unter dem Namen „Innere Mission“ firmierende sozial-karitative Engagement der evangelischen Kirchen assoziiert wird. Ebenso vermeidet sie den Begriff „Dienst“ als Übersetzung, da auch dieser nicht treffend sei. Die nach Hentschel falsche Interpretation als niedriger, untergeordneter Dienst von Frauen und Sklaven, insbesondere als Tischdienst, der dann im Neuen Testament gemäß dem Vorbild von Jesus Christus als Dienst der Barmherzigkeit und Nächstenliebe qualifiziert werde, gehe maßgeblich auf einen Lexikonartikel im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament aus dem Jahr 1934 zurück.

Hentschel kann aufzeigen, dass unter „Diakonia“ im Neuen Testament vielmehr ein Gesandtschaftsinstitut und eine Beauftragung mit Botengängen und Vermittlungstätigkeiten zu verstehen sei. Unter einem „Diakon“ oder einer „Diakonin“ wäre demnach ein offizieller Gesandter oder eine offizielle Gesandte zu verstehen, eine Person, die im Auftrag eines Anderen Dinge oder Nachrichten von einem Ort an einen anderen bringt. Ein spezifisch christliches Verständnis von „Diakonia“ im Neuen Testament als Liebesdienst weist sie in Anlehnung an die Studien von Dieter Georgi und John N. Collins zurück 1.

Die Folge einer Miss- oder Fehlinterpretation als „niederer Dienst“ habe laut Hentschel auch in geschlechtergeschichtlicher Perspektive weit reichende Konsequenzen für die historische Rekonstruktion diakonischer Dienste und Ämter der ersten christlichen Gemeinden: So ging man von einer amtlichen Verwendung des Lexems bei Männern aus, also einem karitativen Diakonenamt, während die im Römerbrief erwähnte Phöbe zu einer „Helferin“ von Paulus deklassiert wurde.

Die vorgelegte Arbeit beginnt sinnvollerweise mit einer Analyse des Wortgebrauchs in ausgewählten profangriechischen und jüdisch-hellenistischen Quellen unter Berücksichtigung der Frage nach einer geschlechtsspezifischen Verwendung (Kapitel 1). Es folgen Untersuchungen zum Corpus Paulinum (2), zum lukanischen Doppelwerk (3 und 4) und schließlich zu den Deuteropaulinen, also zu Paulus zugeschriebenen, aber nach Erkenntnissen der historisch-kritischen Exegese nicht von ihm stammenden Briefen sowie zu frühchristlichen nichtkanonischen Schriften (5). Angefügt ist neben der umfangreichen Bibliographie dankenswerterweise ein ausführliches Stellen-, Autoren- und Sachregister.

Für die Gräzität zur Zeit der Entstehung des Neuen Testaments (Kapitel 1) untersucht die Autorin die Belegstellen bei den zeitgenössischen profangriechischen Autoren Platon, Dion Chrysostomos, Epiktet und Lukian sowie in den jüdisch-hellenistischen Schriften der Septuaginta, den Testamenten der zwölf Patriarchen, dem Testament Hiobs, dem Testament Abrahams, bei Philo von Alexandrien und Flavius Josephus. So kann die Autorin nachweisen, dass der Aspekt der Beauftragung das zentrale Charakteristikum des Lexems darstellte, bei der der „Diakon“ alle Rechte und Autorität seines Auftraggebers in Anspruch nehmen konnte. Als Subjekte ließen sich sowohl Männer als auch Frauen ausfindig machen.

Ausgehend von diesem Befund wendet sich die Autorin den neutestamentlichen Belegstellen zu, chronologisch beginnend bei den Paulusbriefen (Kapitel 2). Dabei konstatiert sie, dass es insbesondere die echten Paulusbriefe waren, die für Theologie und Kirche mit Hinblick auf Konzeption und Verständnis der „Diakonia“ besonders prägend und wirkmächtig gewesen seien. So bezeichne Paulus sich selbst und andere häufig als „Diakone“, mit deutlicher Nähe zum Aposteltitel, allerdings könne er bezogen auf seine Gegner auch negativ von den „Diakonen“ des Satans sprechen. Insgesamt lasse sich festhalten, so Hentschel, dass Paulus, entsprechend der damaligen allgemein üblichen Verwendung, „Diakonie“ als Ausführung von Aufgaben unterschiedlicher Art, die auf eine Beauftragung zurückgeführt werden und häufig eine Vermittlungs- und Botentätigkeit beinhalten, verstehe. Als Auftraggeber fungierten im Wesentlichen Gott bzw. Christus und die Gemeinde, die männlich und weiblich vorgestellten „Diakone“ agierten mit der ihnen verliehenen Autorität in gemeindeleitender oder -verwaltender Verkündigungstätigkeit.

Während sich bei Paulus nicht die in der Antike häufige Verwendung des Lexems für die Aufwartung bei Tisch oder die Ausführung von Aufträgen im Haushalt finde, sei dies, so Hentschel, die vorherrschende Bedeutung im lukanischen Doppelwerk (Kapitel 3 u. 4). Lukas spreche von „Diakonie“ vorzugsweise in Mahlsituationen, sei es in Gleichnissen oder in der Symbolhandlung Jesu im Rahmen des letzten Mahles, die eine Transparenz auf die Gemeindesituation hin aufwiesen, das heißt, sie seien als Paränesen für spätere Gemeindeleiter und Gemeindeleiterinnen zu verstehen. Für die Apostelgeschichte ist vor allem der Befund erwähnenswert, dass es sich bei dem im sechsten Kapitel erzählten Ereignis nicht um die Ursprungsgeschichte eines im modernen Sinne des Wortes zu verstehenden diakonischen Amtes handele, vielmehr habe es sich hierbei vermutlich um ein sich in Konkurrenz zum Zwölferkreis befindendes Leitungsgremium in Jerusalem gehandelt, so dass Lukas hier eine Aufgabenteilung zwischen täglicher Diakonia und einer Diakonia des Wortes zu vermitteln versucht.

Für die weitere Entwicklung (Kapitel 5) sei eine Verkirchlichung zu beobachten, somit sei auch der titulare Gebrauch üblich geworden, Hauptaufgabe der als „Diakone“ bezeichneten Gemeindeglieder sei die Abwehr von falschen Lehrinhalten und Irrlehren gewesen. Im Vergleich zu den älteren neutestamentlichen Schriften sei eine Verschiebung zu beobachten, da die Beauftragung nun nicht mehr ausschließlich von Gott bzw. Christus komme, sondern zunehmend die offizielle Beauftragung durch die Gemeinde oder deren Leiter hinzutrete.

So lasse sich als Fazit der gesamten Untersuchung festhalten, dass es keine Hinweise dafür gebe, dass Diakonia und seine Derivate in neutestamentlicher Zeit für karitativ-wohltätige Aufgaben in den Gemeinden oder sogenannte niedere Dienstämter verwendet worden seien. Auch eine besondere Funktion der „Diakone“ und „Diakoninnen“ im Rahmen der frühchristlichen Abendmahlsfeiern lasse sich nicht belegen. Frauen seien im Zuge der Etablierung und Durchsetzung gemeindlicher Strukturen zunehmend ausgeschlossen worden, dies gelte insbesondere in Hinblick auf Lehr- und Verkündigungstätigkeiten.

Die neutestamentlichen Wurzeln der institutionalisierten Form der protestantischen „Liebestätigkeit“ liegen demnach auf anderem Gebiet, aber nicht auf dem im späteren Sinne „diakonischen“. Die Frage, die sich aus dem neutestamentlichen Befund ergibt, ist, ob nicht die derzeitige Diakonie dem neutestamentlichen Verständnis angenähert werden sollte. Das würde bedeuten: Diakonissen, Diakoninnen und Diakone verkündigen die Botschaft vom Kommen Gottes, leiten Gemeinde und sind zugleich pflegerisch und helfend tätig.

Anmerkung:
1 Dieter Georgi, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief. Studien zur religiösen Propaganda in der Spätantike, Neukirchen-Vlyun 1964; John N. Collins, Diakonia. Reinterpreting the Ancient Sources, New York 1990; vgl. zuletzt die Diskussion in: Volker Herrmann / Rainer Merz / Heinz Schmidt (Hrsg.), Diakonische Konturen. Theologie im Kontext sozialer Arbeit, Heidelberg 2003.

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