S. Dicker: Landesbewusstsein und Zeitgeschehen

Cover
Titel
Landesbewusstsein und Zeitgeschehen. Studien zur bayerischen Chronistik des 15. Jahrhunderts


Autor(en)
Dicker, Stefan
Reihe
Norm und Struktur 30
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
€ 52,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Antje Thumser, Berlin

Wie hat man sich im 15. Jahrhundert ein bayerisches Landesbewusstsein vorzustellen? Zur Beantwortung dieser Frage zieht Stefan Dicker in seiner jüngst erschienenen Münchener Dissertation die reichhaltige bayerische Historiografie des 15. Jahrhunderts heran und versucht darin das individuelle Landesbewusstsein der Geschichtsschreiber zu erfassen, wobei er als Land den herrschaftsrechtlichen Raum der ludovizinischen Wittelsbacher versteht. Das bayerische Landesbewusstsein ergibt sich für Dicker vor allem aus den Vorstellungen der Chronisten von Bayern und dem Ausmaß ihres Zugehörigkeitsgefühls. Mehr als die Darstellung der Vergangenheit betrachtet er die Schilderung der zeitgenössischen Geschichte als für seine Fragestellung relevant. Denn da die Chronisten auf die Ereignisse ihrer Zeit als selbst Betroffene reagierten, geht er davon aus, dass sie nicht aus einer neutralen Beobachterperspektive, sondern subjektiv wertend berichtet hätten und somit ein weitgehend unverstellter Einblick in das jeweilige politische Verständnis und das Landesbewusstsein möglich sei. Darüber hinaus liefern die Prologe und Landesbeschreibungen der Chroniken für Dicker Hinweise auf die Entwicklung des bayerischen Landesbewusstseins im Spätmittelalter.

Im ersten Teil seiner Arbeit nimmt Dicker die bayerische Landschronistik vergleichend in den Blick. Neben den großen Chroniken des Andreas von Regensburg, Hans Ebran von Wildenberg und Ulrich Fuetrer bezieht er auch die schon unter humanistischem Einfluss entstandenen Werke des Veit Arnpeck und Veit von Ebersberg ein. Ergänzend berücksichtigt er kleinere Chroniken, aus aktuellem Anlass entstandene zeitgenössische Fortsetzungen größerer historiografischer Werke und Gelegenheitsschriften wie die des Jörg Kazmaier über die Münchener Bürgerunruhen (1397–1402). Dicker stellt die Chronisten mit vornehmlichem Augenmerk auf Herkunft, Stand und Bildung der Reihe nach vor und informiert je über Entstehungsbedingungen, Intention und Inhalt der Werke. Zudem analysiert er neben der Selbstdarstellung der Verfasser und der Charakterisierung der Auftraggeber die jeweilige Präsentation der Dynastie, der Fürsten als zentralem politischen Machtfaktor, des Adels wie auch der Landstände als die Geschicke des Landes mitbestimmender Größe. Die Stoffauswahl und Gliederung der Chroniken sollen dabei ebenso Indizien für das individuelle Landesbewusstsein der Chronisten liefern wie die jeweilige Darstellung und Beurteilung der aus dem Zeitgeschehen resultierenden Konsequenzen für Land, Dynastie und Bewohner. Zudem meint Dicker, insbesondere den Vorworten, Widmungsadressen oder Begleitschreiben aufgrund ihrer programmatischen Ausrichtung sowohl grundlegende Aussagen zu den Vorstellungen der Chronisten von Bayern und der herrschenden Dynastie als auch zu den fürstlichen Auftraggebern und den Bewohnern als Trägerschichten des Landesbewusstseins entnehmen zu können.

Anschließend stellt Dicker in einem zweiten Teil seine Textauswahl noch einmal quer und versucht so, das Landesbewusstsein systematisch aus verschiedenen Perspektiven zu erfassen. Zunächst analysiert er exemplarisch die Schilderung zeitgenössischer politischer Ereignisse, vor allem der bayerischen Landesteilungen und Wiedervereinigungen. Hierbei leitet ihn insbesondere die Frage, ob und in welchem Maß die Einheit Bayerns überhaupt als Denkmodell für die Chronisten des 15. Jahrhunderts existierte. Die Schilderung der Bedrohungen Bayerns von außen, hier vor allem die Hussiteneinfälle, sowie die der Expansionsbestrebungen der bayerischen Herzöge bilden einen weiteren Untersuchungsschwerpunkt. Besonders kritisch setzt Dicker sich mit der Verwendung des Begriffs „Haus Bayern“ auseinander. Über den Ausdruck dynastischen Selbstverständnisses hinaus, wie er bisher meist beurteilt wurde, schätzt er ihn als eine übergeordnete Vorstellung von Bayern ein, dem die Dynastie und die Fürsten verpflichtet gewesen seien. Die Sicht der Chronisten auf die Dynastie und speziell deren Bedeutung für die Definition des Raumes wie auch für die Konstruktion einer fortlaufenden, auf Herrschaftskontinuität basierenden bayerischen Geschichte findet ebenfalls breiten Untersuchungsraum. Abschließend widmet sich Dicker noch einmal eigens den Landständen und deren wachsender Macht und politischer Einflussnahme in den bayerischen Teilherzogtümern.

Im Gegensatz zur bisherigen Forschungsmeinung, nach der die bayerischen Landeschroniken zu Propagandazwecken im Sinne der Herzöge oder auch als Ausdruck des dynastischen Selbstverständnisses dienten 1, hebt Dicker die bislang wenig beachtete paränetische Absicht der Werke hervor. Gute und schlechte Taten der Vorfahren sollen vorbildlich oder abschreckend wirken, und auch die von den Chronisten gezeichneten Fürstenbilder sollen Einfluss auf das Verhalten der bayerischen Herzöge ausüben. Allerdings ist die Einschätzung, dass Geschichte als magistra vitae fungiere, nicht unbedingt neu. Überzeugend kann Dicker dagegen herausarbeiten, dass die zeitgenössischen Chronisten die Herrschaftsteilungen von 1255 bis 1505 nicht als Schwächung der Wittelsbacher nach außen beurteilen, sondern, da sie entweder als Erbaufteilung oder als Lösung eines Konflikts zwischen den Herzögen präsentiert werden, als geeignete Maßnahme zur Beilegung von innerdynastischen Differenzen und seit 1255 gar als übliches und erbrechtlich einwandfreies Verfahren. Dementsprechend werden auch die Wiedervereinigungen selten vermerkt, und nicht einmal die 1505 wiederhergestellte Einheit Bayerns ist den Chronisten berichtenswert. Die Landstände werden von den Historiografen als geschlossener politischer Machtfaktor begriffen und erfahren besonders aufgrund ihrer vermittelnden Rolle in den innerdynastischen Konflikten eine positivere Beurteilung als die bayerischen Herzöge. Deren Handeln wird vornehmlich im Hinblick auf die Auswirkungen für das Land und nicht für die Dynastie bewertet. Räumlich umfasste das Landesbewusstsein der Chronisten, so stellt Dicker fest, das Herrschaftsgebiet der bayerischen Wittelsbacher, auch die Herrschaftsteilungen änderten nichts am Umfang dieses Herrschaftsraums. Da Bayern unter der Herrschaft einer einzigen Dynastie blieb, war es für die Chronisten ein ungeteiltes Land, infolgedessen bildete sich auch kein oberbayerisches oder niederbayerisches Landesbewusstsein heraus. Die bereits Landesbeschreibungen enthaltenden Chroniken des Veit Arnpeck, Veit von Ebersberg und Angelus Rumpler zeugen von einem sich wandelnden Landesbewusstsein, das sich nicht mehr allein am Herrschaftsbereich der Dynastie orientierte, sondern Bayern nun auch geografisch und ethnografisch begrenzte.

Die Untersuchung Dickers basiert auf einer breiten, für seine Fragestellung sehr ergiebigen Quellenauswahl. Erfreulich ist, dass er den üblichen Kanon der großen Landeschroniken mit den aus aktuellen politischen Anlässen entstandenen Schriften kontrastiert, denn gerade die Darstellung des Zeitgeschehens kann hierdurch gut vergleichend beurteilt werden. Dem Lesevergnügen insgesamt abträglich sind allerdings häufige Redundanzen, die vor allem dem zweigeteilten Ansatz geschuldet sind. Zudem wäre etwas mehr Abstraktionsvermögen wünschenswert gewesen. Mit seinen Studien zum Landesbewusstsein und Zeitgeschehen ist das Thema wohl noch nicht in all seinen Aspekten erfasst, doch dürfte das Buch bestimmt wichtige Anstöße geben.

Anmerkung:
1 Vgl. hierzu nur Jean-Marie Moeglin, Les ancêtres du prince. Propagande politique et naissance d’une histoire nationale en Bavière au Moyen Age (1180–1500), Genf 1985.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension