J. Scholten: Zwischen Markt und Parteiräson

Cover
Titel
Zwischen Markt und Parteiräson. Die Unternehmensgeschichte des "Vorwärts" 1948-1989


Autor(en)
Scholten, Jens
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen - Schriftenreihe A: Darstellungen 40
Erschienen
Anzahl Seiten
409 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Kramper, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg im Breisgau

Dass Unternehmen, wie Max Weber es formulierte, "dem Streben nach [...] immer erneutem Gewinn: nach Rentabilität"1 dienen, ist eine verbreitete Auffassung, die auch große Teile der historischen Forschung durchzieht. Eine signifikante Minderheit von Betrieben lässt sich allerdings nicht einmal ansatzweise auf diese Formel reduzieren. Neben öffentlichen Unternehmen ist hierbei im deutschen Kontext auch an die Unternehmen der Arbeiterbewegung zu denken, die explizit den politischen Zielen von SPD und Gewerkschaften dienen sollten. Einer dieser Betriebe steht im Mittelpunkt der Bochumer Dissertation von Jens Scholten: die Parteizeitung "Vorwärts", deren Verlag einst das Flaggschiff des SPD-Unternehmensbereichs darstellte.

Die Untersuchung fragt nach der Funktionsfähigkeit von "politischen Unternehmen" und will herausarbeiten, "ob und unter welchen Bedingungen" die politische Zielsetzung "gefährdend für die Organisation wirkt oder aber umgekehrt zum Markterfolg beiträgt" (S. 10). Scholten betont also die betriebliche und nicht so sehr die publizistische Dimension des "Vorwärts". Er legt dabei das unternehmensgeschichtliche "Konzept der moralischen Ökonomie" zugrunde, das in bewusster Anlehnung an die Begrifflichkeit von E. P. Thompson, aber in völliger Veränderung ihrer Bedeutung davon ausgeht, dass sich "aus den doppelten Anforderungen an das Unternehmen – nämlich politisch-gesellschaftsreformerischen und ökonomischen – […] bei der Steuerung des Unternehmens logische Konflikte" ergeben und "ganz unterschiedliche und sich überlagernde 'Rationalitäten' innerhalb des Unternehmens" (S. 18) miteinander konkurrieren.2 Dieser Ansatz ist vor allem mit Blick auf die äußerst schwierige Lage des "Vorwärts" in den siebziger und achtziger Jahren gewählt. Obwohl sie nominell die Jahre von 1948 bis 1989 umfasst, ist Scholtens Untersuchung deshalb ganz überwiegend auf diesen Zeitraum ausgerichtet.

Die Arbeit ist in drei große, systematisch angelegte Kapitel gegliedert. Nach einleitender Darstellung der Vorgeschichte und der gesellschaftsrechtlichen Entwicklung steht im Mittelpunkt des zweiten Kapitels der "Vorwärts" als publizistisches Objekt. Insbesondere untersucht Scholten die Auseinandersetzungen um die inhaltliche Konzeption des Blatts, die zwischen einer weitgehend unabhängigen Wochenzeitung nach dem Vorbild der ZEIT und einem Mitgliedermagazin oszillierte, sowie die Redaktion, die Leserschaft und die Absatzentwicklung. Vor dem Hintergrund der ausführlich geschilderten Umbrüche des gesellschaftlichen und politischen Umfelds identifiziert er als Grundproblem der Zeitung die Frage nach der Zielgruppe. Das erodierende sozialdemokratische Milieu habe die Ausrichtung auf die traditionelle Leserschaft im Laufe der 1960er- und 70er-Jahre hinfällig gemacht. Gleichzeitig habe es die Unternehmensführung nicht vermocht, "eine inhaltliche Linie zu finden, die weder die alten Abonnenten verschreckte, noch den Ansprüchen einer weniger milieugebundenen, dafür aber individualistischer orientierten neuen Leserschicht entgegenstand" (S. 168). Unklar bleibt zunächst allerdings, ob Scholten dieses Versäumnis als ein grundsätzliches Problem eines Unternehmens der "moralischen Ökonomie" betrachtet oder es für die Folge von Defiziten hält, die prinzipiell auch unter Beibehaltung der politischen Funktion des "Vorwärts" hätten behoben werden können – etwa der eingehend geschilderten Unfähigkeit des wenig professionellen Managements.

Im dritten Kapitel, in dem der Autor die Perspektive auf den Verlag des "Vorwärts" ausweitet, scheint die Argumentation eher in die letztgenannte Richtung auszuschlagen. Vor dem Hintergrund der einschlägigen Branchentrends, insbesondere der Pressekonzentration, dem Entstehen neuer Medien und der Innovationen in der Drucktechnik, schildert Scholten hier die wirtschaftliche Entwicklung des Gesamtunternehmens. Besonderes Augenmerk gilt dabei den zahlreichen Versuchen, den "Vorwärts" über andere Printobjekte des Verlages querzufinanzieren. Seit die Parteizeitung in den 1970er-Jahren in eine wirtschaftliche Schieflage geriet, gewann diese Vorgehensweise erheblich an Bedeutung, ohne allerdings Wirkung zu zeigen. Hinzu kamen die "sich lange Zeit im Wildwuchs entwickelnden Führungsstrukturen" (S. 305), was auf die bereits angesprochenen Managementprobleme verweist, teilweise aber auch auf die Kombination aus weitgehendem Desinteresse und punktuellen Interventionen des Parteivorstands zurückzuführen ist.

Im vierten Kapitel untersucht der Autor die Beziehungen zwischen dem Verlag, der Partei und den Gewerkschaften. Vorrangig geht es auch hier um unternehmerische Aspekte dieses Beziehungsgeflechtes – also um Finanztransfers von der Partei an den Verlag und umgekehrt, um politische Einflüsse auf das Anzeigengeschäft und um die Rolle der Gewerkschaften bei der Etablierung der Mitbestimmung. Bemerkenswert ist Scholtens Befund, dass diese bewussten Einflussnahmen zwar häufig eine Verkomplizierung, aber nicht unbedingt eine Verschlechterung der Bedingungen des unternehmerischen Handelns bedeuteten. So standen beispielsweise den Problemen, die der parteigebundene Charakter des "Vorwärts" für das Anzeigengeschäft mit sich brachte, auch Vorteile gegenüber, die nur aufgrund der Verbindungen zur SPD entstanden; und die gewerkschaftspolitisch motivierte Einführung der Mitbestimmung resultierte in einer Art erzwungener Modernisierung der Betriebsabläufe, die grundsätzlich eine Verbesserung darstellte. Auch in diesem Kapitel ist die Argumentation also dahingehend zu verstehen, dass die politische Funktion des Unternehmens kein prinzipielles Hemmnis für eine positive Entwicklung darstellte.

In der Schlussfolgerung unternimmt Scholten zunächst einen Ausblick auf die Entwicklung seit der 1989 erfolgten Neugründung des "Vorwärts" als Mitgliedermagazin, bevor er die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit zusammenfasst. Insgesamt sei "nicht so sehr das Scheitern des Vorwärts, sondern seine Langlebigkeit" bemerkenswert. Der politische Auftrag des Unternehmens habe "die Weiterführung auch unter ungünstigen Bedingungen" ermöglicht (S. 370). Wenn das Blatt schließlich doch gescheitert sei, so deshalb, weil der Wandel der sozialen Milieus zum Fehlen einer "einheitliche[n] Vision für die Zukunft und die Rolle des Vorwärts" (S. 368) geführt habe. Eine Neuorientierung unter Beibehaltung der politischen Funktion des Unternehmens wäre aber prinzipiell möglich gewesen, wenn sich der SPD-Parteivorstand in den 1970er-Jahren auf eine Minderheitsbeteiligung zurückgezogen hätte, statt die Fäden selbst in der Hand zu behalten. Die damit einhergehende Festlegung auf eine "breite Schicht linker Intellektueller", so resümiert Scholten, "war jedoch unter den gegebenen Organisations- und Führungsstrukturen kaum realistisch" (S. 369).

Diese grundsätzliche Erkenntnis ist empirisch breit abgesichert und dürfte insgesamt kaum zu bestreiten sein. Sie erweist zudem die Fruchtbarkeit des gewählten Ansatzes, der die Unternehmenseigenschaften von Medien gegenüber ihrer publizistischen Funktion in den Vordergrund rückt. Scholten leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung von nicht-gewinnorientierten Unternehmen im allgemeinen und Unternehmen der Arbeiterbewegung im besonderen.

Trotz dieser positiven Bemerkungen ist die Arbeit nicht in jeder Hinsicht überzeugend. Erstens wirft die systematisch statt chronologisch angelegte Gliederung Probleme auf. So ist das Buch von einer Reihe von Redundanzen geprägt, aufgrund derer es teils recht mühsam zu lesen ist; im zweiten Kapitel werden zudem schon weite Teile der Schlussfolgerung vorweggenommen. Und schließlich behindert die systematische Gliederung auch die analytische Durchdringung des Themas. Sie stellt verschiedene Entwicklungen der Jahre 1948 bis 1989 unverbunden nebeneinander und erschwert deshalb die Zuordnung einzelner zentraler Umbrüche im Verlag zu ihren Ursachen. So bieten beispielsweise Scholtens Ausführungen zu gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen zwar einen Hintergrund zur Entwicklung des "Vorwärts", werden mit dieser aber nicht wirklich verknüpft. Warum sie ausgerechnet in den 1970er-Jahren (und nicht zehn Jahre früher oder später) zum Problem für die Zeitung wurden, bleibt unklar.

Eng mit diesem Mangel an analytischer Schärfe ist auch das zweite Defizit der Arbeit verknüpft, nämlich der Rückgriff auf die Idee der "moralischen Ökonomie". Über die Angemessenheit dieses Begriffs lässt sich schon auf der semantischen Ebene streiten. Wichtiger ist aber, dass dieses vermeintliche analytische Konzept ein inhaltlich äußerst heterogenes Phänomen umfasst. So stellt Scholten beispielsweise fest, dass "bei Presseunternehmen [...] das Handlungsmodell der moralischen Ökonomie [...] meist in irgendeiner Form gegeben" ist, "da die Produkte dieser Betriebe stets gesellschaftsbeeinflussendes Potenzial haben" (S. 318). Zweifellos wäre er aber auch selbst der Auffassung, dass zwischen "normalen" Presseunternehmen und solchen, die unter Einfluss einer politischen Partei stehen, unterschieden werden müsste.

Ein differenzierteres Konzept von "moralischer Ökonomie" und eine genauere Spezifizierung der Besonderheiten des "Vorwärts" hätten es der Untersuchung erlaubt, unterschiedliche Arten von politisch dominierten Unternehmen klarer voneinander zu trennen. Dann hätte sich zum Beispiel auch genauer untersuchen lassen, ob die wenig anpassungsfähigen Organisationsstrukturen, die Scholten als einen vom "moralischen" Charakter des "Vorwärts" weitgehend unabhängigen Faktor betrachtet, nicht doch ein Strukturproblem einer bestimmten Form von politischer Einflussnahme waren. Daran anschließend wäre es eine wichtige Aufgabe der Forschung, darüber nachzudenken, warum bestimmte (aber nicht alle) Typen von Unternehmen mit politischer Zielsetzung – besonders die der Arbeiterbewegung, aber auch staatliche Betriebe – lange Zeit gut funktionierten, in den 1970er- und 80er-Jahren aber generell in Schwierigkeiten gerieten; und warum manche von ihnen diese Schwierigkeiten überlebten, andere aber nicht. Zur Bearbeitung dieses Desiderates liefert die Arbeit von Scholten einen soliden empirischen Baustein.

Anmerkungen:
1 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, 9. Auflage, Tübingen 1988, S. 4.
2 Vgl. auch Jan-Otmar Hesse / Tim Schanetzky / Jens Scholten (Hrsg.), Das Unternehmen als gesellschaftliches Reformprojekt. Strukturen und Entwicklungen von Unternehmen der "moralischen Ökonomie" nach 1945, Essen 2004.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension