C. Meier: Kultur, um der Freiheit willen

Cover
Titel
Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge - Anfang Europas?


Autor(en)
Meier, Christian
Erschienen
München 2009: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 22,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tanja Itgenshorst, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Christian Meiers Buch ist als selbständige Monographie erschienen und stellt zugleich den ersten Teil einer neuen Geschichte Europas im Siedler-Verlag dar. Vom Band über die Alte Welt bietet es vorab die ersten beiden von insgesamt sieben konzipierten Teilen und behandelt die griechische Geschichte vom Ende der mykenischen Welt bis zum Jahr 500 v.Chr. (mit einem knappen Ausblick ins „athenische“ 5. Jahrhundert). Im umfangreicheren Hauptteil werden nach den „Ursprüngen griechischer Eigenart“ in der Folge des Zusammenbruchs der mykenischen Palastkultur das 8., 7. und 6. vorchristliche Jahrhundert jeweils in systematischen Kapiteln behandelt, die von zahlreichen weiteren Abschnitten zu thematischen Schwerpunkten umrahmt sind. Hier werden neben der Kolonisation die Entstehung der Polis, die archaische Tyrannis und die Entwicklung der Gesetzgebung in archaischer Zeit diskutiert. Für das 6. Jahrhundert steht zudem die Entstehung von Politischem Denken, Philosophie und Wissenschaft im Zentrum. Besondere Beachtung findet außerdem immer wieder das Verhältnis der Griechen zum Orient. Das Buch, um dies gleich vorwegzunehmen, ist bemerkenswert und setzt in mehrfacher Hinsicht Maßstäbe.

Erstens aufgrund der Konzeption: Meier setzt sich im ersten Teil unter der Überschrift „Die Frage nach dem Anfang“ auf rund fünfzig Seiten zunächst ausführlich mit der Frage auseinander, wann Europa begonnen habe und worin Europa überhaupt bestehe. Die Tatsache, dass Europa als geographischer (und mythischer) Begriff der griechischen Antike zuzuordnen sei, genügt ihm nicht als Begründung dafür, eine Geschichte Europas mit den Griechen beginnen zu lassen. Ebenso lehnt er die pauschale Argumentation mit der Rezeption des antiken Erbes in späteren Epochen, als gleichsam humanistischen Reflex, ab. Nicht zuletzt das Mittelalter habe eine Art Rezeptionshürde dargestellt, die uns für immer von der Antike trenne (vgl. vor allem S. 29f.). Stattdessen müsse im Detail und aus der jeweiligen Zeitgenossenschaft immer neu begründet werden, ob die Antike zu einem aktuellen Europa-Konzept tatsächlich noch etwas beizutragen habe. So bezieht sich das Buch nicht nur implizit, sondern mehrfach explizit auf aktuelle Diskussionen um die europäische Identität. Das abschließende Plädoyer Meiers, die alten Griechen als Frühgeschichte Europas (eher denn als Vorgeschichte Europas, vgl. S. 58f.) zu betrachten, trägt den geäußerten Bedenken Rechnung, zeigt aber auch, dass der Autor am Ende doch die Griechen nicht nur als eine neben vielen anderen Wurzeln des historischen Europa betrachtet, sondern sie gegenüber anderen Einflüssen privilegiert. Dafür bringt er zwei Argumente vor, erstens die Freiheit, die die griechische Kultur wie keine andere vormoderne Kultur in grundlegender Weise geprägt habe, und zweitens die „auf das Allgemeine, das Ganze von Ordnung und Welt gerichtete und zugleich für breite Schichten erschlossene Rationalität“ (S. 59). Diese beiden Charakteristika seien es, die dann in späteren Epochen in besonderer Weise rezipiert worden seien und das historische Europa geprägt hätten (vgl. vor allem S. 58f.).

Zweitens aufgrund der Stellung des Buches in Meiers eigenem Lebenswerk: Christian Meier hat sich schon früher in ausführlicher und theoretisch wie methodisch reflektierter Weise mit der Frage beschäftigt, „wie es zu den Griechen kam“ 1; die Besonderheit der griechischen Politik und Kultur, deren Nachweis man beinahe als ein Leitmotiv in seinem Lebenswerk bezeichnen könnte, ist in den früheren Veröffentlichungen allerdings in ganz anderer Weise begründet worden. Der dezidiert theorieorientierte und über weite Strecken geradezu quellenferne Zugriff der früheren Publikationen 2 wird im vorliegenden Buch von einer neuen, quellennahen Interpretation abgelöst, aus der einerseits deutlich wird, dass die entscheidende Entwicklung hin zur genuin politischen Verfasstheit der griechischen Gemeinwesen im 6. vorchristlichen Jahrhundert doch kein autonomer Prozess war, der sich „mangels Quellen“ hauptsächlich „mit Hilfe von Rückschlüssen“ ausweisen lasse.3 Andererseits zeigt sich nun, dass diese Entwicklung nicht allein aus einigen Fragmenten Solons zu destillieren ist, sondern dass es viele weitere Indizien in der archaischen Lyrik und Philosophie gibt, die für einen gesamtgriechischen (dabei aber nicht notwendigerweise auf die Demokratie zulaufenden) Entwicklungszusammenhang sprechen, der noch nicht in einseitiger Weise durch die Großpolis Athen geprägt war.

Der neue, auf die Quellen ausgerichtete Zugriff fördert im Detail viele Erkenntnisse zutage. So erscheint Archilochos als trotziger Einzelkämpfer mit „plebejische(m) Selbstbewußtsein“, der sich gegen die Wechselhaftigkeit des Schicksals wappnete, zugleich aber doch eine „erstaunliche Resonanz“ erfahren haben müsse. Alkaios und Theognis zeugten von den erbitterten Konflikten innerhalb der aristokratischen Oberschicht, Tyrtaios lobe die Tapferkeit der Krieger – und bei allen stehe die Polis als selbstverständlicher Bezugsrahmen im Hintergrund. Insofern seien alle diese Männer (und Sappho von Lesbos als einzige Frau) letztlich doch wieder in einem gemeinsamen Kontext mit dem Politiker, Gesetzgeber und „Wieder-ins-Lot-Bringer“ Solon von Athen zu sehen, bei dem die genuin politischen Bezüge freilich viel breiter angelegt und letztlich auch wirkungsmächtiger waren. Zu Recht bezieht Meier in diese Perspektive neben den Gesetzgebern auch die Naturphilosophen der archaischen Zeit mit ein und entdeckt selbst bei diesen, teilweise spezialistischen Theoretikern als konkreten lebensweltlichen Bezugsraum die Gemeinschaft der Polis (vgl. etwa zu Heraklit S. 284f.). Die Interpretationen werden dabei in einer Weise in einen Gesamtkontext eingebettet, wie dies bisher noch nicht geschehen ist. Die Meiersche Lesart der „Entwicklung des Politischen bei den Griechen“, die seit dreißig Jahren in der intellektuellen Auseinandersetzung über das archaische Griechenland einen zentralen Beitrag darstellt, hat durch diesen Zugang entscheidend an differenzierter Argumentation und damit an Gewicht gewonnen.

Drittens aufgrund des gelungenen Zusammenspiels von Anspruch und Adressatenkreis: Im sich dem eigentlichen Buch anschließenden Nachwort legt Meier auf gut zwanzig Seiten noch einmal seine Intentionen dar; Historiographie zu verfassen, war sein Ziel, und diese sollte einem breiteren Leserkreis verständlich und „zumutbar“ sein (vgl. S. 335). Beides ist gelungen, und zwar in einer Weise, die für Historiographie im eigentlichen Sinne charakteristisch ist: Die allgemeine Verständlichkeit geht nicht auf Kosten des intellektuellen Anspruchs, sondern das Buch bedient ein allgemeineres Publikum ebenso wie den Forscher, der sich mit der Entwicklung des Poliswelt in archaischer Zeit auseinandersetzt oder die Bedingungen der Entstehung von Philosophie und politischer Theorie in Griechenland untersucht. Dem Forscher mögen einige Passagen, wie etwa die Kapitel über die sogenannte Kolonisation der archaischen Zeit, den spartanischen Kosmos oder die Entwicklung der athenischen Tyrannis unter den Peisistratiden, etwas zu konventionell sein. Auch lässt sich die These, dass den griechischen Intellektuellen und Philosophen im sechsten vorchristlichen Jahrhundert „die kräftige Mitsprache der breiteren Schichten schließlich als dringend erwünscht“ erschienen sei (S. 273), in den Quellen kaum belegen (Selbst bei Solon, der für die Entstehung des Bürgerbewusstseins auf einer breiten Ebene in Athen eine entscheidende Rolle spielte, zeigen die erhaltenen Fragmente eine überaus ambivalente Haltung gegenüber dem Demos 4). Trotzdem ist das Buch insgesamt auch im Forschungskontext unbedingt der Beachtung wert.

Insofern ist „Kultur, um der Freiheit willen“ ein Beweis dafür, dass die Geschichtswissenschaft als geisteswissenschaftliche Disziplin keine Befürchtung zu hegen braucht, dass ihre Erzeugnisse nur ein Spezialpublikum interessierten und sie, außerhalb der übrigen gesellschaftlichen Wirklichkeit stehend, ihre Daseinsberechtigung durch fachfremde Evaluationen nachzuweisen habe. Man darf auf die Gesamtschau der Alten Welt aus Meiers Feder gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. bes. Christian Meier, Autonom-prozessuale Zusammenhänge in der Vorgeschichte der griechischen Demokratie, in: Karl-Georg Faber/ Christian Meier (Hrsg.), Historische Prozesse, Frankfurt 1978, S. 221–247; außerdem die Einführung und die ersten vier Beiträge zum Begriff des Politischen, zur Entstehung der Isonomie und zur kleisthenischen Reform in: ders., Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980 (5. Aufl. 2008), S. 12–243; Die Entstehung einer autonomen Intelligenz bei den Griechen, in: Shmuel N. Eisenstadt (Hrsg.), Kulturen der Achsenzeit, Bd. 1.1: Griechenland, Israel, Mesopotamien, Frankfurt 1987, S. 89–127.
2 Vgl. etwa Meier, Entstehung, S. 22f.: „Der spezifische Zusammenhang der Dinge kann sich nicht direkt aus den Quellen ergeben. Die vorliegenden Arbeiten gründen zwar überall auf Quellenuntersuchungen, streckenweise bestehen sie sogar darin. Aber das, worum es geht, war den Griechen großenteils nicht bekannt. Es kann also in den Quellen nicht ausgedrückt sein.“ Vgl. außerdem in extremis Meiers Beitrag in: Eisenstadt, Kulturen der Achsenzeit.
3 So Meier in: Historische Prozesse, S. 246.
4 Vgl. jetzt etwa Elizabeth Irwin, The transgressive elegy of Solon?, in: Josine Blok u.a. (Hrsg.), Solon of Athens. New historial and philological approaches, Leiden u.a. 2006, S. 36–78, hier bes. S. 51.

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