Cover
Titel
Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption „entarteter“ Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR


Autor(en)
Steinkamp, Maike
Reihe
Schriften der Forschungsstelle "Entartete Kunst"
Erschienen
Berlin 2008: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
XII, 478 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Winter, Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin

Der Einband des hier vorgestellten Buches zeigt programmatisch zwei bekannte Kunstwerke von Ernst Barlach und Lyonel Feiniger: die Skulptur „Der Singende“ sowie das Gemälde „Teltow II“ – zwei Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten als „entartet“ gebrandmarkt und aus den öffentlichen Museen in Deutschland entfernt worden waren. Das hier gewählte Foto zeigt die Werke im sogenannten Expressionisten-Raum in der Ost-Berliner Nationalgalerie, den der Direktor Ludwig Justi im Dezember 1954 eingerichtet hatte. Fast zehn Jahre waren seit dem Ende des Krieges und des Nationalsozialismus vergangen und doch war es erst jetzt möglich, die vormals „entartete“ Kunst wieder in der Nationalgalerie zu zeigen. Dies hatte vielfältige und komplexe Ursachen, wie Maike Steinkamp in ihrem Buch detailliert und mit bester Quellenkenntnis darlegt und damit ein bislang gänzlich vernachlässigtes Kapitel der Rezeption der Moderne aufarbeitet.

Bereits das erste Kapitel des Buches, das auf der 2007 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereichten Dissertation der Autorin beruht, widmet sich einem interessanten Themenkomplex, der dringend weiterer Forschungen bedarf: Nach einer begrifflichen und kunsthistorischen Verortung des Expressionismus als Kunstrichtung wird das Engagement von städtischen Museen für die moderne Kunst in der Weimarer Republik an Einzelfällen vorgestellt. Ausführliche Beispiele aus den Museen in Erfurt, Weimar, Halle, Dresden, Chemnitz und Jena weisen bereits den Weg, den die Arbeit im Hauptteil bei der Betrachtung der Entwicklung nach 1945 beschreiten wird, nämlich die Museumslandschaft der späteren Sowjetischen Besatzungszone/DDR ins Blickfeld zu rücken. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei, wie könnte es anders sein, der Berliner Nationalgalerie zu. Denn schon in der Weimarer Republik blieb die Herausstellung der Gegenwartskunst in einer separaten Abteilung, wie es Ludwig Justi im Kronprinzenpalais gelang, eine Ausnahme in der deutschen Museumslandschaft, da in den meisten Häusern die zeitgenössische Kunst in die bestehenden Sammlungen kunsthandwerklicher, ethnographischer Exponate oder älterer bildender Kunst integriert wurde.

Diese Gegenüberstellung von vermeintlichen „Provinz“-Museen (später dann: Bezirksmuseen) mit der Nationalgalerie in Berlin ist äußerst reizvoll und wird im gesamten Buch beibehalten. Ausgehend von detaillierten Schilderungen der jeweiligen Umstände an den Museen in Erfurt (Angermuseum), Weimar (Kunstsammlungen), Dresden (Gemäldegalerie Neue Meister), Halle (Moritzburgmuseum) und Chemnitz (Städtische Kunstsammlung) wird anschließend ausführlich die Situation in Berlin betrachtet. Auch im Kapitel zum Nationalsozialismus und zur Aktion „Entartete Kunst“ erfährt das Kronprinzenpalais eine ausführlichere Darstellung als die anderen Museen; immerhin war es hier bis 1936 möglich, die moderne Abteilung zu besuchen, während in anderen Museen der moderne Kunstbestand bereits vor Mitte der 1930er-Jahre in die Depots verbannt oder in „Schreckenskammern“ verunglimpft worden war.

Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich in drei große Kapitel und folgt damit den (kultur-) politischen Zäsuren der Nachkriegszeit: Der Rehabilitierung der Moderne in den Jahren 1945 bis 1947 (S. 85-173) folgte die schwierige Zeit der Formalismusdebatte 1948/1949 (S. 175-254). Die Gründung der DDR 1949 brachte eine Neuausrichtung der Kulturpolitik mit sich (S. 255-318), die ungefähr bis 1953 anhielt. Nach 1953 ermöglichte der „Neue Kurs“ der SED, der sich auch auf die Kulturpolitik auswirkte, schließlich die Integration der expressionistischen Kunst in die Museen der DDR (Ausblick: S. 319-332).

Ein Verdienst der Arbeit besteht zweifellos darin, dass neben „herkömmlichen“ Archivüberlieferungen in Form von Akten und Nachlässen in großem Umfang solche Quellen herangezogen wurden, die gewöhnlich im Graubereich zwischen Bibliothek und Archiv ihr Dasein fristen und deren Erschließung weder hier noch dort als drängende Aufgabe angesehen wird. Umso verdienstvoller ist die von Steinkamp umfangreich vorgenommene Auswertung von Ausstellungskatalogen bzw. Katalogheftchen sowie von Artikel in der Tagespresse und in Kunstzeitschriften. So entsteht ein ungemein facettenreiches Bild von den vielen kleinen Schritten des Neuanfangs im Ausstellungswesen nach dem Ende des Krieges. Anhand von zahlreichen Beispielen aus Galerieprogrammen und Rezensionen werden die Bemühungen von privaten Galerien um die Rehabilitierung der Moderne illustriert.

Ausführlich analysiert Steinkamp die „Allgemeine Deutsche Kunstausstellung“ in Dresden 1946, die als Meilenstein bei dem Versuch gelten muss, die vormals „entartete“ Kunst zu rehabilitieren und an die Kunstentwicklungen der Zeit vor 1933 anzuknüpfen. Die sich anschließenden, kleinen Präsentationen zeitgenössischer Kunst an jenen Museen, die sich auch in der Weimarer Zeit der Moderne geöffnet hatten, wurden zum Teil von Museumsdirektoren in Gang gebracht, die nach ihrer Entlassung 1933 nun wieder an ihre alten Wirkungsstätten zurückgekehrt waren, so z. B. Ludwig Justi in Berlin sowie Friedrich Schreiber-Weigand in Chemnitz und Herbert Kunze in Erfurt. Immer wieder wird der Bezug zu den westlichen Besatzungszonen bzw. ab 1949 zu Westdeutschland hergestellt und so die Nachkriegsrezeption der modernen Kunst – bis hin zu der strittigen Frage der Interpretation des Begriffs „Moderne“ – in einen spannenden, beziehungsreichen Gesamtzusammenhang eingebettet.

Ein weiteres Kapitel widmet sich den Jahren 1948/1949 und dem Beginn der Formalismusdebatte. Ihre Wurzeln hatte diese in der Expressionismusdebatte in der Sowjetunion 1937/38, folgerichtig wird jene sowie ihre Neuauflage in der Sowjetischen Besatzungszone theoretisch umfänglich beleuchtet. Die anschließend dargestellten praktischen Auswirkungen der Formalismusdebatte auf die Museen zählen zu den stärksten und dichtesten Teilen der Arbeit. Sehr plastisch erlebt der Leser den „Hallenser Museumsstreit“, der mit der Flucht des Museumsdirektors Gerhard Händler nach Westdeutschland und einer völligen Neukonzeption des Moritzburgmuseums unter Leitung der Deutschen Verwaltung für Volksbildung endete und damit das Wiederanknüpfen an die Blütezeit des Museums vor 1933 im Keim erstickte. Nach einer ebenso interessanten Betrachtung des Kulturhistorischen Museums in Rostock, wohin der Nachlass des Kunsthändlers Bernhard A. Böhmer aus Güstrow mit den von ihm im Zuge der Verwertung der „entarteten Kunst“ von den Nationalsozialisten erworbenen Werken der Moderne gelangt war, folgt wiederum ein ausführliches Kapitel zur Berliner Nationalgalerie. Sie stellte auch in diesen Jahren einen „Sonderfall“ dar, da die Spaltung der Stadt Berlin Ende 1948 unmittelbare Auswirkungen auf die Museen und die Nationalgalerie hatte. Auch der ehemals preußische Museumsverbund wurde geteilt, fortan gab es in Ost- und in West-Berlin Staatliche Museen, die als „Zwillingsmuseen“ mit doppelten Abteilungen agierten.

Geteilt wurde auch der schon bestehende Kunstbestand der neu entstandenen „Galerie des 20. Jahrhunderts“, eine Berliner Nachkriegsgründung, die bislang ein missliches Forschungsdesiderat darstellte.1 Die Initiatoren Ludwig Justi und Adolf Jannasch firmierten als Doppelspitze, wobei Justi an „sein“ Kronprinzenpalais als „Galerie der Lebenden“ anknüpfen und die Lücken im Bestand der Nationalgalerie schließen wollte, die die nationalsozialistische Kunstpolitik so schmerzlich gerissen hatte. Jannasch kam als Leiter des Hauptamtes Bildende Kunst des Berliner Magistrats die Aufgabe zu, die Interessen der lebenden Künstler zu vertreten und für den Ankauf ihrer Werke für eine neu aufzubauende, städtische Sammlung Sorge zu tragen. Bis Juni 1948 waren immerhin bereits 60 Gemälde, 20 Plastiken und rund 100 graphische Arbeiten erworben worden, die nach der Teilung der Stadt in der Ost-Berliner Nationalgalerie verblieben und hier den Grundstock für eine neue Abteilung der zeitgenössischen Kunst bildeten. Der weitere Fortgang der Ost-Berliner Geschichte der Galerie des 20. Jahrhunderts, die Justi nun allein weiterführte, ist bis zu ihrem politisch-ideologisch begründeten Ende 1950/51 detailliert beschrieben. Die Werke wurden schließlich 1951 zu einem kleinen Teil an das Märkische Museum überführt und zu einem größeren Teil der Nationalgalerie als „Schenkung des Magistrats“ übereignet. Eine ähnlich ausführliche quellenbasierte Analyse wünscht man sich nun auch für den West-Teil der Galerie des 20. Jahrhunderts – die Steinkamp hier naturgemäß nur in ersten Ansätzen liefern konnte – um deren Neugründung sich Adolf Jannasch ab dem Frühjahr 1949 sehr verdient gemacht hatte und die formal bis heute als landeseigene Kunstsammlung der Moderne existiert, wenn ihre Werke auch zum größten Teil als Dauerleihgaben in den Staatlichen Museen zu Berlin (Neue Nationalgalerie und Kupferstichkabinett) untergebracht sind.

Interessant und symptomatisch schließlich das zähe Ringen Ludwig Justis um den Wiedereinzug der Moderne in die Berliner Nationalgalerie. Angesichts der politischen Umstände hielt er sich zurück, taktierte und ging schließlich doch als „Sieger“ vom Platz, denn aufgrund seiner klugen Zurückhaltung unterblieben in Berlin restriktive Eingriffe in die Belange der Museen wie z.B. in Halle. Erst 1950 präsentierte Justi in der Nationalgalerie ein Kabinett mit Grafiken und einigen Skulpturen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – keine Provokation, sondern ein leises Vortasten. Der politische „Neue Kurs“ nach Stalins Tod 1953 und der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 ermöglichten dann doch noch den Wiedereinzug der Expressionisten in die Museen der DDR. Im letzten Kapitel, welches besser mit ‚Ausblick’ überschrieben worden wäre, wird die „Integration des Expressionismus in die Kunstgeschichtsschreibung und die Museen der DDR“ (S. 319-332) überblicksartig dargestellt. Hier verliert die Arbeit sehr an Dichte und bezieht quasi nur noch die großen Ausstellungen zur expressionistischen Kunst in Museen der DDR bzw. hauptsächlich der Berliner Nationalgalerie in die Betrachtung ein. Der zeitliche Sprung zwischen der Einrichtung der Expressionisten-Räume 1954 und der Picasso-Ausstellung 1957 in der Nationalgalerie lässt den Leser hier ein wenig ratlos zurück. Etwas bemüht wirkt der abschließende Bogen zur Diskussion um das künstlerische Erbe der DDR nach 1989/90 und um die gemeinsame Präsentation der west- und ostdeutschen Kunst nach 1945 der vereinigten Sammlungsbestände der Nationalgalerie(n) Ost und West 1994 (S. 331f.).

Die sehr zahlreichen Nennungen von Kunstwerken, deren Titel noch dazu in gesperrter Schrift graphisch abgesetzt sind, erschweren bisweilen den Lesefluss. Andererseits wird gerade diese akribische Dokumentation von Kunstwerken der klassischen Moderne, deren Provenienzen oftmals erhebliche Lücken aufweisen, dem Buch zu einer nachhaltigen Wertschätzung verhelfen. So bleibt nur noch zu wünschen übrig, dass eine ähnlich verdienstvolle, quellenbasierte Arbeit das Engagement der westdeutschen Museen für die moderne Kunst und die Rolle des Expressionismus sowie dessen kulturpolitische Funktion in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik beleuchten möge. Sowohl inhaltlich als auch methodisch bietet das vorliegende Buch dafür hinreichend Ansatzpunkte.

Anmerkung:
1 Bisher dazu: Adolf Jannasch, Galerie des 20. Jahrhunderts. 1945-1968, Berlin (West) 1968.

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