S. Nellen u.a. (Hrsg.): Paranoia City

Cover
Titel
Paranoia City. Der Fall Ernst B. Selbstzeugnis und Akten aus der Psychiatrie um 1900


Herausgeber
Nellen, Stefan; Schaffner, Martin; Stingelin, Martin
Erschienen
Basel 2007: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
S. 226
Preis
€ 29,50
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Annett Moses, Institut für Geschichte der Medizin, Justus-Liebig-Universität Gießen

Fallanalysen sind in den unterschiedlichsten sozialwissenschaftlichen Disziplinen wieder en vogue, wobei insbesondere in der Medizin- und Psychiatriegeschichte in den beiden letzten Dekaden ein wachsendes Interesse an der Erschließung und Auswertung von Fallmaterial zu verzeichnen ist.1 Diesem Trend schließt sich das von Stefan Nellen, Martin Schaffner und Martin Stingelin herausgegebene Buch an und vereint die Edition einer Fallakte mit einer Reihe von Essays, die den historischen Kontext erschließen und unterschiedliche Lesarten der Quellentexte vorstellen. Es handelt sich um eine Edition der besonderen Art, da die Quellen Fragmente der Biographie eines Unbekannten, der in das Fadenkreuz der Sanitätspolizei geriet, offenbaren. Ernst B., im Jahre 1856 im Kanton Bern geboren, ließ sich 1884 als „Coiffeur“ in Basel nieder und heiratete zwei Jahre später seine Ehefrau Lina. Im Jahr 1894 wurde er vorübergehend in die Irrenanstalt Friedmatt eingewiesen, im März 1899 wegen eines Suizidversuchs erneut dort hospitalisiert und 1904 nach Münsingen verlegt, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1923 verblieb. Der etwa zwei Drittel des Buches umfassende Quellenteil (Teil B: Falldossier) zeigt Akten, Briefe und andere Dokumente aus dem Zeitraum 1894 bis 1904, die in verschiedenen Archiven lagern. Die Dokumente wurden ihrem archivalischen Kontext entnommen und chronologisch angeordnet. Für die Transkription wurden Orthographie und Interpunktion beibehalten und darüber hinaus Layout und Gestaltung so originalgetreu wie möglich wiedergegeben. Zur Illustration sind wichtige Passagen aus den Dokumenten im Original abgedruckt (S. 15-17, 30, 43, 48, 78, 185-189, 216), so dass der Leser einen optischen Eindruck von dem Konvolut erhält.

Die Essays kontextualisieren auf verschiedenen Ebenen die publizierten Akten. Martin Schaffner beschreibt das Dossier in seiner Materialität (S.11-21). Der Fall B. stellt zunächst ein Bündel fragmentarischer Akten über einen auffällig gewordenen Mann dar und unterscheidet sich von anderen Dossiers im gleichen Konvolut nur durch einen 27seitigen Bericht von eigener Hand („Meine Erlebnisse“, S. 190-208). Die historische Spurensuche führte nacheinander durch die Akten des Ehegerichts, des Strafgerichts, des Notariatsarchivs und des Krankenblattarchivs der Kliniken Basel und Münsingen. Schaffner arbeitet in Anlehnung an die Goffmansche Rahmenanalyse heraus, wie sich aus einem zunächst unbedeutenden Vorfall durch das spezifische Handeln der beteiligten Akteure einzelne Fälle unterschiedlicher Tragweite entwickeln. Die Ehegatten artikulieren auf der Polizeistation zwei Versionen desselben Konfliktgeschehens. Lina B. stellt die Trunksucht und den Verfolgungswahn in den Vordergrund, Ernst B. unterstellt einen Vergiftungsversuch durch die Ehefrau. Vor der Instanz der Polizei ist es ein Streit um die beiden Deutungsmuster Verfolgungswahn gegen Mordversuch. Mit dem polizeilichen Entscheid, Ernst B. dem Physikus zuzuführen, ist aus dem privaten Unglück ein öffentlicher Fall geworden. Schaffner isoliert aus dem Quellenmaterial die scheinbar alles überragende „Krankengeschichte“, die im Jahr 1894 beginnt und 1923 mit dem Tod des Patienten endet. Mit der „Darlehensgeschichte“ und der „Hypnosegeschichte“ werden weitere Erlebnisberichte B.s herausgefiltert. Erstere handelt vom Verlust seines Hauses im Basler Bahnhofsquartier, hier stellen sich B.s Angaben nach Prüfung der Notariatsakten als wahr heraus; letztere von B.s Furcht, von seinen „Peinigern“ hypnotisiert worden zu sein. Auch die „Hypnosegeschichte“ erscheint unter Berücksichtigung der damaligen populärwissenschaftlichen Debatte zumindest nachvollziehbar. Als Fazit plädiert Schaffner für eine Lektüre der Quellentexte vor dem Hintergrund der Rekonstruktion der Kommunikations- und Handlungskontexte, in denen sich die Beteiligten artikulieren.

Caroline Arni lässt in ihrem Beitrag Teile der Geschichte des Ehepaars Lina und Ernst B. aufleben (S. 23-35). Sie untersucht, wie sich deren „Ehegeschichte“ mit den drei staatlichen Instanzen Zivilgericht, Polizei und Irrenanstalt verknüpft. In den Jahren 1893 und 1894 erscheinen beide mindestens fünfmal vor dem Zivilgerichtspräsidenten der Stadt Basel, der auch als vermittelnde Instanz bei Ehestreitigkeiten amtierte. Lina B. beklagt sich über die unbegründete Eifersucht ihres Mannes, er bezichtigt sie der Untreue. Zwei Jahre später wird die Ehe geschieden. Im Jahre 1898, nach der Geburt eines dritten Kindes, heiraten sie ein zweites Mal, um sich 1902 erneut zu trennen. Als Strategien der Krisenbewältigung tragen die Eheleute ihre persönliche Auseinandersetzung vor den von staatlicher Seite dafür zuständig erklärten Experten aus. Arni legt dar, wie sich das private Leben vor diesen Instanzen neu formiert.

Martin Stingelins Beitrag „Nervös. Von einem Basler Coiffeur, der an die falschen Leute und die falsche Literatur geraten ist, ohne dass sein Zeitalter sich in seinem verzweifelten Rationalisierungsversuch hätte wiedererkennen wollen“ (S. 37-46) umschreibt bereits im Titel die Problematik von Ernst B.s persönlicher Gedankenwelt. „Suggestion von Suggestibilität“ - dieses Phänomen erfasste im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht nur einzelne Individuen, sondern war eine sowohl in populärwissenschaftlichen Schriften gestellte Frage wie auch ein Thema innerhalb der forensischen Psychiatrie. B.s Verfolgungswahn weist jedoch über das klinische Bild der Paranoia hinaus, denn der Eindruck, als Opfer einer Immobilienspekulation von Dritten um sein Vermögen gebracht worden zu sein, entsprach durchaus der Wahrheit. Was B. jedoch aus Sicht von Sanitätspolizei und Justiz zum Paranoiden stempelt, ist die Tatsache, dass er seinen ökonomischen und sozialen Niedergang auf „posthypnotische Suggestionen“ mittels „unsichtbarer telegraphischer Drähte’“ zurückführt (S. 44), wie sie in einer von ihm intensiv studierten Broschüre zum Hypnotismus („Die Philosophie des persönlichen Einflusses“) genannt werden.2

Stefan Nellen und Robert Suter analysieren die „polizeilichen Aufschreibepraktiken im Vorraum der Psychiatrie“ (S. 48-62) und arbeiten heraus, wie aus einem Vorfall durch spezifische Verfahrensmechanismen und Deutungsmuster von Polizei und Sanität ein psychiatrischer Krankheitsfall generiert wird. Ernst B. ist hierbei lediglich ein Beispiel unter einer Reihe von „Psychopathographien des Alltagslebens“, die bei der Untersuchung der Basler Sanitätsakten zum Vorschein kamen, wie etwa Magdalena F., die auf dem Basler Centralbahnhof aufgegriffen wird und an „hochgradiger Verrücktheit und Aufregungszuständen“ leidet (S. 52), oder aber Josef M., der durch Gewalttätigkeiten gegen andere Fahrgäste auffällig wird (S. 59). Die Autoren stellen fest, dass Vorfälle nicht einer menschlichen oder sozialen Handlungslogik folgen, sondern zunächst der Logik eines polizeilichen Aufschreibesystems. Nach der Anzeige durch Frau B. gegen ihren Ehemann erfolgt nacheinander die Einvernahme der Beteiligten, deren Aussagen aber erst durch „Übersetzungen“ in ihrem Kontext analysierbar werden.

Der Beitrag von Hans Jakob Ritter bettet den Fall in die Irrenrechtsdebatten des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein (S. 63-77).3 Wie der Fall Ernst B. zeigt, erfolgte die Aufnahme in eine Irrenanstalt bei Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses mühelos. Die Einweisung in eine Irrenanstalt kam in den Augen der Betroffenen einer Entmündigung gleich, sie galt als „bürgerlicher Tod“. Das Aufnahmeverfahren in die Friedmatt geriet durch die Fälle des Orchesterdieners Zacharias Nigg (1896) und des Unternehmers Emil Mertz (1909) in die öffentliche Kritik.4 Beide verfassten nach ihrer Entlassung Pamphlete gegen das Basler Irrenwesen, führten Prozesse und lösten eine Debatte im Kantonsparlament aus. Der Anstaltdirektor Ludwig Wille wies jegliche Vorwürfe von sich und bezichtigte Nigg des „Quärulantenwahns“. Er behauptete, „Quärulanten“ seien besonders befähigt, den Eindruck eines geistigen Normalzustandes zu erwecken. Mit der Verwendung des Psychopathiebegriffs erhob er den Expertenanspruch der Psychiatrie für den für Laien angeblich nicht sichtbaren Übergang zwischen Normalität und Verrücktheit. Hierdurch wurde der vermeintliche Querulant auf doppelte Weise pathologisiert: neben der Zuschreibung der Geisteskrankheit wurde gerade die Einforderung von Bürger- und Patientenrechten als Indiz einer psychopathischen Konstitution gewertet. Der Fall Ernst B. wird von Ritter im Kontext des Selbstzeugnisses „Meine Erlebnisse“ der Gattung der Irrenrechtspamphlete zugeordnet. Ernst B. protestierte gegen seine Internierung in Münsterlingen (S. 74), vermochte es aber nicht, seine Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Insofern ist meines Erachtens dieser Fall nicht uneingeschränkt vergleichbar mit der Situation von Nigg und Mertz. Sicherlich bergen zahlreiche bislang nicht erschlossene und ausgewertete Krankenaktenbestände ebenfalls Selbstzeugnisse von Betroffenen. Dem wäre in weiteren Forschungsvorhaben nachzugehen.

Hubert Thüring schließt die Essays mit „Überlegungen zu einem Fall im Archiv der Moderne“ (S. 78-88), die in Anlehnung an die Thesen Foucaults eher in der Philosophie als in der Geschichtswissenschaft angesiedelt sind. Die letzten aktenkundigen Zeichen Ernst B.s aus Münsingen beklagen das Ausbleiben von Nachrichten über den Stand der Gerichtsuntersuchung gegen seine „hypnotischen Verfolger“. Gemäß Thüring teilt er mit anderen unbekannten „Paranoikern“, wie auch dem weltbekannten Daniel Paul Schreber „das Schicksal, ein Paradox moderner Existenz in besonders drastischer Weise zu verkörpern: zugleich in das eingeschlossen zu sein, wovon man ausgeschlossen ist“. Der Ruin des Ernst B. wirkt zwar als soziale Ausgrenzung, weckt aber zugleich das Bedürfnis, von jenen Instanzen beschützt zu werden, die gerade die Schädigung ermöglicht haben. Der Autor stellt die Frage nach der „historischen Verortung“ dieses „Paradoxon“ und greift in seiner Analyse auf Foucaults „Leben der infamen Menschen“ zurück. Er diskutiert die Frage, ob man durch die Exemplifizierung des Ernst B. als „infamer Mensch ohne Ruhm, Ruf und Name“ der Singularität des Falles gerecht werden kann und kommt letztendlich zu dem versöhnlichen Schluss, dass dieses durch die Verbindung zwischen „singulärem Ereignis und allgemeinstem Mechanismus, der Verbindung des flüchtigsten mit dem allgemeinsten Moment“ legitimiert ist (S. 85).

Das vorliegende Buch dokumentiert die Entdeckungsreise der Herausgeber durch vier Archivbestände, um einen fragmentarischen Einblick in das Dasein zweier anonymer Personen zu gewinnen. Die Essays sollten zur Lektüre der publizierten Akten anregen (S. 7), was meines Erachtens gut gelungen ist. Doch über eine bloße Quellenedition hinausgehend stellt sich die Frage, in welchem Forschungsfeld die Studie anzusiedeln ist. Die Herausgeber verzichten darauf, sich in der Forschungslandschaft zu positionieren, dokumentieren jedoch einen interdisziplinären Untersuchungsansatz, der sich von traditionellen Analysen psychiatrischen Aktenmaterials abhebt und neue Lesarten und Interpretationen einer klassischen medizinhistorischen Quelle präferiert. Der Untertitel „Akten aus der Psychiatrie“ lässt zunächst die Analyse der Krankengeschichte des Ernst B. erwarten. Die Herausgeber und Autoren möchten jedoch bewusst den „diagnostischen“ Blick vermeiden. Vielmehr ist es das Ziel, immer wieder die Perspektive des Betroffenen offen zu legen und die Handlungsalternativen der verschiedenen beteiligten Akteure aufzuzeigen. Trotzdem berücksichtigen die Essays auch den Einfluss von Struktur- und Prozessfaktoren, die einen Vorfall zum Krankheitsfall werden lassen und spiegeln so die im ausgehenden 19. Jahrhundert wachsende Interpretationsmacht von obrigkeitlichen Instanzen bei der Definition von Normalität und Verrücktheit wieder. Darüber hinaus liefert das Buch einen wertvollen Beitrag zur Geschichte des Kantons Basel-Stadt um die Jahrhundertwende. Es empfehlen sich weitere Einzelfallanalysen aus psychiatrischen Aktenbeständen nach dem vorgestellten Muster, was aber nicht bedeuten kann, dass auf serielle Analysen von Psychiatrieakten verzichtet werden kann.5

Anmerkungen:
1 Vgl. Fallgeschichten/Histoires de cas. Themenheft Traverse - Zeitschrift für Geschichte/Revue d’histoire 2 (2006). Sibylle Brändli / Barbara Lüthi / Gregor Spuhler, (Hrsg.): Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main2009.
2 Als beeindruckendes Beispiel, in die Gedankenwelt eines Psychiatriepatienten einzudringen und diese zugleich vor dem Hintergrund des realen historischen Kontexts zu analysieren vgl. Kai Sammet, Wirre Reden auf den Scillies – Augusterlebnisse eines Paralytikers, in: Historische Anthropologie 2 (2005), S. 220-244.
3 Diese Diskussion wurde im Deutschen Reich breit geführt und ist hier auf der Basis von publizierten Broschüren betroffener Patienten gut erforscht. Vgl. etwa Cornelia Brink, „Nicht mehr normal und noch nicht geisteskrank...“. Über psychopathologische Fälle im Kaiserreich, in: Werkstatt Geschichte 33 (2002), S. 22-44.
4 Zum Fall Mertz vgl. Regina Wecker, „Eine Blüte baslerischer Irrenpflege...“ Der Fall Emil Mertz und die Konstruktion bürgerlicher Identität, in: Brändli u.a. (Hrsg.) Wissensproduktion und Patientenerfahrung, S. 142-158.
5 Weitreichende Impulse sind hier methodisch wie inhaltlich von dem in Berlin und Hamburg verankerten Forschungsverbund „Kulturen des Wahnsinns“ <www.kulturen-des-wahnsinns.de> (07.08.2009) zu erwarten.

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