F. Roggenbuch: Das Berliner Grenzgängerproblem

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Titel
Das Berliner Grenzgängerproblem. Verflechtung und Systemkonkurrenz vor dem Mauerbau


Autor(en)
Roggenbuch, Frank
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 107
Erschienen
Berlin 2008: de Gruyter
Anzahl Seiten
481 S.
Preis
€ 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Georg Golz, Bonn

Bis zum Mauerbau war die eine Hälfte der bald nach Kriegsende geteilten deutschen Hauptstadt für die Bewohnerinnen und Bewohner der jeweils anderen Hälfte nahezu problemlos erreichbar. Die Sektorengrenzen waren durchlässig, obwohl in der „Frontstadt“ nun die politischen Weltsysteme unmittelbar aufeinanderstießen. Das Phänomen der Grenzgänger war bezeichnend für die besondere Situation. Meist handelte es sich um Arbeitspendler, die im jeweils anderen Teil der Stadt ihr Einkommen erzielten.

Die 2007 von der Humboldt-Universität zu Berlin angenommene geschichtswissenschaftliche Dissertation von Frank Roggenbuch ist die erste wissenschaftliche Monographie zum Phänomen der Grenzgänger. Das ist überraschend wie begrüßenswert, wird doch mit dieser Studie die deutsche „Teilungs-Normalität“ der 1950er-Jahre erforscht. Beide Seiten waren zu Regelungen für einen Modus vivendi gezwungen, der den Umständen Rechnung trug und die Stadt lebensfähig hielt. Roggenbuch vertritt die These von der „Verflechtungsambivalenz“: Die städtisch-regionalen Verbindungen zwangen einerseits zu immer verschärfteren Sicherheitsmaßnahmen und zur Abschottung, andererseits trugen pragmatische Problemlösungen zum Abbau der Konfrontation und zur Entkrampfung bei.

Roggenbuch präsentiert seine Analyse nach einem dreidimensionalen Raster: entlang der Chronologie, doch an Einzelaspekten und an Leitfragen orientiert. Seine zentrale Fragestellung lautet: Wie und mit welchen Zielen wurde das Grenzgänger-Phänomen in beiden Systemen „gemanagt“ und für die eigenen ideologischen und materiellen Ziele instrumentalisiert? Die überaus detaillierten Ausführungen zeugen von großem Fleiß und bemerkenswerter Umsicht und Souveränität bei der Auswertung der zu Rate gezogenen Quellen. Auf westlicher Seite sind das im Wesentlichen Archivalien des Senatsbüros für Gesamtberliner Fragen, des Abgeordnetenhauses und der Senatseinrichtungen sowie der Bezirksämter. Auf Ostseite stützt sich Roggenbuch vor allem auf Material der Magistratsabteilungen und der Räte der Stadtbezirke sowie auf Schriftgut der SED. Neben den institutionellen Provenienzen wurden persönliche Nachlässe und Büroakten gesichtet sowie Zeitzeugen befragt.

Die empirische, politikgeschichtliche Analyse folgt der Chronologie von 1948/49 bis 1961. Das bietet sich an, handelt es sich doch um eine Pionierstudie, doch hätte man sich wie in der vorzüglichen Einleitung einen kategorisierenden, problemorientierteren Zugriff gewünscht, der aus der Überfülle des Materials das Wichtige deutlicher herausfiltert.

Im ersten von vier Hauptkapiteln wird die zweite West-Berliner Währungsreform, offiziell „Währungsergänzungsverordnung“ vom 20. März 1949, als Initialzündung des Grenzgängerwesens identifiziert. Rund 200.000 Pendler in Berlin waren betroffen: Für Westgrenzgänger war es zunächst wirtschaftlich attraktiv, von den günstigeren Lebenshaltungskosten im Osten zu profitieren; Ostgrenzgänger fürchteten dagegen aufgrund des ungünstigen Wechselkurses den Verlust ihrer Kaufkraft (sie erhielten den Lohn in Ost-Währung). Dabei führte die „Teilungsbürokratie“ (S. 62) des Lohnausgleichsverfahrens für Grenzgänger bisweilen zu bemerkenswerten Arbeitsmarkteffekten in den Westsektoren. Dass Regelungslücken ernste politische Konsequenzen nach sich ziehen konnten, zeigten der Streik der Eisenbahnbediensteten im Westen (die Reichsbahn unterlag bis in die 1980er-Jahre hinein der Hoheit Ost-Berlins) und die Auseinandersetzung um die „Währungsgeschädigten“ im Osten.

Ein zweites, umfängliches Kapitel widmet sich dem Spannungsverhältnis zwischen der Westintegration West-Berlins und dem Selbstverständnis des Ostteils als „Hauptstadt der DDR“. Grenzgängern aus dem Osten wurden im Westteil trotz hoher Arbeitslosigkeit materielle Anreize geboten, aber gleichzeitig war man aus Furcht vor politischer Unterwanderung bestrebt, politisch missliebige Personen vom Lohnaustausch auszuschließen. Auf östlicher Seite war man bemüht, die Zahl der Grenzgänger aus dem Westen zu reduzieren, trotz Interesses der SED an „Werktätigen“ aus West-Berlin, insbesondere aus der technischen Intelligenz. Bezeichnenderweise stellte nicht der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 eine Zäsur für das Grenzgängerwesen dar, sondern die überhastete Sowjetisierung des Vorjahres: Im Kontext der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 erfolgten mit der Verwaltungsreform, der Befestigung der Grenzanlagen und der Verkündung „des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus in der DDR“ personelle „Säuberungen“ nicht nur in den staatlichen Administrationen. Die Arbeitsaufnahme von West-Berlinern im Ostteil der Stadt wurde weiter erschwert. In West-Berlin wuchs unterdessen die Arbeitslosenquote, die wirtschaftliche Entwicklung hatte ihren Tiefpunkt erreicht.

Am 17. Juni 1953 richteten die Betriebsparteiorganisationen der SED besonderes Augenmerk auf die Grenzgänger aus West-Berlin. Erst am 9. Juli wurde die Sperrung der Sektorengrenze vollständig aufgehoben. Unter den am Pranger stehenden „Rädelsführern“ des Aufstands, so eine interne Analyse des Reichsbahnausbesserungswerkes „Franz Stenzer“, befanden sich jedoch keine Ostgrenzgänger. Die Volkspolizei schloss aus Äußerungen von Beschäftigten des VEB Fortschritt wie „Wir verpetzen niemand!“, dass das „Klassenbewußtsein unserer Werktätigen unter dem Durchschnitt liege“ (S. 167).

Im dritten Teil der Arbeit wird der restriktive Kurs der SED-Führung in den späten 1950er-Jahren vorgestellt, dem der Senat in West-Berlin eine integrative Grenzgängerpolitik entgegensetzte. Während das Ostgrenzgängerwesen zurückging, war ein Trend in die andere Richtung zu beobachten, der von der SED-Propaganda als „Verrat“ und „Währungsspekulation“ diffamiert wurde. In West-Berlin zog die Konjunktur an, und die Schaufensterfunktion der „Insel“ begann zu wirken. Die Westgrenzgänger wurden „zum Zankapfel und zugleich Indikator der Systemkonkurrenz“ (S. 445). Auch die Schwarzarbeit im Westen blühte, und „Scheuerlappengeschwader“ aus Ost-Berlin begannen West-Berliner Haushaltshilfen zu ersetzen. Die SED reagierte mit Schikanen und Diskriminierungen – und verstärkte damit nur die Tendenz unter den Grenzgängern zur „Republikflucht“.

Die zunehmende wirtschaftliche Prosperität West-Berlins wird im vierten Kapitel durch eine Schilderung der für die Machthaber immer gefährlicheren Krise in der DDR und in Ost-Berlin konterkariert, die schließlich in den Mauerbau und die Abriegelung der „innerdeutschen“ Grenze mündete. Die für ganz Berlin zu verzeichnende Arbeitskräfteverknappung traf den Osten besonders hart. Der Facharbeitermangel war nicht mehr zu kompensieren. In West-Berlin dagegen konnte die bescheidene Zuzugsrate aus Westdeutschland den aufgrund des Wirtschaftsbooms entstehenden Arbeitskräftebedarf nicht decken. Die SED konnte „den allmorgendlichen Zug nach Westen“ (S. 450) nicht aufhalten und suchte ihr Heil in der kompletten Abriegelung, die in der Nacht zum 13. August 1961 begann. Noch in den ersten drei August-Wochen waren fast 9.000 der zu jener Zeit rund 60.000 Westgrenzgänger „republikflüchtig“ (S. 363) geworden. Die Fortentwicklung der offenen, regionalen Systemkonkurrenz wurde für die Machthaber in Ost-Berlin zum existentiellen Problem. Insofern war die Beseitigung der „Gesamtberliner Freizügigkeit“ vor allem eine „Konsequenz der Niederlage der SED in dieser für sie problematischen Form der Systemkonkurrenz“ (S. 452).

Inwieweit war das Grenzgängerphänomen ein Entwicklungsfaktor und zugleich ein Spiegel des jeweiligen politischen Systems? Roggenbuch formuliert eine klare Antwort, indem er seine These von der Verflechtungsambivalenz zuspitzt: Die funktionale Wirkungsambivalenz städtisch-regionaler Verflechtungen im Großraum Berlin lässt sich als Gradmesser des Zustands der Beziehungen im geteilten Deutschland verstehen und trägt erheblich zum Verständnis der „Spaltungsgesellschaft“ (S. 27) bei.

Die Studie ist geradezu ein Musterbeispiel für das Verständnis einer gemeinsamen deutschen Nachkriegsgeschichte, die im Topos von der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ (Christoph Kleßmann) seine wissenschaftliche Ausformung erfahren hat. Roggenbuchs sorgfältiger Versuch zur Historisierung des Kalten Kriegs in Berlin und im regionalen Umfeld kommt das große Verdienst zu, anhand eines recht eng zu fassenden Problemfeldes dieses Postulat „durchdekliniert“ zu haben. Dabei weisen seine Befunde weit über die engere Stadtgeschichte hinaus. Die Veröffentlichung in der Reihe der Historischen Kommission zu Berlin ist eine Ehre, sollte jedoch nicht den Blick für die große, über Berlin hinausweisende Relevanz des Themas und der Forschungsergebnisse verstellen.

Gleichwohl hätte der Studie eine straffere Darstellung gut getan; eine „kondensierte“ Veröffentlichung der Forschungsergebnisse wäre wünschenswert. Eine Reihe von Stilblüten wäre zu vermeiden gewesen, etwa modische Charakterisierungen wie „vollumfänglich immanent“ (S. 7) oder schiefe Metaphern wie die von der „weiter aufklaffenden Schere“ (S. 15, S. 450) beider Stadtteile.

Das politisch aufgeladene Thema „Grenzgänger“ war vor der Zeitenwende 1989/90 kaum vorurteilsfrei kontextualisierbar. Nun sind die Quellen dieser Streitgeschichte verfügbar, und Roggenbuch präsentiert seine Auswertungsergebnisse zumeist in wohltuender Objektivität. Mehrfach verweist Roggenbuch auf die Arbeiten von Jörn Schütrumpf, der sich vor 1989 als einziger „Ost-Autor“ dem Thema gewidmet hat; hier hätte sich eine Zeitzeugenbefragung angeboten.

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