G. Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder

Paul, Gerhard (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1949 bis heute. Göttingen 2008 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-30012-1 798 S., ca. 500 Abb. € 39,90

Paul, Gerhard (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1900 bis 1949. Göttingen 2009 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-30011-4 822 S., ca. 500 Abb. € 39,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Ullrich, Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe

Eigentlich wundert man sich, dass es einen Bildatlas in der Art, wie ihn Gerhard Paul in zwei Bänden vorgelegt hat, nicht schon längst gab. Zwar ist seit rund fünfzehn Jahren allenthalben die Rede davon, wie wichtig Bilder im Verlauf des 20. Jahrhunderts als Träger, Vermittler und Gestalter von Kultur geworden seien, doch verzichteten vergleichbar große Projekte der Gedächtnisforschung, etwa die drei Bände der „Deutschen Erinnerungsorte“, nicht nur weitgehend auf Abbildungen, sondern versäumten auch eine Analyse der verschiedenen Medien, die bei der Konstitution eines Kanons historisch bedeutsamer Ereignisse eine Rolle spielen. Nun aber hat sich endlich jemand an die Vermessung des kollektiven Bildgedächtnisses gemacht, wie es sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte. Und um es vorwegzunehmen: Das Ergebnis ist insgesamt überzeugend.

Am stärksten erscheint Pauls Konzept da, wo man am ehesten Beliebigkeit befürchtet hätte. So geht der in Flensburg lehrende Historiker von einem sehr weiten Kulturbegriff aus, der Grenzen zwischen ‚high’ und ‚low’ nicht anerkennt. Statt sich also auf Werke der Bildenden Kunst oder Klassiker des Fotojournalismus zu beschränken, die von Schriftstellern oder Künstlern bereits adaptiert wurden, weitet er den Blick und bezieht ebenso politische Plakate und Karikaturen ein, aber auch Beispiele aus der Werbung, dem Film und virtuellen Welten. Und nicht nur das. Einige der insgesamt rund 180 Beiträge (von rund 160 verschiedenen Autor/innen!) widmen sich weniger einem einzelnen bereits berühmten Bild als vielmehr Bildtypen, die für ein Medium oder eine Zeit besonders signifikant sind: Bildern in Sammelalben, der Polizeifotografie und ihren Verbrecherbildern oder auch Handy-Fotos, wie sie etwa bei den U-Bahn-Anschlägen in London 2005 in Umlauf kamen. Und selbst für viele moderne Fotos typische Effekte wie die Unschärfe werden eigens behandelt. Damit bleiben keine wichtigen Felder des Bildgedächtnisses ausgespart, und gerade die große Abwechslung in der Abfolge der Beiträge macht eindrucksvoll bewusst, wie divers die Quellen und Einflüsse sind, aus denen kulturelle Identität sich speist.

Wer die beiden Bände durchblättert, wird aber nicht nur Bekanntes wiederfinden. Lernen ehemalige West- und Ostdeutsche nachträglich noch etwas über die Bildwelten der jeweils anderen Hälfte des Nachkriegsdeutschlands, so dürften für viele Leserinnen und Leser auch Farbfotos aus dem Ersten Weltkrieg oder Bilder des Völkermords in Armenien – beides jeweils in eigenen Beiträgen behandelt – neu sein. Und wer weiß heute noch, mit welchen Ikonografien die Sozialdemokraten im Kaiserreich ihre Maifeiern inszenierten? Vielleicht wäre es produktiv gewesen, den Bildatlas nicht nur chronologisch nach Entstehungszeiten der Bilder oder ihrer Bezugsereignisse anzuordnen, sondern auch danach zu differenzieren, wann, wie lange und für welche gesellschaftlichen Milieus ein Bildsujet besonders prägend war. Erst dann ließe sich auch die Geschichte des Bildgedächtnisses rekonstruieren sowie erörtern, welche Bilder nur regional, eher national oder gar global von Bedeutung sind. (Man braucht lediglich an einem Jahresende zu vergleichen, was verschiedene Zeitschriften in nur einem Land, aber erst recht in verschiedenen Kulturkreisen als „Bilder des Jahres“ identifizieren, um zu erahnen, wie uneinheitlich das ist, was jeweils ins Bildgedächtnis ‚eingeklopft’ wird.) Und ebenso könnte man dann überprüfen, ob Bilder im Verlauf der letzten 100 Jahre tatsächlich immer mehr an Bedeutung gewonnen haben.

Manchmal scheint Paul ihnen jedenfalls eine noch größere Rolle zuzusprechen, als sie tatsächlich besaßen. So war das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1954 noch kein kollektives Fernseherlebnis, wie suggeriert wird, sondern wurde von ungleich mehr Menschen an den Radioapparaten verfolgt. Und auch vor metaphysischen Aufladungen seines Bildkonzepts scheut der Herausgeber – ebenso wie viele andere Akteure der Bildwissenschaften – leider nicht zurück. So spricht er in der Einleitung von ikonografischen „Archetypen“, die nicht nur vermeintlich immer wiederkehren, sondern mit denen er auch den durchschlagenden Erfolg bestimmter Bilder erklären zu können glaubt. Das Foto des sterbenden Benno Ohnesorg, über den sich eine Studentin helfend beugt, konnte also, folgt man Paul, nur deshalb so berühmt werden, weil es dem Schema christlicher Pietà-Darstellungen entspricht. Zwar verwendet er nicht den Begriff der Pathosformel, aber dennoch scheint Paul hier von Aby Warburg geleitet zu sein. Doch ist nicht nur die Annahme gleichsam eingeborener oder epochenübergreifend tradierter Bildmuster zu spekulativ, um wissenschaftlich haltbar zu sein; vielmehr vernachlässigt man dabei auch andere – profanere – Faktoren, die für die Karriere einzelner Bilder relevant sein können. So setzen sich manche Bilder gegenüber anderen einfach deshalb durch, weil sie besser vertrieben werden, so dass es bei ihnen leichter ist, an Reproduktionsrechte und -vorlagen zu kommen. Und ist ein Bild erst einmal in einem Leitmedium publiziert, hat es höhere Chancen, immer wieder gedruckt zu werden, während ein vielleicht sogar prägnanteres oder spektakuläreres Bild desselben Ereignisses keine weitere Aufmerksamkeit erhält, nur weil es an einem weniger bedeutenden Ort veröffentlicht wurde.

So gewissenhaft viele Beiträge auf die Wirkungsgeschichte einzelner Bilder eingehen, so wenig reflektieren sie ökonomische oder logistische Dimensionen von deren Erfolg. Doch wiegen solche Mängel gering gegenüber den Verdiensten des Sammelwerkes – und gegenüber den Perspektiven, die es eröffnet. So bricht Paul mit der sonst üblichen Praxis, das Bildgedächtnis nur als Summe von Einzelbildern zu begreifen – Medienikonen, Schlagbildern, Schlüsselbildern. Vielmehr erkennt er ebenso den Stellenwert von „ikonischen Bildclustern“ an, reflektiert also, dass sich Ereignisse wie die Ermordung Kennedys oder der 11. September 2001 nicht etwa als ein verbindliches Bild in das Gedächtnis eingebrannt haben, sondern jeweils mit verschiedenen Filmausschnitten, Bildsequenzen und Einzeleinstellungen repräsentiert werden. War die Orientierung am Einzelbild noch dem aus der Kunstgeschichte stammenden Konzept des Meisterwerks verpflichtet, so bietet Pauls Bildatlas den ersten Versuch, die Bedeutung von Bildlichkeit im Ganzen für Genese und Funktionieren des kulturellen Gedächtnisses auszuloten.