V. Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft

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Titel
Geschichte der Sexualwissenschaft.


Autor(en)
Sigusch, Volkmar
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter C. Pohl, Universität Bremen

Wer sich an das gremiensichere Deutsch wissenschaftlicher Antrags- und Aufsatzprosa gewöhnt hat (oder gewöhnen musste), wundert sich. Der emeritierte Professor der Sexualwissenschaft Volkmar Sigusch stellt die Geschichte der Sexualwissenschaft in einer Weise dar, die von den einen sicherlich vorschnell als diskursives Relikt der 68er abgetan, von den anderen als wohltuende Erinnerung an die Möglichkeit kritischer Wissenschaft angenommen werden wird. Ob „mannfrau“ darüber verärgert oder erleichtert ist, sei dem/der Einzelnen überlassen. In jedem Fall gehen persönliches Engagement und überragendes Fachwissen, subjektive Einsichtnahme und Materialsättigung, Verständnis für die Akteure der Sexualwissenschaften und kritische Distanzierung, Eloge und Demystifikation in diesem Werk eine anregende Verbindung ein. Siguschs subjektive Objektivität kann als Beispiel und Kennzeichen kritischer Sexualwissenschaft gelten (S. 510). Sie macht aus der Lektüre des umfangreichen Buchs eine aufrüttelnde Erfahrung. Denn sie zwingt dazu, den gegenwärtigen (und nicht allein wissenschaftlichen) Umgang mit der körperlichen Liebe aus den Versprechungen, Verdrängungen und Verfehlungen der mit ihrer Erforschung betrauten Wissenschaft neu verstehen zu lernen. Insofern ist die Geschichte der Sexualwissenschaft ein sozial- und sittengeschichtliches Unternehmen ersten Ranges und von höchster Aktualität.

Die Arbeit selbst ist in drei Hauptbereiche untergliedert. Sie umfassen circa 160 Jahre von den Anfängen (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) über die Blüte der Sexualwissenschaft (im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts) bis zu ihrem Wiederbeginn und ihrer Gegenwart in Deutschland nach 1945. Mit über 200 Abbildungen ist das Werk leserfreundlich gestaltet und lädt ebenso zum vertieften Studium einzelner Passagen wie zum vergleichenden Blättern zwischen Angaben beispielsweise zu Personen, Zeiten und Denkweisen ein. Es bietet infolgedessen reichlich Anknüpfpunkte für kulturwissenschaftliche Fragestellungen, sei es im Hinblick auf epistemologische, sei es mit Bezug auf soziokulturelle oder politische Veränderungen. Der Vergleich von BRD und DDR sei dabei gesondert hervorgehoben. Einleitend werden erkenntnistheoretische Grundlagen der Moderne, Kurzbiografien ausgewählter sexualwissenschaftlicher Pioniere sowie erste Organisationen und Periodika genannt. Danach widmet sich Sigusch in längeren Unterkapiteln Paolo Mantegazza, Karl Heinrich Ulrichs, Heinrich Kaan und Richard von Krafft-Ebing. Neben instruktiven und kritischen Zusammenfassungen erleichtern übersichtliche Informationstafeln und illustrative Fundstücke aus Archiven, Privatdokumenten und Populärkultur den Zugang.

Den weitesten Raum nimmt der zweite Abschnitt Von der Blüte bis zur Zerstörung durch die Nazis ein. In ihm bespricht Sigusch auf nahezu 200 Seiten relevante Schriften und fasst Lebensläufe bedeutender Sexualwissenschaftler des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zusammen. Durch seine Sammlung der Nachlässe emigrierter oder ermordeter jüdischer Sexualforscher entsteht ein facettenreiches Bild der Blütezeit. Überdies kommentiert der Autor die Entstehung moderner Sexualwissenschaft in Kontakt mit und im Kontrast zur Sexualreform, der Mutterrechtsbewegung und der Psychoanalyse. Ergreifend sind die Materialien, die er im 16. Kapitel Die Zerstörung des ersten Instituts für Sexualwissenschaft durch die Nazis (S. 365-370) zusammengetragen hat. Spannend ist es ferner, wie der Sexualforscher die biologistischen Grundannahmen und eugenischen Verfehlungen der Sexualwissenschaft offen aufarbeitet. Er verteidigt Magnus Hirschfeld gegen seine Liebhaber wie gegen seine Verächter: Die hagiographischen Tendenzen der Hirschfeld-Renaissance der 1980er-Jahre werden relativiert, und zugleich wird der Vorwurf entkräftet, Hirschfeld sei ein, wenn nicht der Vordenker des nationalsozialistischen Tötung unwerten Lebens gewesen.

Im letzten historischen Abschnitt, der die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart umfasst, thematisiert der Autor zunächst die ersten institutionellen Gehversuche der Sexualwissenschaft. Besonderes Augenmerk liegt auf der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS). An ihrem Verlauf werden konzise Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Nachkriegszeit, wie die anfangs fehlende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit Hans Bürger-Prinz’, des ersten Präsidenten der DGfS, erörtert. Zudem fasst Sigusch die öffentlichen Erklärungen und Eingaben der DGfS zusammen. Im darauffolgenden Kapitel schildert er die Gründung des sexualwissenschaftlichen Instituts in Frankfurt am Main sowie weitere institutionelle Neuerungen. Nach Kurzdarstellungen einzelner Publikationen der kritischen Sexualmedizin und einer Zusammenfassung der Anfänge der verstehenden Sexualforensik – mit einer emphatischen Würdigung der Person und des Werks Eberhard Schorschs – ist ein lesenswertes Resümee der Geschichte der Sexualwissenschaft in der DDR aufgeführt, das Günter Grau verfasst hat. Abschließend skizziert wiederum Sigusch den Standort kritischer Sexualwissenschaft „am Ende des 20. Jahrhunderts“ (S. 510).

Volkmar Sigusch hat die im Zuge seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft in Frankfurt am Main gewonnene Fülle an Materialien und seine einzigartigen Kenntnisse der diskursiven Komplexität und der praktisch-institutionellen Aspekte der Sexualwissenschaft zu einer spannenden und provozierenden Gesamtschau zusammengetragen. Gerade aufgrund seines flammenden Appells für eine kritische Sexualwissenschaft, wie er sie am Ende des Buches umreißt, ist die Geschichte der Sexualwissenschaft nicht nur ein kontemplatives Vergnügen. Sie reizt zum Überdenken des Forschungsalltags an und evoziert die Frage nach der Gegenwart kritischer Forschung. So ist sein abschließendes Veto für eine Solidarität „mit dem Aufstand der Geschlechts- und Sexualperversen“ (S. 528) eine eindringliche Mahnung – zumal im interdisziplinären Kontext. Gerade in den Kulturwissenschaften hat das akademisierte Sprechen über die Sexualität – bisweilen – die Zwecke der Aufklärung über die noch anhaltenden gesellschaftlichen Repressionen und der politischen Emanzipation sogenannter Devianter eingebüßt. Die Waffe der Subversion ist in ihrem ubiquitären Einsatz längst stumpf geworden.

Kritik? Ja, und sie herauszufordern, ist sicherlich eine Intention des Autors. Dass Sigusch den Marquis de Sade zu „ein[em] vorzeitig[en] postmoderne[n] Provokateur“ (S. 515) avancieren lässt, wobei seine Qualitäten in der Vorwegnahme operativer Eingriffe sowie einer Totalbefriedigung der Libertins lägen, vermittelt einen, gelinde gesagt, vereinfachten Begriff von Postmoderne. Postmodern, ist zu hören, sei „die bis heute anhaltende[] Ungleichbehandlung der Geschlechter“ (ebd.). Postmodern sind überdies, natürlich, die USA. Wer, wie der Verfasser der Rezension, sich als postmodernen Geschlechterforscher bezeichnet, sieht sich hier um den Ertrag kritischer Aufarbeitung über die Pluralität agonaler Sprachspiele und sexueller Verhaltensweisen mit den Mitteln postmoderner Theorie gebracht. Postmoderne, mit Lyotard und Welsch als ausgehaltene Pluralität gedacht, ist im Bereich des Sexuellen ganz sicherlich nicht maskulin reduzierte Triebbetätigung à la de Sade. Wer seine Gegner, repressive bürgerliche Sexualmoral und postmodernen Individualismus, mit so ungleicher Sensibilität aufbaut und mit so gleicher Intensität in die Schranken weist, verschaltet sich gehörig im ideologiekritischen Getriebe.

Diese unzulässigen Vereinfachungen dessen, was mit Manfred Frank unter dem Rubrum Neostrukturalismus (Lyotard und Derrida) in einen Topf geworfen wird, kuvrieren die Konvergenzen und verunmöglichen offenkundige referenzielle Verstärkungen. Die Logozentrismus-Kritik, die Sigusch in seinem abschließenden Kapitel mit der Undefinierbarkeit des Sexuellen anschlägt – das Sexuelle könnte nicht intelligibel gemacht werden –, gerät angesichts seiner polemischen Ablehnung der Dekonstruktion zum argumentativen Bumerang. Wenn ein methodischer Umgang mit dem Unsagbaren und Unlogischen irgendwo kultiviert wurde, dann sicherlich in der poststrukturalistischen Denktradition. Merkwürdig inkonsequent ist es, wenn Sigusch auf seiner Postmoderne-Polemik im Zeichen de Sades eine Eloge auf das Queer Thinking (S. 535-538) folgen lässt, in der er mit Judith Butler und Theresa de Lauretis Forscherinnen nennt, die das poststrukturalistische Erbe bewusst und kritisch angenommen haben. Der Wunsch, dass „Queer Theory und kritische Sexualwissenschaft [...] die bestehenden Distanzen überwinden, aufeinander zugehen und voneinander lernen [sollten]“ (S. 538), wirkt angesichts einer zum Punchingball der Ideologiekritik verkommenen Vorstellung von Postmoderne ein wenig aufgesetzt.

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