Titel
Franz Joseph I.. Der Kaiser und sein Reich. Eine politische Geschichte


Autor(en)
Höbelt, Lothar
Erschienen
Anzahl Seiten
171 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Schmid, Historisches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Eine politische Geschichte der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und 1918 auf 160 Seiten Text? Bereits im Vorwort macht Lothar Höbelt klar, dass es sich hierbei nur um eine „Skizze“ handeln kann, die zudem einen ganz bestimmten Fokus wählt, einen „funktionalistischen“, wie er ihn nennt, dessen Leitfrage lautet: „Wie hat dieses Reich funktioniert“, dessen zentrales Problem sein „Charakter als Vielvölkerstaat“ war (S. VII).

Dieser Schwerpunkt relativiert den breiten Rahmen, den der Titel des Buches aufspannt: ‚Politik’ meint hier vornehmlich Innenpolitik, genauer: Regierungs- und Parlamentspolitik, mit einem deutlichen Übergewicht des cisleithanischen Teils des Habsburgerreichs. Beides ergibt sich aus dem bisherigen Forschungsschwerpunkt Höbelts.

Das Jahr 1848 – mit dem ‚Völkerfrühling’ und der Thronbesteigung Franz Josephs als zwei der wichtigsten Parameter, die die Geschichte der Monarchie in der Folgezeit bestimmen sollten – bildet den Ausgangspunkt der Darstellung. Höbelt nutzt diesen für einen grundsätzlichen Problemaufriss: Die politischen ‚cleavages’ Nation, Religion und Klasse – ein Konzept der Wählerforschung der 1960er-Jahre –, die sich überall in Europa ausbildeten, lagen in der Habsburgermonarchie besonders kompliziert. Die große Aufgabe der Politik in der Monarchie habe daher in der Erhaltung einer Balance der „wohltemperierte[n] Unzufriedenheit“ (S. 5) aller Gruppen durch den Monarchen persönlich gelegen, der darin durch Bürokratie, Hof und Armee unterstützt wurde. Für Höbelt ist dies „das Geheimnis der Regierungskunst Franz Josephs“ (S. 5). Der Zeit des Neoabsolutismus schreibt Höbelt einen „opportunistische[n] Charakter“ zu: Auch ein absolutistisches System benötige die Unterstützung zumindest eines Teils der gesellschaftlichen Eliten. Das Fehlen einer konservativen Partei habe daher zu einer kaiserlichen Politik geführt, die sich auf „die Kräfte [stützte], die einen gerade unterstützen wollten“ (S. 17).

Der multinationale Charakter der Monarchie verband die österreichische Innen- und Außenpolitik. Die zumindest latente Gefahr, dass die dies- und jenseits der Staatsgrenzen lebenden Nationalitäten eine politische Vereinigung anstreben könnten, betraf auch das Verhältnis zu den Nachbarstaaten (Deutscher Bund, Italien, Balkan). Der politische Sprengsatz lag, so Höbelt, in der „Kombination von nationaler Bewegung und Großmachtrivalität“ (S. 30). Die, wenn auch wenig erfolgreiche, Klärung der Verhältnisse in Italien und Deutschland sowie das imperialistische Engagement der europäischen Mächte in Übersee habe aber schließlich der von kolonialen Ambitionen freien Doppelmonarchie seit 1889 eine „willkommene“ außenpolitische „Atempause“ von beinahe 20 Jahren beschert (S. 42).

Die Verfassungsreformen der 1850/60er-Jahre interpretiert Höbelt als eine Reaktion der „unmittelbaren Krisenbewältigung“ (S. 44) im Gefolge der Niederlage von Solferino, die den Haushalt belastet hatte: Zur Finanzierung der Armee war eine liberale Finanzpolitik notwendig, das Kapital aber war konstitutionell und so fanden sich Liberale, Militär und Kaiser zu einer Interessengemeinschaft zusammen. Die Magyaren, die den seit 1861 wieder einberufenen Reichsrat boykottierten, erhielten schließlich nach Verhandlungen ein eigenes Parlament und Ministerium. Während die Zweiteilung der Monarchie und die Selbstdefinition des transleithanischen Reichsteils als Quasi-Nationalstaat meist kritisch betrachtet werden, kommt Höbelt aus seiner funktionalistischen Perspektive zu einem anderen Ergebnis: Zwar war auf parlamentarischer Ebene die Reichseinheit zerbrochen, sie war aber insgesamt gestärkt worden, da die Bereiche Außenpolitik und Militär de facto dem Einfluss der Parlamente entzogen waren (S. 62). Die im Raum stehende Forderung eines ‚böhmischen Ausgleichs’, generell als einer der belastenden Faktoren der Doppelmonarchie bewertet, dient Höbelt als Beispiel „altösterreichische[r] Regierungskunst“: Nicht auf staatsrechtlichem, dafür aber auf informellem Weg, in der „bemerkenswerte[n] Flexibilität in der Handhabung der Vorschriften“ (S. 70) in der alltäglichen Verwaltungspraxis sei das Problem pragmatisch ‚gelöst’ worden.

Charakteristikum des cisleithanischen Parteiensystems der 1870/80er-Jahre ist für Höbelt seine Asymmetrie: weltanschauliche Differenzierungen, vor allem die ‚cleavage’ klerikal–antiklerikal, schlugen sich zunächst nur bei den (Alpen-)Deutschen politisch nieder. Erst mit der Einführung des allgemeinen, gleichen Männerwahlrechts 1906 erfuhr die gesellschaftliche Ausdifferenzierung bei den Slawen ihre politische Repräsentation (S. 111). Auch die Nationalisierung deutscher Politik in Österreich, die mit der Abkehr vom Selbstverständnis als ‚Staatsvolk’ zusammenhing und nationale Einheit predigte, bewirkte in der Praxis die weitere Ausdifferenzierung des deutschen Parteienspektrums. Für das Funktionieren des politischen Systems seien die nationalistischen Parteien allerdings kein Hindernis gewesen: „[I]hr nationaler Egoismus förderte […] letztendlich einen sehr pragmatischen Zugang zu allen Machtfragen“ (S. 84). Politisch ausgleichend konnte die Wirtschaftspolitik wirken: Sozioökonomische Trennlinien kreuzten oft nationale Gegensätze und halfen daher – durch den Aufbau von ‚cross-cutting cleavages’ – diese zu relativieren (S. 102).

Die Badenikrise 1897 mit der Etablierung der Obstruktion als politischem Instrument der Parlamentarier sowie parlamentsunabhängiger Ministerregierungen wird oft als Zusammenbruch des politischen Systems in Cisleithanien bewertet. Nicht so von Höbelt: Er erkennt darin vielmehr die Entwicklung einer Regierungsform, die auf die spezifischen Bedingungen des Vielvölkerstaats abgestimmt war. Die Gewaltenteilung von Exekutive – Franz Joseph und die ihm verpflichteten Regierungen – und Legislative – der Reichsrat – habe ihre „Entsprechung im Gegensatzpaar von Staat und Nation“ gefunden (S. 108). Die Obstruktion wurde „als ein ‚nationales Veto’“ in das politische System integriert (S. 113). Da bereits 20 Abgeordnete die Parlamentsarbeit lahm legen konnten, musste von Regierungsseite, die langfristig nicht allein mit dem Notverordnungsparagraphen 14 regieren konnte, eine ‚doppelte Majorität’ – eine ‚Arbeitsmajorität’, ergänzt durch eine möglichst große ‚Toleranzmajorität’ – angestrebt werden.1 Das Resultat, so Höbelt, „war eine Mischung aus Konkordanzdemokratie und autoritärem Regiment“ (S. 114).

Die Geschichte des transleithanischen Reichsteils ist für Höbelt, entgegen kritischer Stimmen der Forschung, die die politische und gesellschaftliche Unterdrückung der nichtmagyarischen Nationalitäten – selbst 1910 immerhin 45,5 Prozent der Bevölkerung, im Parlament durch acht von 413 Abgeordnete vertreten – betonen, eine „Erfolgsgeschichte der Franz-Joseph-Ära“ (S. 119), die Nationalitätenfrage wird dabei weitgehend ausgeblendet (auch im Anhang befindet sich lediglich eine Umgangssprachenstatistik Cisleithaniens). Die sich seit 1905 intensivierenden Beziehungen der politischen Vertreter der Slowenen, Kroaten und Serben beider Reichsteile, deren Zukunftsvisionen sich zwischen der trialistischen Option und einem unabhängigen südslawischen Staat bewegten, bewertet Höbelt als „ein sehr vorübergehendes Phänomen“ (S. 135). An der Überschätzung der südslawischen Irredenta wie allgemein des Nationalismus sei die Monarchie letztlich gescheitert (S. 137, 158).

Die Bedeutung des Krieges sieht Höbelt, wie etwa auch Gary Cohen, vor allem in der „explosionsartigen Ausdehnung der Staatstätigkeit“ (S. 156), die die Parameter des politischen Systems verschob. Waren in der Vorkriegszeit der Durchdringungskraft des Zentralstaats Grenzen gesetzt und mit der autonomen Selbstverwaltung, die nicht zuletzt für den wachsenden Bereich der Wohlfahrtspflege zuständig war, ein starkes Gegengewicht gegeben, verschärften sich nun, mit der Stärkung des zentralistisch-autoritären Moments, auch die nationalen Spannungen. Zuvor war Österreich-Ungarn, so Höbelt an anderer Stelle, „kein Reich, das am Vorabend seiner Auflösung stand.“2

Hier reiht sich Höbelt in die wachsende Gruppe derer ein, die, entgegen dem verbreiteten Bild der Donaumonarchie als ‚Völkerkerker’, mit unterschiedlicher Akzentuierung vielmehr deren politisches und gesellschaftliches Potenzial hervorheben.3 Den Post-1918-Nationalstaaten, in denen sich das „totalitäre Potenzial“ (S. 154) des Zusammenfalls von Staat und Nation entfalten konnte, stellt er, zumindest für den cisleithanischen Teil der Monarchie, ein komplexes und flexibles System der Gewaltenteilung zwischen autoritärer Bürokratie, anti-liberalen Massenbewegungen und anti-demokratischen Liberalen gegenüber, das er mit dem amerikanischen System der ‚checks and balances’ vergleicht (S. 153f.). Die Frage, ob sich aus diesem politischen System der ‚wohltemperierten Unzufriedenheit’ Lehren für die Gegenwart, etwa für das vereinte Europa, ziehen lassen, will Höbelt nicht beantworten.

Mit diesem Werk legt Höbelt in erster Linie eine knappe Zusammenfassung seiner – zum Großteil an anderer Stelle ausführlicher behandelten – Thesen zum Funktionieren des Regierungssystems des multinationalen Österreichs vor. Als Einführung in die Geschichte des Habsburgerreichs ist es aufgrund seines speziellen Fokus’ und der zum Teil sehr skizzenhaften Darstellung, die Vorwissen voraussetzt, wohl weniger geeignet. Wer dieses allerdings mitbringt und an Wortspielereien sowie den rhetorischen Figuren des Parallelismus und des Chiasmus Freude hat, wird mit einer nicht mehr neuen, aber immer noch interessanten Perspektive auf die ‚altösterreichische Regierungskunst’ belohnt.

Anmerkungen:
1 Ausführlicher hierzu Lothar Höbelt, Parliamentary Politics in a Multinational Setting. Late Imperial Austria (Working Papers in Austrian Studies 92/6), Minneapolis 1992.
2 Lothar Höbelt, „Wohltemperierte Unzufriedenheit”. Österreichische Innenpolitik 1908-1918, in: Marc Cornwall (Hrsg.), Die letzten Jahre der Donaumonarchie. Der erste Vielvölkerstaat im Europa des frühen 20. Jahrhunderts, Essen 2004, S. 58-84, hier S. 83.
3 Siehe z. B. Gary B. Cohen, Nationalist Politics and the Dynamics of State and Civil Society in the Habsburg Monarchy, 1867-1914, in: Central European History 40 (2007), S. 241-278, dessen Fokus auf der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Elemente liegt.

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