A. Kraus u.a. (Hrsg.): Europäische Aufklärung jenseits der Zentren

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Titel
Orte eigener Vernunft. Europäische Aufklärung jenseits der Zentren


Herausgeber
Kraus, Alexander; Renner, Andreas
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
228 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sünne Juterczenka, International Graduate Centre for the Study of Culture, Justus-Liebig-Universität Giessen

"Was ist Aufklärung?" Bisher konnte niemand die berühmte Preisfrage von 1783 letztgültig beantworten – stattdessen zeichnet sich heute ab, dass sie möglicherweise falsch gestellt war. Über viele programmatische Ziele, geographische Zentren und Protagonisten ist man sich einig. Die Einsicht in den Prozesscharakter der Aufklärung lässt es indessen kaum mehr zu, sie definitorisch dingfest zu machen. Auch die Vielfalt verhandelter Themen, die räumliche Ausdehnung und die soziale Reichweite haben im Bewusstsein der Forschung stetig zugenommen; Aufklärungen erscheinen nun häufig im Plural.

Hier reiht sich auch der vorliegende Sammelband mit Beiträgen einer Arbeitsgruppe der Universität zu Köln ein. Er wirft einen rezeptionsorientierten Blick auf die "Aufklärungen zweiter Ordnung" (S. 11) abseits der zentraleuropäischen Metropolen. Dabei konzentriert er sich auf dort besonders virulente Themen, die nicht den Mittelpunkt aufgeklärter Debatten in Paris oder Edinburgh bildeten, etwa die spezifische Problematik der Leibeigenschaft in Russland, Polen und im Baltikum. Dahinter steht die Absicht, das "Bild von der Aufklärung zu dezentralisieren" (S. 16). Anstelle der Defizite möchten die Herausgeber die regionale Eigendynamik betonen, welche die Aufklärungen an den Peripherien entwickelten.

Die Herausforderungen eines so breit angelegten Vorhabens liegen auf der Hand. Der Band behandelt Spanien und seine Kolonien, Nordamerika, Irland, die skandinavischen Länder, das Baltikum (Livland, Estland und Kurland), Russland und Polen. Hinzu kommen die jüdische Aufklärung (haśkalah) in Osteuropa und "Aufklärungstransfers" in das Osmanische Reich. Die Herausgeber bedauern einerseits die notwendige geographische Beschränkung, namentlich das Fehlen Italiens; zu ergänzen wäre zum Beispiel auch Ungarn.1 Da die Wirkungsgeschichte der Aufklärung andererseits besonders an den Peripherien die Zäsur von 1789 deutlich überdauerte, greifen manche Beiträge chronologisch bis ins 20. Jahrhundert aus.

Die einzelnen Beiträge bringt der Band in einen Zusammenhang, indem er transnationalen Verflechtungen besondere Aufmerksamkeit widmet. Persönlichkeiten wie Benjamin Franklin, aber auch weniger prominente irische Philosophen, schwedische Diplomaten und baltische Buchhändler engagierten sich in grenzübergreifenden Netzwerken. Sie erweisen sich dabei als eigenständige Akteure: Durch Übersetzungen und Aneignungen der Debatten und Diskurse behaupteten sie sich als Kommunikationspartner im Dialog mit den Zentren der Aufklärung. Der Stellenwert dieser "Importeure" (S. 21) wird weniger für die Epoche insgesamt als für die jeweils betroffenen Regionen gewürdigt. Dabei geraten Eigenheiten in den Blick, die bisweilen als Motor der Selbstaufklärung fungierten (etwa das irische Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber dem britischen Empire). Trotz aller Heterogenität und zahlreicher Ambivalenzen – auch innerhalb der untersuchten Gebiete – setzt der Band zwei Gemeinsamkeiten voraus: den Glauben an die "vernunftgeleitete Optimierbarkeit der Welt" (S. 26) und die Tatsache, dass Aufklärung hier nicht zuletzt als Reaktion auf die eigene Randständigkeit verstanden werden kann.

Einen thematischen Schwerpunkt bilden die verschiedenen Trägergruppen der Aufklärung. So hinterfragt Antonio Sáez-Arance mit der neueren Forschung eine Behauptung der älteren spanischen Historiographie, derzufolge seit 1700 alle Reformbestrebungen von den bourbonischen Herrschern ausgegangen seien. Für Russland hingegen betont Andreas Renner den Zusammenhang zwischen aufklärerischen Ideen als Mittel der Selbstdarstellung autokratischer Herrschaft und dem machtpolitischen Aufstieg des Zarenreichs. Dort seien der "Impuls von oben" (S. 131) und die Instrumentalisierung der Aufklärung durch traditionelle Eliten charakteristisch. Kontrastierend unterstreicht Michael Lenz die egalitäre Gesellschaftsstruktur in Nordamerika, die eine scharfe Trennung zwischen Aufklärern und Aufgeklärten gar nicht zugelassen habe.

Besonderes Augenmerk gilt dem komplexen Verhältnis zwischen Aufklärung und Religion, das die Forschung immer seltener als reinen Antagonismus begreift; auch der vorliegende Band betont eher Verknüpfungen und Wechselwirkungen. So bezeichnet Michael Lenz die Religionsfreiheit als wichtige Errungenschaft, unterstreicht aber gleichzeitig, dass sich die nordamerikanische Aufklärung nicht in Opposition zur Religion entwickelt habe. Vielmehr habe die Religion in Verbindung mit dem Tugendideal eine zentrale Rolle in der Politik gespielt. Roland Cvetkovski hebt hervor, dass im Osmanischen Reich eine Trennung zwischen Islam, Staat und Gesellschaft gar nicht denkbar gewesen sei und die Aufklärung daher auch nicht als Gegenbewegung zur Religion gefasst werden könne. Das Fehlen eines ausgeprägten Antiklerikalismus in Irland führt Frank Wolff sogar zu der Feststellung, der "französische Radikalismus" müsse eigentlich als "Sonderfall" (S. 74) gelten.

Wie ein roter Faden durchzieht den Band die Frage, inwiefern die einzelnen Länder jeweils eigene Aufklärungen hervorbrachten, und sie wird höchst differenziert beantwortet. Während Michael Lenz eine solche spezifische Ausprägung für Nordamerika nachdrücklich beansprucht, spricht Frank Wolff verhaltener von einer irischen Aufklärung. Im europäischen Vergleich habe diese zwar eher bescheiden angemutet, aber dennoch die irische Geschichte "maßgeblich" bestimmt (S. 84). Alexander Kraus begegnet der These eines skandinavischen "Sonderwegs" skeptisch und unterstreicht stattdessen die Offenheit für Einflüsse von außen. Birte Kohtz betont gegenüber der oft kritisierten Allianz baltischer Aufklärer mit der russischen Autokratie die langfristig emanzipatorische Wirkung aufklärerischer Ideen im Baltikum. Andreas Renner kommt zu dem Schluss, man könne nicht von einer russischen Aufklärung, sondern müsse eigentlich von "Aufklärung in Russland" (S. 135) sprechen. Alexis Hofmeister zeichnet das Bild einer selbständigen und selbstbewussten osteuropäischen haśkalah, die sogar als "Testfall der Aufklärungsrezeption par excellence" (S. 160) gelten könne. Im Osmanischen Reich schließlich war nach Roland Cvetkovski die Adaption aufklärerischer Ideen so erfolgreich, dass sie zu einem "kulturellen Profilverlust" (S. 198) führte.

Da sie keine quellenbasierten Detailstudien sind, können die einzelnen Beiträge nicht mit gänzlich neuen Befunden aufwarten. Vielmehr geben sie präzise den jeweiligen Stand der Forschung und deren Schwerpunkte wieder. Desiderate, etwa die kaum erforschte Rezeption der polnischen Aufklärung in der Ukraine, werden deutlich gekennzeichnet. Manchen eingangs formulierten Anspruch löst der Band nicht ein – und es ist fraglich, ob dies unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich gewesen wäre. So bleibt die eingangs aufgeworfene Frage unbeantwortet, wie sich das Verhältnis zwischen Zentren und Peripherien durch Transferprozesse verändert hat. Auch die "Lernbereitschaft" der Aufklärer, die Andreas Renner der viel beschworenen mission civilisatrice der Zentren zur Seite stellt (S. 21) kann in diesem Rahmen nicht überzeugend belegt werden. Beides wird wohl erst zu leisten sein, wenn man – freilich unter deutlich veränderten Vorzeichen – die Zentren eben doch wieder stärker einbezieht.

Die Stärke des Bandes liegt indessen in der Zusammenschau: Er vergleicht die Spezifika der verschiedenen Aufklärungen an den europäischen Peripherien untereinander, aber auch mit den Entwicklungen in den Zentren. Das leuchtet in einigen Fällen mehr ein als in anderen. Während man erwartungsgemäß wenige Anknüpfungspunkte zwischen den skandinavischen Aufklärungen und der Rezeption im Osmanischen Reich findet, liegen diese insbesondere im Hinblick auf Osteuropa nahe. So besteht für Christoph Schmidt kein Zweifel, dass das Besondere der polnischen Aufklärung im Gegensatz zur russischen in ihrem "konstruktiv-realistischen Grundzug" (S. 157) bestanden habe. Ihren ideellen Charakter habe sie erst nach der dritten Teilung Polens entfaltet. Auch wird deutlich, wie sehr Tempo und Tragweite der aufklärerischen Neuerungen trotz des universellen Anspruchs jeweils von lokalen Gegebenheiten abhingen. Wurde beides durch die zwar absolutistisch herrschende, aber reformeifrige dänische Monarchie befördert, so standen in Polen offenbar die konkreten Herrschaftsinteressen der russischen Zarin im Weg.

Alexander Kraus beschließt den Band, indem er für die Anerkennung der "Polyzentralität" (S. 206) der Aufklärung sowie für eine Ausdehnung über das 18. Jahrhundert hinaus plädiert. Die Titelmetapher des Schlussresumées ("Ausblick auf eine kopernikanische Wende") ist allerdings kühn gewählt. Zwar wird die Vorstellung, die Aufklärung habe die erleuchteten Zentren Mitteleuropas umkreist, künftig sicher weiter relativiert. Doch selbst wenn die Forschung alle Anregungen des Bandes aufgriffe: Auch eine solche "Neuvermessung" (S. 200) der Aufklärung(en) wird die zitierte Preisfrage der Berlinischen Monatsschrift letztlich kaum klären können. Stattdessen ist dieser Band einerseits zu empfehlen, weil er aus einer ungewohnten Perspektive weitere, wegweisende Fragen aufwirft. Andererseits müssen Abstriche gemacht werden, denn er vermag diese Fragen nur ansatzweise selbst zu beantworten. Im Unterschied zu Kopernikus dürfen die Herausgeber hingegen wohl damit rechnen, dass ihr begrüßenswertes Anliegen auf offene Türen trifft. Wie mehrere Neuerscheinungen belegen, steht die Dezentralisierung der Aufklärung nämlich bereits auf der geschichtswissenschaftlichen Agenda.2

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu etwa Orsolya Szakály, Enlightened self-interest: the development of an entrepreneurial culture in the Hungarian elite, in: Richard Butterwick / Simon Davies (Hrsg.), Peripheries of the Enlightenment, Oxford 2008, S. 105-118.
2 Siehe neben dem oben genannten Titel etwa Susan Manning / Francis D. Cogliano (Hrsg.), The Atlantic Enlightenment, Aldershot 2008.

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