L. Ognois: Reformierte Wahrnehmung

Cover
Titel
Die Pfarrer und der Umbruch. Reformierte Wahrnehmung und Deutung von Krieg und Nation in der Waadt und in Zürich während der Helvetik (1798-1803)


Autor(en)
Ognois, Laure
Erschienen
Münster 2009: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
XII, 210 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Bock, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Laure Ognois’ schlanke Dissertation ist im Rahmen des nunmehr beendeten Tübinger Sonderforschungsbereichs 437 „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ entstanden. Sie greift den dort entwickelten erfahrungsgeschichtlichen Ansatz auf und verortet „Erfahrung“ in Anlehnung an Reinhart Koselleck im Spannungsfeld zwischen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“. Dieses Konzept wird der Frage zugrunde gelegt, wie Pfarrer in der reformierten Schweiz die Kriegs- und Umbruchszeit der Helvetik von 1798 bis 1803 wahrnahmen. Ziel der Arbeit ist es, „Anschauungs- und Deutungskontinuitäten“ ebenso wie den „zeitlichen Wandel von Deutungsmustern“ herauszuarbeiten (S. 26).

Ognois hat eine vergleichende Untersuchungsanlage gewählt und stützt ihre Analysen vor allem auf Predigten und Reden (gelegentlich auch Ego-Dokumente) von französischsprachigen Pfarrern des Waadtlandes sowie von deutschsprachigen Pfarrern des Kantons Zürich, die in den fünf Jahren der Helvetik entstanden. Sowohl die Auswahl des Untersuchungszeitraums als auch der Untersuchungsorte lässt im Hinblick auf die Erforschung von Kriegserfahrungen interessante Ergebnisse erwarten. Die Eroberung Berns durch napoleonische Truppen im März 1798 und die Gründung der Helvetischen Republik als Satellitenstaat Frankreichs im April markierten einen fundamentalen Bruch in der von stabilen Verhältnissen geprägten Schweizer Geschichte. Die Einführung einer nach dem Modell der französischen Direktorialverfassung konzipierten Helvetischen Verfassung führte zu fünfjähriger innenpolitischer Instabilität. Zwischen 1799 und 1801 war die Schweiz zudem Schauplatz des Zweiten Koalitionskrieges, den Zürich direkt erlebte, die Waadt dagegen nicht. Während beide Untersuchungsorte die reformierte Konfession als Staatsreligion teilten, unterschieden sie sich doch wesentlich in ihrer politischen Verfassung: Zürich blickte auf eine mittelalterliche Geschichte als freie Reichsstadt zurück und war seit 1351 vollberechtigter Ort der schweizerischen Eidgenossenschaft. Das Waadtland dagegen war seit 1536 Untertanengebiet der Stadtrepublik Bern, das erst 1803 die Souveränität als eigenständiger Kanton erlangte. Die revolutionären Umwälzungen im benachbarten Frankreich hatten somit bei den Waadtländern (wie in den anderen Untertanengebieten der Alten Eidgenossenschaft) Hoffnungen auf die Erlangung einer politischen Unabhängigkeit geweckt, wie sie für die Stadtzürcher (zu denen die untersuchten Pfarrer ausnahmslos gehörten) bereits gegeben war. Eine komplexe Mischung religiöser und politischer Elemente lässt sich erwartungsgemäß auch in den Deutungen der revolutionären und kriegerischen Ereignisse durch die reformierten Pfarrer nachweisen.

Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten wird die Deutung des Krieges, im zweiten das Nationsverständnis der untersuchten Pfarrer thematisiert. Dabei hat die Autorin ihre Auswertung in beiden Teilen jeweils etwas schematisch nach den politischen Kriterien „konterrevolutionärer“ (Waadtländischer), „gemäßigt-liberaler“ (Zürcher) und „pro-revolutionärer“ (Waadtländischer) Wahrnehmung geordnet. Am Ende des ersten Teils behandelt ein weiteres Kapitel die Feind-, Freund- und Selbstbilder nach demselben Dreierschema.

Zur Deutung des Krieges bedienten sich die analysierten „konterrevolutionären“ Pfarrer des Waadtlandes (Philippe-Sirice Bridel, Georges Chatelanat, Louis de Bons) traditioneller christlicher Deutungsmuster, die sie auf die aktuelle politische Situation bezogen. Die französische Fremdherrschaft wurde als sündhaft gedeutet, der revolutionäre Umbruch dämonisiert, an welchem die fehlbaren Gläubigen ihre Mitschuld trugen (S. 31-53). Die Zürcher „gemäßigt-liberalen“ Pfarrer (Antistes Johann Jakob Hess, Salomon Hess, Georg Gessner, Felix Herder, Christoph Nüscheler, Conrad von Orelli), welche die Helvetische Republik laut Ognois weder unterstützten noch ablehnten, argumentierten ebenfalls mit christlichen Deutungsmustern, doch weisen diese eine stärker zwinglianische, das heißt konfessionelle Prägung auf. Der Umbruch wurde als Teil der Heilsgeschichte interpretiert und die nicht erfolgte Einnahme Zürichs durch die helvetischen Truppen im September 1802 als Beweis göttlichen Schutzes gedeutet. Dass die Zürcher Pfarrer die (katholischen) Nidwaldner verurteilten, weil sie die Helvetische Verfassung nicht annahmen, führt Ognois auf das reformierte Staatsverständnis zurück, wonach nicht die Verfassungsform, sondern christliche Demut und unerschütterlicher Glaube entscheidend seien (S. 55-76). Die „pro-revolutionäre“ Waadtländische Kriegswahrnehmung schließlich ist nicht nach Personen, sondern nach Themen gegliedert. Hier wurden christliche Deutungsmuster in anderen Zusammenhängen verwendet als bei den konterrevolutionären oder gemäßigt-liberalen Kollegen. Prorevolutionär gesinnte Pfarrer legitimierten die neue politische Ordnung, indem sie politisch-republikanische Werte wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit christlich deuteten und die Republik als Teil des göttlichen Heilsplans sakralisierten. Wie die Geistlichen der beiden anderen Gruppen verwendeten aber auch sie konfessionelle Deutungsmuster (gerechter Krieg, Vorsehung Gottes, Gott als Lenker der Geschichte) (S. 77-92).

Was die Feind-, Freund- und Selbstbilder der untersuchten Pfarrer angeht, schieden sich die Geister – aus verschiedenen Gründen – an den Franzosen (Feinde der Konterrevolutionäre und Gemäßigten, Freunde der Prorevolutionäre), den Bernern (Feinde der Prorevolutionäre, Freunde der Konterrevolutionäre) und den Österreichern (Feinde der Prorevolutionäre, Freunde der Gemäßigten). Verwirrend (und nicht unbedingt überzeugend) wird es, wenn Ognois versucht, die politischen, religiösen und konfessionellen Motive hinter derartigen Konstruktionen auseinander zu dividieren: „Die gemäßigt-liberalen Zürcher Pfarrer definierten sich konfessionell als auserwähltes Volk. Sie grenzten sich religiös von den Franzosen und von den helvetischen Truppen ab. Ihr Bezug zur Innerschweiz war religiös motiviert, ebenso wie ihre Beziehung zu den Österreichern.“ (S. 109)

Die konterrevolutionären Waadtländer Pfarrer verstanden unter Nation die ideelle Verbindung eines Volkes und der ihm vermeintlich inhärenten Eigenschaften, wobei die Religion eine fundamentale Rolle spielte. Sie deuteten die von ihnen so wahrgenommenen Eigenschaften und Tugenden der alten Eidgenossen, einen christlichen Staat sowie eine christliche Gesellschaft, welche die reformierte Ordnung respektierte als Fundament einer nationalen Identität der Schweizer (S. 113-129). Auch die gemäßigt-liberalen Zürcher Pfarrer beriefen sich auf die urschweizerischen Tugenden (Frömmigkeit, Eintracht, Einfachheit, Freiheit, Gerechtigkeit) und die reformiert-christliche Gesellschaft als Grundlage der nationalen Identität. Sie betonten zudem die spezifische Identität der Zürcher als Auserwählte Gottes (S. 131-153). Die prorevolutionären Waadtländischen Pfarrer hingegen führten keine Debatte um eine nationale Identität der Schweizer, sondern setzten sich vor allem mit dem Konzept einer helvetischen Nation auseinander. Ausgehend vom säkularen, revolutionären Nationsverständnis Frankreichs interpretierten Benoit Gély, François-Jacques Durand, Loius Bridel, Louis Dumaine und Andere Nation als ein Gefüge von Territorium, Bürgern und Staat. Ihr reformiertes Staatsdenken blieb in der Vorstellung präsent, die demokratische Helvetische Republik sei eine Wiederbelebung der biblischen Republik von Jerusalem (S. 155-169).

Nach der Lektüre des Buches mag der Leser oder die Leserin den Eindruck haben, dass vieles Richtige und Wichtige in der Arbeit konstatiert, doch zu wenig expliziert wird. Die Ergebnisse hätten sicherlich durch eine breitere Kontextualisierung, welche zum Beispiel die Zeit vor 1798, die persönlichen Hintergründe und Netzwerke der untersuchten Autoren und den Einfluss der Aufklärung stärker berücksichtigt hätte, an Erklärungskraft und -tiefe hinzugewonnen. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den ausgewerteten Quellen fast ausschließlich um die öffentlichen Aussagen von Theologen in Predigten und Reden handelt, bleiben Erklärungen wie die folgende etwas unbefriedigend: „Die säkularen Ereignisse wurden und konnten nur christlich gedeutet werden, da die Pfarrer selbst einen auf traditionellen christlichen Deutungsmustern basierenden Deutungshorizont besaßen.“ (S. 53)

Nichtsdestoweniger hat Laure Ognois eine klar konzipierte, konzentrierte Studie vorgelegt, die wichtige Elemente der Deutung von Krieg und Nation in der Schweiz um 1800 aus der Sicht reformierter Geistlicher präzise herausarbeitet und anhand aussagekräftiger Quellenbeispiele vorführt. Für den Schweizer Kontext und eine konfessionelle Differenzierung wird es aufschlussreich sein, die vorliegenden Ergebnisse mit den im selben Forschungsverbund entstandenen Untersuchungen zur Wahrnehmung der Helvetik in der katholischen Zentralschweiz in Beziehung zu setzen.1 Eine andere lohnende Weiterentwicklung ihrer Forschungen umreißt Laure Ognois in ihrem „Ausblick“ (S. 179-184), nämlich die Frage nach den Umdeutungen der kurzlebigen Helvetischen Republik seit ihrer Auflösung 1803.

Anmerkung:
1 Vgl. demnächst die Dissertation von Eric Godel, Die Zentralschweiz in der Helvetik (1798–1803). Kriegserfahrungen und Religion im Spannungsfeld von Nation und Region, Münster 2009.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension