Titel
Hexerei in Minden. Zur sozialen Logik von Hexereiverdächtigungen und Hexenprozessen (1584-1684)


Autor(en)
Groß, Barbara
Reihe
Westfalen in der Vormoderne 2
Erschienen
Münster 2009: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicolas Rügge, Niedersächsisches Landesarchiv - Staatsarchiv Osnabrück

Die Hexenforschung geht weiter: Ihren hohen Erklärungswert für frühneuzeitliche Gesellschaften hat diese seit langem intensiv betriebene Forschungsrichtung vielfach bewiesen. Außerdem warten immer noch lohnende Fallbeispiele, die zum Gesamtverständnis dieses komplexen Phänomens beitragen können, auf ihre Bearbeitung.

Beide Impulse verbindet Barbara Groß in ihrer Münsteraner Dissertation. Mit den Schwerpunkten auf der „sozialen Logik“ und dem Vorfeld der Prozesse widmet sie sich zwar nicht ganz neuen, aber unverändert ertragreichen Forschungsfeldern, für welche die lippischen Fallstudien von Rainer Walz und Ursula Bender-Wittmann besonders anregend waren 1. Zugleich geht sie daran, mit der Bearbeitung der Stadt Minden für Westfalen eine lang empfundene Forschungslücke zu schließen und die 1994 aufgestellte Hypothese eines inneren Zusammenhangs zwischen Herford, Osnabrück, Lemgo und Minden zu überprüfen: Diese kommen demnach für einen „speziellen Typus städtischer Verfolgungszentren“ in Betracht, der gekennzeichnet sei durch „Kämpfe mit den Territorialherren um ihre politische Autonomie“ und „geringe Distanz“ zwischen Amtsträgern und Prozessparteien, also erbitterte äußere und innere Konflikte bei gleichzeitigen Abschließungstendenzen auf engem Raum mit dem Ergebnis eines die Verfolgungen anheizenden „Treibhauseffekt(s)“ 2.

Als eine Hochburg der Hexenverfolgung lässt sich Minden zweifellos bezeichnen. Im Jahrhundert zwischen 1584 und 1684 sind insgesamt 170 Hexereiverfahren nachweisbar, davon 122 durch Prozessakten im Stadtarchiv überliefert. Auf 134 Anklagen erging in mindestens 95 Fällen ein Todesurteil, allein 21 Hinrichtungen fallen in das Anfangsjahr. Betroffen waren fast ausschließlich (155) Frauen, überwiegend mittleren Alters und in die Stadtgesellschaft gut integriert, dazu sechs Männer und neun Kinder. Die vier Verfolgungswellen (1584, 1604-15, 1629-37 und 1669-75) entsprechen trotz ihres relativ späten Endes ungefähr den (über-) regionalen Höhepunkten. Die Fälle sind am Schluss der Studie in einer chronologischen Übersicht zusammengestellt.

Die Arbeit will die Verfolgungen als „sinnhaltige Muster sozialer Praxis“ beschreiben (S. 22). Dazu wird zunächst der „kommunikativen Binnenlogik“ der Verdächtigungen nachgespürt: ihrer Auslösung in „alltäglichen“ Zusammenhängen, ihrer Verbreitung und Wirkung sowie den möglichen Verteidigungsstrategien, um anschließend deren „soziale Logik“ (S. 25) im gesellschaftlichen Kontext zu analysieren. Obwohl ein wesentliches Interesse also dem Vorfeld der Verfahren gilt, wurden hauptsächlich die Hexenprozessakten ausgewertet, ergänzt vor allem durch die Ratsprotokolle und den Bericht eines Bürgermeisters. Das Vorhaben wird verortet in einem ausführlichen, gelegentlich allzu pointiert wertenden Literaturbericht. Nach den allgemeinen Voraussetzungen für die Massenprozesse stellt die Autorin die lokalen Rahmenbedingungen vor, die sie mangels einschlägiger Publikationen teilweise selbst erforscht hat. Seit einem Vergleich von 1573 stand nur die öffentlichkeitswirksame Hegung des Halsgerichts beim Endlichen Rechtstag dem bischöflichen Wichgrafen zu, ansonsten übte die städtische Obrigkeit die Verfahrensherrschaft aus. Dabei habe der Rat hauptsächlich kollektiv gehandelt, ohne dass ein beherrschender Einfluss der rechtsgelehrten Syndizi und Bürgermeister feststellbar wäre; das problematische Verhältnis zum Vierzigerausschuss, der eine Art Gegenrat bildete, bleibt beim jetzigen Forschungsstand undurchsichtig.

Es folgen drei „Fallstudien“, detaillierte Nacherzählungen aus unterschiedlichen Verfolgungsperioden. Am Fall Ilsche Nording, der 1604 vermutlich mit einer Stadtverweisung endete, interessiert vor allem das Umschlagen zunächst unspezifischer Vorwürfe in eine Hexereiverdächtigung und die in diesem Licht geschehene Umdeutung von Erlebnissen. Ein hartnäckiges Gerücht verfolgte hingegen jahrelang die familiär über mehrere Generationen belastete Fischersfrau Anna Maßmeyer, die 1655 ihre letzte Hoffnung auf eine Wasserprobe setzte. Eine „in höchstem Maße ansteckend(e)“ Unehrlichkeit des Scharfrichters (S. 131), dem sich die Beschuldigte damit aussetzte, kann allerdings für Nordwestdeutschland keineswegs unterstellt werden, wie die in Anmerkung 226 angeführte Studie von Gisela Wilbertz erwiesen hat. Schließlich beleuchtet der Fall der Hökerswitwe Margarethe Rockemann von 1669 die Rolle des in Bürgerhäusern einquartierten Militärs bei der Entstehung und Verbreitung von Hexereigerüchten in dieser Zeit. Hier kann die Arbeit nicht zuletzt mit einer spektakulären Quelle aufwarten: einem (abgefangenen) Brief der Schwiegersöhne an die nach Bremen geflüchtete Verfolgte mit dem dringenden Rat, sich weiter nach Amsterdam abzusetzen.

Nun geht die Autorin systematisch zunächst auf das Vorfeld der Verfahren und dann auf die Gerichtsprozesse ein. Beide Sphären folgten, so ein wesentliches Ergebnis der Arbeit, unterschiedlichen Logiken, die gerichtliche Verfolgung war also in aller Regel keine bloße Fortsetzung der Verdächtigung mit anderen Mitteln. Im Vorfeld stand vielmehr der Schadenzauber im Mittelpunkt: Von der sofortigen oder nachträglichen Deutung einer Schädigung als Hexereifolge ging die „magische Kommunikation“ aus. Zugerechnet wurde die Tat häufig einer Person, mit der man zuvor einen Streit ausgetragen hatte; nur selten hingegen sind Funktionalisierungen in aktuellen Konflikten nachweisbar. In diesem Stadium wurde der Hexereivorwurf wesentlich als Streit um die verletzte Ehre ausgetragen, und zwar mit der hierfür typischen selbstreferentiellen Eigendynamik, gegen die eine Verteidigung nur schwer möglich war – gleich ob die Verdachtsäußerung offen „ins Gesicht“ geschah oder auf dem anonymen Weg des Gerüchts oder „Klatsches“.

Vor Gericht hingegen traten die sich geschädigt fühlenden Einwohner nur selten als treibende Kraft in Erscheinung. Diese Rolle fiel eher einzelnen Zeugen, vor allem aber dem inquirierenden Ratsgericht zu. Damit strukturierte nicht mehr die Ehrverletzung die Kommunikation, sondern eine prozessuale und eine politische Logik. Nicht zuletzt dienten die Prozesse einer Machtdemonstration des Rates, die zeitweise mehr nach innen (auf die Einwohner) bzw. nach außen (auf konkurrierende Obrigkeiten) gerichtet war. Beide Aspekte verbanden sich in der zweiten Prozesswelle während des Dreißigjährigen Krieges: Bedrängt von fremder Besatzung, finanzieller Auspressung der Bürger und gegenreformatorischen Maßnahmen, zeigte sich der Rat bestrebt, durch die Hexenverfolgung im Sinn einer „symbolischen Prozessführung“ Vertrauen zurückzugewinnen, „indem er sich auf einem der wenigen Gebiete, auf dem seine Kompetenzen nicht beschnitten worden waren, als handlungsfähige und damit als gute Obrigkeit profilierte“ (S. 328). Vor allem in dieser politischen Dimension, weniger im Detail der Durchführung, sieht die Autorin die oben zitierte Hypothese bestätigt: Auch Minden habe zu den „enklaveartige(n) Gemeinwesen“ (S. 343) gehört, deren Obrigkeit nach außen in Machtkämpfe verwickelt war und nach innen in nahen Beziehungen zu den Prozessparteien stand, was in der Tat die politische Funktionalisierung der Verfahren begünstigt habe.

Obwohl die Hexenforschung keineswegs mehr am Anfang steht, ist diese Arbeit mit Gewinn zu lesen. Die Darstellung ist den Quellen verbunden, ohne an diesen zu „kleben“; stets werden die Ergebnisse eingehend reflektiert, zu Vergleichen und typologischen Weiterführungen herangezogen. Allerdings hat sich die Autorin sehr viel vorgenommen. Angesichts der reichen Mindener Quellenüberlieferung (über die an sich schon zahlreichen Hexenprozessakten hinaus), angesichts auch der Diskrepanz zwischen den wenigen lokalhistorischen Vorarbeiten und der reichlich vorhandenen regionalgeschichtlichen und übergreifenden Literatur liegt ein Wagnis in einem Erklärungsanspruch, der vom kommunikativen Verhalten einzelner Personen bis zur politischen Dimension der Verfolgungen über einen Zeitraum von hundert Jahren reicht. So steht am Ende als Triebkraft hinter den Prozessen das Herrschaftskalkül eines Rates, über den man im Grunde noch wenig weiß. Auch wo sie thesenhaft bleibt, möge die gleichwohl plausible Darstellung nicht nur der westfälischen Hexenforschung als Ansporn dienen, fehlt doch bislang eine allgemein akzeptierte Synthese. Dass „jede konzeptionell und methodisch gut durchdachte Regional- oder Lokalstudie“, wie die vorliegende, „einen Beitrag zu dieser Gesamtinterpretation liefern kann“ (S. 47), sollte außer Frage stehen.

Anmerkungen:
1 Rainer Walz, Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit. Die Verfolgungen in der Grafschaft Lippe, Paderborn 1993; Ursula Bender-Wittmann, Hexenglaube als Lebensphilosophie. Informeller Hexereidiskurs und nachbarschaftliche Hexereikontrolle in Lemgo 1628-1637, in: Gisela Wilbertz / Gerd Schwerhoff / Jürgen Scheffler (Hrsg.), Hexenverfolgung und Regionalgeschichte. Die Grafschaft Lippe im Vergleich, Bielefeld 1994, S. 107-135.
2 Jürgen Scheffler / Gerd Schwerhoff / Gisela Wilbertz, Umrisse und Themen der Hexenforschung in der Region, ebd. S. 9-25, hier 20.

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