S. Dick: Der Mythos vom "germanischen" Königtum

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Titel
Der Mythos vom "germanischen" Königtum. Studien zur Herrschaftsorganisation bei den germanischsprachigen Barbaren bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit


Autor(en)
Dick, Stefanie
Reihe
Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Ergänzungsbände 60
Erschienen
Berlin 2008: de Gruyter
Anzahl Seiten
VIII, 262 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Steinacher, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien

Dick beginnt ihre Untersuchung zum Forschungsmythos vom „germanischen“ Königtum mit einer konzisen Zusammenfassung einer bereits 500 Jahre alten Diskussion, die seit dem 15. und 16. Jahrhundert über Tacitus’ Germania und die „Germanen“ geführt wurde (Germanenforschung und Germanenbegriff, S. 11–25). Nach dem ersten Erscheinen der Germania des Tacitus im Druck 1470 begann eine stets politisch instrumentalisierte Auseinandersetzung mit seiner Begrifflichkeit, die bis in die jüngste Vergangenheit andauert. Die deutsche Seite neigte dabei zu Setzungen, die weit über die Möglichkeiten der Quelleninterpretation hinausgingen, sowie zu einer aggressiv aufgeladenen Identifikation mit den erstellten Konstrukten.1 Von ihrer, mit profunden Anmerkungen und einem weiten Blick ausgestatteten Einleitung führt Dicks gedanklicher Weg zur Forschungsproblematik eines so genannten „germanischen Königtums“, eines Konzepts, das im 20. Jahrhundert mit den Namen Otto Höfler, Walter Schlesinger und Reinhard Wenskus verbunden ist.

Eine der Leistungen dieses Buches besteht darin, von der Frage nach der Entwicklung des Königtums bis ins 8. Jahrhundert auszugehen, als die noch stark der barbarischen Spätantike verbundene merowingische Dynastie durch Pippin den Jüngeren abgelöst wurde, „der das fränkische Königtum durch sein epochenmachendes Bündnis mit dem Papst in besonderer Weise mit dem Christentum verbunden und auf eine neue, zukunftsweisende Grundlage gestellt hat, die für das gesamte Mittelalter bestimmend werden sollte“ (S. 9). Bei diesem Problem neigte die Forschung des letzten Jahrhunderts stets dazu, neben einem christlichem und einem römischen Herkunftselement mittelalterlicher Herrschaft ein nebuloses Konstrukt „germanischer“ oder auch keltischer Wurzeln zu postulieren. Von einer mediävistischen Fragestellung ausgehend leistet Dick in ihrer Arbeit eine Infragestellung und letztlich Auflösung dieser Postulate, wobei sie sowohl die schriftlichen als auch die archäologischen und sprachlichen Quellen der römischen Kaiserzeit berücksichtigt. Mit dieser nötigen Vorarbeit liegt nun ein wertvoller Beitrag vor, der für ein weiteres Fortkommen in dieser Fragestellung eine solide Ausgangsbasis bildet, die wohl für längere Zeit ein Referenzpunkt bleiben wird. Zudem stellt der vorliegende Band ein Ausnahmebeispiel der Überwindung von Fachgrenzen zwischen Alter und Mittelalterlicher Geschichte dar.2

Einerseits unterzieht Dick Caesars Gallischen Krieg und die ethnographische Monographie des Tacitus einer eingehenden Analyse in Bezug auf Konstruktionen barbarischer Anführerschaft (Kapitel 3 „Die frühen Germanen im Spiegel der Schriftquellen“ und 4 „‚Rex vel princeps …‘ Zur germanischen Herrschaftsorganisation nach Caesar und Tacitus“, S. 43–104), andererseits erörtert sie die „Aussagemöglichkeiten von Archäologie und Sprachwissenschaft zur Frage der ‚germanischen‘ Herrschaftsorganisation“ (S. 105–158). Ihre anschließenden Ausführungen zu „Aspekten der sozio-ökonomischen und sozio-politischen Entwicklung bei den germanischsprachigen gentes vom 1. bis ins 4. Jahrhundert n. Chr.“ (S. 159–202) zeichnen sich nicht nur durch eine präzise Gedankenführung und ein dadurch in all seiner Problematik differenziertes Bild der barbarischen Gesellschaften bis nach Jütland, sondern auch durch eine für Historikerinnen und Historiker äußerst hilfreiche Fülle an gut ausgewählten archäologischen Einblicken mit gründlich gearbeiteten Referenzen aus.

Thomas F. X. Noble hat sich auf dem International Congress on Medieval Studies 2005 in Kalamazoo als Einleitung zu den „Neglected Barbarians“ betitelten Sektionen einer Metapher bedient, die die Welt außerhalb der römischen Grenzen als dark side of the moon beschreibt. Wir wissen meist fast nur durch die archäologischen Befunde von den frühgeschichtlichen Gesellschaften in den Gegenden nördlich und östlich der römischen Grenzen an Rhein und Donau. Unsere bright side of the moon ist der Gesichtskreis des Imperiums mit seiner dichten schriftlichen Überlieferung. Dick hat es erfolgreich geschafft, einen Blick auf die dunkle Seite des Mondes zu werfen. Sie tat dies in vollem Bewusstsein der Problematik einer langen verfälschenden wie ideologisierenden Forschungsgeschichte, die einen solchen Versuch umso schwieriger macht.

„Begriffe wie ‚König‘ bzw. ‚Königtum‘ sind durch den Gang der Geschichte und damit durch die Summe unserer historischen Erfahrungen und Kenntnisse, aber auch durch die Art und Weise, wie sie in der verfassungsgeschichtlichen Forschung definiert und verwendet werden, nicht geeignet, die gesellschaftsorganisatorischen Verhältnisse bei den germanischsprachigen Barbaren vor der Völkerwanderungszeit zu beschreiben, obwohl in den zeitgenössischen Quellen durchaus von reges die Rede ist, sich also im Koselleckschen Sinn quellensprachlicher Begriff und gegenwartsbezogene Definition scheinbar decken“ (S. 211). Was die Quellen mit regesmagistratus und principes als Anführer ansprechen, bezeichnet Dick als „allenfalls protomonarchische Anführerschaften“ (S. 211). Weiterhin zeigt sie, dass hier in erster Linie Träger römischer Ehrentitel gemeint sind, und nicht etwa alte autochthone Traditionen zum Vorschein kommen. Eine hierarchische Position war in einem von Nahrungs- und Güterknappheit gekennzeichneten Barbaricum höchst attraktiv, ging es doch nicht nur um Prestigegewinn, sondern auch um römische Subsidien in nicht unbeträchtlicher Höhe. Für die Römer war zudem eine bestimmte Rechtsstellung barbarischer Partner – und sei es nur im terminologischen Schein – von hoher Relevanz. Daneben konnte natürlich der Triumph über als solche titulierte reges oder das Gewinnen so bezeichneter Anführer als Partner und Verbündete in viel höherem Maße als politischer Erfolg ausgewiesen werden. Erst auf Reichsboden kann sich seit dem späten 4. Jahrhundert dann etwa in der Person des Gotenkönigs Alarich ein Königtum entwickeln, das den mit diesem Begriff implizierten Vorstellungen näher kommt.3 Durch Dicks klare und präzise Sprache, die nicht nur die Thematik wie die Quellenlage mit einem hohen Problembewusstsein erörtert, sondern eben auch terminologische Alternativen anzubieten weiß, werden solche Modelle gut nachvollziehbar dargestellt.

Aus Dicks genauer Quellenanalyse zu den hierarchischen Strukturen nördlich und östlich der römischen Grenzen an Rhein und Donau ergeben sich weitreichende Schlussfolgerungen: Rom hat das Barbaricum im Allgemeinen wie die Germania im Speziellen erst geschaffen. Die dortigen ökonomischen, politischen und sozialen wie militärischen Strukturen entstanden durch direkte oder indirekte römische Einflussnahme; ur- und frühgeschichtliche Gesellschaften wurden also durch den Kontakt mit dem Römischen Reich grundlegend verändert. Der Raum des so genannten Barbaricum ist somit seit dem 3. Jahrhundert als eine vom römischen Zentrum abhängige Peripherie zu verstehen. Ähnliches gilt für die in den Quellen als Problem für die moderne Forschung vorgefundene Terminologie: Diese zeugt von jahrhundertelangen Versuchen, die Peripherie des Imperiums im Sinne des Zentrums zu benennen und zu organisieren. Diese Erkenntnis gilt auch für Ethnonyme. Die seit dem 3. Jahrhundert erscheinenden neuen Großgruppen wie Goten, Vandalen, Burgunder, Franken und Alamannen dürften die Folge von Neugruppierungen bisher kleinerer Verbände gewesen sein und in einem Zusammenhang mit den Änderungen im Imperium des 3. Jahrhunderts stehen.4

Anmerkungen:
1 Walter Goffart, Jordanes’s Getica and the Disputed Authenticity of Gothic Origins from Scandinavia, in: Speculum 80,2 (2005), S. 379–398; Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994.
2 Schon der erste Ergänzungsband zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA) setzte bei grundsätzlichen Fragen an: Heinrich Beck (Hrsg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht, Berlin 1986. Vgl. auch das Lemma monographischen Ausmaßes: Heinrich Beck u.a., Art. „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“, in: RGA, 2. Aufl., Bd. 11, Berlin 1998, S. 181–438. Zur Problematik weiter die durchaus kontroversielle Diskussion in: Hans-Hubert Anton u.a., Art. „Sakralkönigtum“, in: RGA, 2. Aufl., Bd. 26, Berlin 2004, S. 179–320 und Stefan Esders, Rezension zu Franz-Reiner Erkens (Hrsg.), Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen, Berlin 2005 in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 15.03.2007 <http://www.sehepunkte.de/2007/03/10695.html> (17.07.2009).
3 Herwig Wolfram, Gotisches Königtum und römisches Kaisertum von Theodosius dem Großen bis Justinian I., in: Frühmittelalterliche Studien 13 (1979), S. 1–28.
4 Guy Halsall, Barbarian migrations and the Roman West, 376–568, Cambridge 2007; Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart 2002; Roland Steinacher, Rome and Its Created Northerners: Germani or Celts, Goths or Scyths, Suevi and Alamanni?, in: Michael Kulikowski / Philipp von Rummel (Hrsg.), Friends, Enemies, Neighbors: Romans and Alamanni in Late Antique Germany, Oxford 2009 (im Druck).

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