G. Clemens u.a.: Geschichte der europäischen Integration

Cover
Titel
Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch


Autor(en)
Clemens, Gabriele; Reinfeldt, Alexander; Wille, Gerhard
Reihe
UTB S (Small-Format) 3097
Erschienen
Paderborn 2008: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
€ 18,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Judith Michel, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Noch 2004 klagte Jost Dülffer in seinem Literaturüberblick über Europa im Ost-West-Konflikt, es mangele an fundierten Überblicksdarstellungen zur Geschichte der europäischen Integration.1 Es scheint, als sei sein Ruf in den darauf folgenden Jahren erhört worden, was wohl auch als Teil des fortschreitenden Historisierungsprozesses der europäischen Einigung betrachtet werden kann. Allein im deutschsprachigen Raum legten zahlreiche Europahistoriker wie Jürgen Elvert, Franz Knipping, Michael Gehler und Jürgen Mittag Arbeiten vor, die sich mit der Entwicklung der europäischen Integration von den ersten Europavorstellungen bis zum beginnenden 21. Jahrhundert beschäftigen.2 Worin unterscheidet sich nun der Band von Gabriele Clemens, Alexander Reinfeldt und Gerhard Wille von dieser jüngsten Flut an Überblickswerken?

Wie der Untertitel bereits verrät, handelt es sich um ein „Lehrbuch“, das sich als Einführungsliteratur in erster Linie an Studierende richtet. Ziel ist es nicht nur die europäische Integrationsgeschichte nachzuzeichnen, sondern Studierenden auch das Rüstzeug an die Hand zu geben, um sich selbst tiefgehender damit auseinandersetzen zu können. Der Band gliedert sich hierfür in drei Teile.

Teil A setzt sich zunächst theoretisch mit den Begriffen „Europa“ und „Integration“ auseinander, wobei die Ausführungen der drei Historiker den Eindruck hinterlassen, der Integrationsbegriff erscheine ihnen noch unbestimmter als der ebenfalls vielschichtige Europabegriff. Letztlich gelangen sie zu folgender Arbeitsdefinition: „Europäische Integrationsgeschichte ist die geschichtswissenschaftlich fragende und darstellende Auseinandersetzung mit dem Prozess der europäischen Einigung, d.h. die über europäische Staatengrenzen hinweg sich vollziehenden oder gedachten Prozesse der Vergemeinschaftung, Kooperation und Verflechtung. Die europäische Integrationsgeschichte betrachtet unterschiedliche kollektive und individuelle Akteure in diesen Prozessen [...]“ (S. 24). Es folgt ein gelungener historiographischer Überblick über die europäische Integrationsgeschichtsschreibung und eine Liste von Hilfsmitteln. Erfreulicherweise berücksichtigt die Übersicht über die Hilfsmittel nicht nur klassische Bibliographien, Nachschlagewerke, Zeitschriften und Quellensammlungen, sondern bietet auch einen kommentierten Überblick über die wichtigsten Internetressourcen.

Der folgende Teil B gibt einen routinierten chronologischen Abriss der historischen Entwicklung der europäischen Integration. Von den ersten Föderationsplänen bis zur EU der 27 werden leicht verständlich die wichtigsten Stationen der Einigung nachgezeichnet. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Zeit von 1945 bis zum Ende der 1970er Jahre; die folgenden Jahrzehnte, die bislang noch hauptsächlich von den Politikwissenschaftlern und Juristen behandelt werden, untersuchen die Autoren kursorischer. Info-Kästen erklären zentrale Begriffe und Organigramme veranschaulichen die institutionellen Strukturen. Obwohl die Darstellung meist recht knapp ausfallen muss, gelingt es den Autoren auf die wichtigsten Forschungskontroversen hinzuweisen. So werden beispielsweise die unterschiedlichen Bewertungen in Bezug auf den Marshallplan, den Schumanplan, die Rolle Charles de Gaulles und den britischen Beitritt zur Gemeinschaft nachgezeichnet, wobei jedoch selten selbst dezidiert Stellung bezogen wird. Durchgehend wird die Sichtweise der verschiedenen beteiligten Nationalstaaten gegenübergestellt, auch wenn hier oft die großen Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien sowie die Rolle der USA stärker berücksichtigt werden als die kleineren Länder. Kaum Berücksichtigung findet – wie in den meisten anderen Überblicksdarstellungen auch – das Verhältnis zu den sogenannten AKP-Staaten.

Abschließend wird in Teil C die chronologische Darstellungsweise aufgegeben und es werden einzelne Dimensionen des Integrationsprozesses beschrieben, um größere Zusammenhänge besser beleuchten zu können. In diesen Kapiteln beziehen die Autoren des Öfteren auch selbst Stellung. So geben sie in ihren Beiträgen zur politischen und wirtschaftlichen Dimension der europäischen Einigung zwar zu, dass sich die wirtschaftliche Integration zunächst als durchsetzungskräftiger erwies als die politische Integration. Dennoch weisen sie vor allem aus dem angloamerikanischen Raum stammende Ansätze, die Integration hauptsächlich ökonomisch zu begreifen,3 als zu vereinfachend zurück. Bei der Beschäftigung mit gesellschaftlichen und kulturellen Integrationstendenzen stellen sie zwar eine „gewisse ‚Europäisierung’, im Sinne einer Angleichung von Inhalten und Wahrnehmungsmustern, der nationalen Berichterstattung über die EG/EU als auch eine zunehmende Verflechtung der nationalen Medien und Öffentlichkeiten“ fest, jedoch betonen sie, dass weiterhin der Nationalstaat der dominierende politische und kulturelle Bezugspunkt der Bürger ist (S. 282). Hinterfragt wird auch die Rolle des ‚deutsch-französischen Motors’ für die europäische Integration. „Während deutsch-französische Interessengegensätze die Integration hemmten, förderte die deutsch-französische Zusammenarbeit bei der Suche nach Kompromissen in den Organen der EG zweifellos die Integration“ (S. 291), lautet das abgewogene Urteil. Die Bewertung des Einflusses der USA auf den europäischen Integrationsprozess machen die Autoren von den einzelnen Phasen der Nachkriegsentwicklung abhängig – während für die Frühphase der Integration deutliche Einwirkungsmöglichkeiten bestanden, nahmen diese in den folgenden Jahrzehnten immer weiter ab. Das letzte Kapitel über Theorien der europäischen Integration ist hingegen stärker beschreibend, indem es versucht, die verschiedenen überwiegend aus den Politikwissenschaften stammenden Ansätze zu erklären.

Ein Vergleich bietet sich vor allem mit den Werken von Elvert und Mittag an, die ebenfalls als Handbücher konzipiert sind. Elvert räumt der geistigen Vorgeschichte der europäischen Integration deutlich mehr Raum ein, verzichtet im Gegensatz zu Clemens, Reinfeldt und Wille jedoch durchgehend auf Belege der verwendeten Quellen und verweist selten auf Forschungskontroversen. Somit kann Elverts Einführung zwar einen Überblick über das Thema geben, führt Studierende jedoch weniger in die Forschung ein. Mittag greift hingegen wie die Autoren des hier besprochenen Bandes die Forschungsmeinung auf und verweist ebenfalls auf politikwissenschaftliche und juristische Ansätze. Ein Vorzug von Mittags Werk sind die ausführlichen weiterführenden Literaturlisten, die am Ende jedes Kapitels zu finden sind. Ähnliche Listen finden sich zwar auch bei Clemens, Reinfeldt und Wille. Diese wurden jedoch bewusst knapp gehalten, um den Leser nicht zu ‚entmutigen’ (S. 9) – etwas mehr hätte den Lesern allerdings durchaus zugemutet werden können. Mittags Buch könnte daher durchaus als Alternative betrachtet oder ergänzend hinzugezogen werden, jedoch bietet es keine thematischen Kapitel über die Dimensionen des Integrationsprozesses.

Insgesamt handelt es sich bei dem ‚Lehrbuch’ von Clemens, Reinfeldt und Wille um ein gelungenes Werk, das hervorragend in die Materie einführt und als Begleitlektüre zu Lehrveranstaltungen gelesen werden kann, die sich mit der europäischen Integrationsgeschichte befassen. Es bietet einen fundierten Überblick über die wichtigsten Etappen und Themen der europäischen Einigung, gibt Ausblicke in aktuelle und zukünftige Entwicklungen, informiert über die fachlichen Diskussionen und liefert eine Übersicht über die wichtigsten Hilfsmittel.

Anmerkungen:
1 Jost Dülffer, Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1991, München 2004, S. 152.
2 Jürgen Elvert, Die europäische Integration, Darmstadt 2006, Franz Knipping, Rom, 25. März 1957. Die Einigung Europas, München 2004; Michael Gehler, Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, München 2005; Jürgen Mittag, Kleine Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur Gegenwart, Münster 2008.
3 Als Vertreter dieser Ansicht seien Alan S. Milward, Andrew Moravcsik und John Gillingham genannt.

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