H. Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen

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Titel
Die Deutschen und ihre Mythen.


Autor(en)
Münkler, Herfried
Erschienen
Anzahl Seiten
606 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edgar Wolfrum, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK), Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Dass die Bundesrepublik Deutschland eine „weithin mythenfreie Zone“ sei, erfährt man gleich auf der ersten Seite, bevor Herfried Münkler sein gewaltiges Forschungsprogramm und -panorama über deutsche Mythen überhaupt entfaltet hat. Gestützt auf umfangreiche Literatur der letzten Jahre sieht er drei Dimensionen politischer Mythen: narrative Variation, ikonische Verdichtung und rituelle Inszenierung. Wenn in politischen Mythen das Selbstbewusstsein eines politischen Verbandes ausgedrückt wird – bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die Bundesrepublik über ein solches Selbstbewusstsein nicht (mehr) verfügt? Oder ist es nicht vielmehr so, dass gerade wegen überbordender Mythen, die in die „Ideen von 1914“ mündeten, alles verspielt wurde? „Verspielte Größe“ – auf diesen Begriff hat Fritz Stern die Grundmelodie der deutschen Geschichte bis 1945 einmal gebracht.1

Mythen sind Ansammlungen symbolischen Kapitals; sie schaffen Orientierung und spenden Zuversicht. Sie können zu Siegen verhelfen oder große Niederlagen abfedern, indem sie zu Bewältigungsmythen oder gar zu Opfererzählungen werden, die dann nicht selten christlich aufgeladen werden. In den Kapiteln zum 19. und frühen 20. Jahrhundert ist Münkler in seinem Element: Er entfaltet in ganzer Pracht Mythen und Gegenmythen – Nation und Revolution zum Beispiel –, umreißt das Fremde und das Eigene, das hierin zum Ausdruck kommt, beschreibt die Mythomotorik, die Träger, Orte und Räume aus dem vielfältigen Mythenarsenal der Deutschen. Sie ließen sich zumeist willfährig ins Traumreich entführen und zu Gewalttaten mobilisieren. So entsteht tatsächlich eine Art Mentalitätsgeschichte der Deutschen vor unserer Zeit. Die Zuversicht- und Trostspender hießen Hermann der Cherusker, Luther, Barbarossa, Königin Luise; Canossa, Wartburg, Nürnberg und Weimar. Und, natürlich, der Rhein. Alles liest sich flüssig und wie eine auch theoretisch gebürstete Zusammenschau der wichtigsten Bestandteile aus der monumentalen dreibändigen Sammlung „Deutsche Erinnerungsorte“ von Etienne François und Hagen Schulze.

In fünf Kapiteln führt Münkler durch die Mythengeschichte: Die Nationalmythen erzählen – erstens – von der Herkunft der Deutschen. Komplementär dazu berichten die Fremdbilder – zweitens – von den Abgrenzungen von anderen. Der Preußenmythos steht – drittens – für das deutsche Sonderbewusstsein. Vieles taucht dann – viertens – im Kapitel über die Räume und Orte wieder auf. Den Abschluss bilden – fünftens – die politischen Mythen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Münkler hat ein großes Buch geschrieben, und er ist dafür zu Recht vielfach gelobt worden. Doch darf man dann auch sagen, dass gerade da, wo er am meisten Neuland betreten könnte, nämlich in der Nachkriegszeit seit 1945, eine merkwürdige Blässe auffällt. Mit voller Wucht und großer Darstellungskraft entfaltet Münkler das Mythenpanorama des 19. Jahrhunderts, aber später? Wo sind die Mythen der Generationen – die „45er“, die „68er“ und die „89er“? Alle sind sie selbsternannte Zeugen heroischer Kämpfe und monumentaler Verklärungen. Wo bleiben die großen Erzählungen, etwa diejenige vom Ende aller deutschen Sonderwege? Wo bleibt der „Weimar-Komplex“, die viel beschworene Versicherung, dass Bonn nicht Weimar wurde?2

Vor allem: Die NS-Vergangenheitsbewältigung mit dem Holocaust-Mahnmal in Berlin als ihrem steinernen Höhepunkt gilt als Ausweis einer politischen und kulturellen Verwestlichung der Deutschen. Dies ist eine veritable Geschichte deutscher Selbstdeutungen; hieraus speiste und speist sich das Selbstbewusstsein des „politischen Verbandes“ Bundesrepublik Deutschland. Die gegenwärtige Gemengelage ist ebenso vielschichtig wie früher – doch was Münkler für frühere Zeiten meisterhaft seziert und dekonstruiert, verschließt er in der Gegenwart, bagatellisiert es und zahlt es nur in kleiner Münze aus. Mit der DDR tut er sich leichter, denn hier fand die Mythenpflege im Wesentlichen als Haupt- und Staatsaktion der SED-Diktatur statt. Bei der Unübersichtlichkeit in der pluralen Bundesrepublik wird es schwieriger. Dass hier vor allem Konsummythen anzutreffen sind, ist sicherlich nicht falsch, und dass der Mercedesstern das Eiserne Kreuz der Kriegsgeneration abgelöst habe, hört sich unbestreitbar schön an, ist jedoch bei weitem nicht alles.

Fragen wir so: Darf unsere Demokratie einen „Wallungswert“ (Gottfried Benn) besitzen? Aus Münklers Sicht wäre dies einerseits ein Vorteil, andererseits ein Nachteil. Verfügt die deutsche Demokratie über einen emotionalen Grundstock, der in Krisenzeiten stabilisiert? Ein Bewusstsein vom Wert der Demokratie muss immer wieder neu geschaffen werden – auch dies ist eine Erfahrung aus der untergegangenen Weimarer Republik. Eine aktive Staatsbürgerrolle, Partizipation an der Demokratie, Hochschätzung von demokratischen Institutionen und Verfahren – all dies hat Dolf Sternberger vor genau dreißig Jahren, 1979, Verfassungspatriotismus genannt. Kritiker waren sogleich zur Stelle, und das Missverständnis ist bis heute geblieben, auch bei Münkler. Tatsächlich ist Verfassungspatriotismus kein fades Akademikerkonzept und keine notdürftige Behelfskonstruktion, der es an Emotionalität fehlt. Warum sollte diese noble Form des Patriotismus eine Affekt- und Erlebnisarmut kennzeichnen? Und selbst wenn dies teilweise so wäre: Nach der Hysterie und der exzessiven Emotionalisierung im „Dritten Reich“ kann man eigentlich nichts dagegen einwenden, wenn die politische Kultur der Deutschen sich beruhigt hat und die Menschen vor allem stolz sind auf ihre demokratischen Lernleistungen, zu denen insbesondere die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gehört.

Die nationalsozialistische Diktatur wirkte und wirkt bis heute ex negativo als das stärkste Argument für Demokratie, Freiheit und Frieden in Deutschland. In der Erinnerung nimmt die „deutsche Katastrophe“, also der verhängnisvolle Misserfolg der Demokratie und die gerade daraus abgeleitete Verpflichtung zur Demokratie, einen ähnlichen Stellenwert ein wie bei anderen Völkern die Erinnerung an eine erfolgreiche demokratische Revolution. Dies wird so bleiben. Aber Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive verbinden sich stets aufs Neue. Geschichte zeigt uns, woher wir kommen – sie zeigt uns aber auch, was wir nicht mehr sind. Heute bestehen auch positive Traditionen; die Bundesrepublik ist nicht mehr nur flach verwurzelt. Wenn es tatsächlich keinen direkten Weg vom Mythos zum Logos gibt, dann hätte Herfried Münkler nach seinen Dekonstruktionen am Schluss auch diskutieren können, was er von Konstruktionen heutiger „großer Erzählungen“ hält und vielleicht sogar sagen können, wie sie seiner Meinung nach beschaffen sein sollten.

Anmerkungen:
1 Fritz Stern, Verspielte Größe. Essays zur deutschen Geschichte, München 1996.
2 Dazu jetzt Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009.