M. Pyka: Jüdische Identität bei Heinrich Graetz

Titel
Jüdische Identität bei Heinrich Graetz.


Autor(en)
Pyka, Marcus
Reihe
Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 5
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
333 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristiane Gerhardt, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen

Fragestellungen zu und Konzeptionen über Identität haben in den letzten Jahren einer ganzen Reihe von Forschungsarbeiten einen dankbaren Orientierungspunkt für die Beschäftigung mit Kulturgeschichte geliefert. Ob der inflationären Verwendung, aber auch aufgrund methodischer und begrifflicher Vagheit ist „Identität“ in den letzten Jahren allerdings mit gutem Recht kritisiert worden.1 Die breite Resonanz, auf die Konzepte über „Identität“ als Orientierungsrahmen historischer Erkenntnisinteressen auch in der deutsch-jüdischen Geschichte gestoßen ist, läuft zunehmend Gefahr, viel interessantere Kontexte und Ergebnisse historischen Forschens zum Verschwinden zu bringen. Nicht nur droht durch den ausschließlichen Fokus auf Identität eine Exotisierung des Gegenstandes. Während der Konstruktionscharakter von Identität, seine zugleich situative wie fragmentarische Qualität inzwischen zum Allgemeinwissen gehören, gerät „jüdische Identität“ in der Forschungspraxis allzu oft zu einem vagen Sammelbegriff einer sozialgeschichtlich gut erforschten, an makrogeschichtlichen Axiomen und „festen“ Interpretamenten aber wahrlich nicht armen deutsch-jüdischen Historiographie (zum 19. Jahrhundert).

Dass die Beschäftigung mit „Identität“ auch zu interessanten und weiterführenden Ergebnissen führen kann, zeigt die Dissertation von Marcus Pyka über „Jüdische Identität bei Heinrich Graetz“. Sie ist von oben genanntem Forschungsboom teilweise mitgeprägt und liefert in der den Forschungsgegenstand präzise umreißenden Einleitung eine pointierte Zusammenfassung der verschiedenen Untersuchungsebenen wie Forschungskontroversen. Für Heinrich Graetz, dessen dreibändige „Volkstümliche Jüdische Geschichte“ am Ende des 19. Jahrhunderts in beinahe jedem deutsch-jüdischen Haushalt zu finden war, existieren bisher keinerlei neuere Arbeiten. Pyka nimmt dies zum Ausgangspunkt, Lebensweg und -werk des ersten professionellen jüdischen Historikers umfassend zu kontextualisieren. Anzusiedeln ist die Arbeit damit zwischen Biographiegeschichte und jüngerer intellectual history, die sich von Konzepten einer freischwebenden Geistesgeschichte verabschiedet hat.

Mit Identität als Fragestellung und Rahmen konzentriert sich Pyka im Wesentlichen auf zwei ihrer Bedeutungsebenen, auf eine personal-soziokulturelle im engeren Sinne und auf eine ideen- und wirkungsgeschichtliche. Es ist ein Vorzug der Arbeit, dass diese beiden Ebenen über die gesamte Studie hinweg nie isoliert, sondern performativ und in ihren jeweiligen Wechselbezügen analysiert werden. Im Zentrum steht erstens, wie biographisches Setting, institutionelle und intellektuelle Einflüsse, familiale und geschlechterspezifische Normen, Konkurrenzgeflechte und berufliche Möglichkeiten bzw. Hindernisse Heinrich Graetz zu jenem „Identitätspolitiker“ geformt haben, dessen Geschichtswerke eine ungeahnte Popularität entfalteten. Zum zweiten analysiert Pyka, wie sich Konzepte jüdischer Identität über die Lebenszeit Graetzens hinweg entwickelten und unter welchen intellektuellen, lebensweltlichen, wissenschaftsgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Konstellationen diese entstanden sind.

Das erste Kapitel ist am deutlichsten biographisch angelegt und gehört zu den Filetstücken der Arbeit. Es widmet sich dem geographisch-soziokulturellen Hintergrund des 1818 in Posen Geborenen, seinen ersten Lektüren und wichtigen Freundschaften. Analysiert werden Graetzens Bildungsstreben und dessen erste intellektuellen und religiösen Suchbewegungen. Die konsequent lebensweltliche Einbettung seines Protagonisten ist für die Forschung wegweisend. Denn für Graetz waren zwei Antipoden religiöser Neuorientierung entscheidend. Die Begegnung mit Samson Raphael Hirsch, seinem Lehrer im engeren Sinne, in dessen Haushalt er auch zeitweise wohnte, sowie die intellektuelle Auseinandersetzung mit Abraham Geiger. Für das Verhältnis zu Hirsch, das lebenslang emotional geprägt bleiben sollte, verweist Pyka nicht nur nachdrücklich auf die lebensweltliche Dimension intellektueller Beziehungen: Die zunehmende Distanzierung des jungen Graetz von Hirsch erfolgte zunächst nicht wegen dogmatischer Differenzen, sondern aufgrund der Unvereinbarkeit von Lebensstilen. Auch die zeitlebens bestehen bleibende Ähnlichkeit zwischen Graetz und Geiger in konzeptioneller Hinsicht zeigt, dass man den retrospektiv sehr viel deutlicher konturierten normativen Differenzen zwischen (Neo)Orthodoxie, konservativem und reformorientiertem Judentum nur bedingt gerecht wird, wenn man die Diffusion von Ideen, Visionen und Denkansätzen im Entstehungszeitraum selbst nicht beachtet. Persönliche und institutionelle Netzwerke, Nähe- und Abhängigkeitsverhältnisse, auch Zufälligkeiten sowie eine Streit- und Publikationskultur, die die Profilierung von Ideen immer mit produzierte, all das waren Parameter dieser höchst produktiven intellektuellen und religiösen „Gemengelage“.

Wie eng Graetzens Einfluss und Karriere mit den Profilierungstendenzen des sich gerade ausdifferenzierenden deutschen Judentums einherging, zeigt das zweite Kapitel, das die ersten Schriften von Graetz, die politischen Kämpfe um 1848 sowie Graetzens Suche nach familialer und beruflicher Sicherheit beschreibt. Pyka zeigt nicht nur, wie geschickt sich dieser mit seinen Streitschriften gegen den weitaus profilierteren Abraham Geiger ins öffentliche Gespräch brachte – und damit sein eigenes Profil schärfte. Deutlich wird auch, wie eng die Suche nach einem Auskommen an persönliche und intellektuelle Netzwerke gekoppelt blieb. Der inzwischen verheiratete Graetz sollte schließlich in das Umfeld von Zacharias Frankel und als Lehrer an dessen Breslauer Seminar gelangen. Trotz relativer Nähe zeigen die Invektiven des Dresdner Rabbiners zu Graetzens ersten eigenen Ideen über das Judentum der Gegenwart, wie deutlich ein konzeptioneller Gleichklang gefordert und notfalls auch erzwungen wurde. In diese Zeit datieren Graetzens erste eigenständige intellektuelle Versuche. Seine erweiterte Dissertation über Relationen zwischen Gnostizismus und Judentum verweisen schon auf ein Interesse für jene Sittlichkeit, die für Graetz später zum Wesensmerkmal des Judentums werden sollte. Sowohl den ersten Geschichtsentwurf des Mittdreißigers wie auch das letzte große Kapitel, das sich Graetzens Geschichtswerk und -verständnis im Kontext des Historismus des 19. Jahrhunderts widmet, bettet Pyka akribisch in die zeitgenössische Philosophie-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte ein. Während die Arbeit nur hin und wieder unbeabsichtigt verdeutlicht, wie stark jüdische Geschichte aus allgemeiner Perspektive noch in der Gegenwart als Differenzgeschichte konzipiert ist, bleibt der interpretative Fokus für das Ineinander von wissenschaftsgeschichtlichem Allgemeinen und jüdischer „Übersetzung“ sehr gewinnbringend. In der Auseinandersetzung mit einer hegemonialen Kultur, dem apologetischen Tenor und den Legitimationsversuchen jüdischer Intellektueller in einer Zeit, in der jüdisches Selbstverständnis durchaus grundsätzlich zur Debatte stand, auch in Graetzens letztlichem Postulat einer„Jüdischen Sittlichkeit“ zeigt sich, wie sehr Entwürfe von Identität aus permanenten innerjüdischen und interkonfessionellen Austausch- und Abgrenzungsprozessen hervorgegangen sind.

Sehr positiv hervorzuheben ist Pykas Integration eines geschlechtergeschichtlichen Blickwinkels in die Arbeit. Zur Debatte steht nicht nur Graetzens individuelles Geschlechterverständnis, das Abgrenzungen gegenüber Frauen wie Männern aufwies. Auch die Figuren in Graetzens Geschichtswerk werden auf Geschlechternormen geprüft und in Analogie zu den gängigen Geschlechtercharakteren der Zeit als Mechanismen von Popularität und Identitätskonstruktion analysiert. Dem Autor kann eine fehlende konsequente Geschlechterperspektive auf Graetz kaum angelastet werden, die Bezüge zu Daniel Boyarin und einigen Studien zum protestantischen Bürgertum im Buch verweisen vielmehr auf Leerstellen in der Forschung und auf die noch immer weitgehend patriarchalisch konzipierte jüdische Historiographie. Dennoch blieb Graetz als Mann eingebunden in seine Zeit: Für seine sich relativ schwierig gestaltende berufliche Situierung, für den ihm eigenen Zorn, der sich bei einer ganzen Reihe seiner Zeitgenossen finden lässt, für seine ambivalente Haltung gegenüber Frauen wie Männern hätte eine deutlichere Fokussierung auf männergeschichtliche Aspekte der zugleich sehr kritischen, aber auch Stilisierungen des Protagonisten fortführenden Lesart ein zuweilen ausgewogeneres Urteil verliehen.

Nicht nur für Graetz und sein Werk im engeren Sinne, auch für ideen-, institutionen- und wissenschaftsgeschichtliche Kontexte setzt Pykas Dissertation Maßstäbe. Graetzens intellektuelle Entwicklung und die Verortung seines Geschichtswerkes in den Historismus des 19. Jahrhunderts werden je eigene Rezipienten finden. Die besondere Bedeutung von Sittlichkeit als Wesensmerkmal des Judentums bei Heinrich Graetz verdient – wie der Autor hervorhebt – ein größeres Forschungsinteresse für das 19. Jahrhundert insgesamt. Losgelöst von der Kantschen Definition beschäftigen sich nämlich viele Publikationen von überwiegend männlichen Publizisten mit nichts anderem als mit Sittlichkeit. Die besondere Stärke der Arbeit, die performative Dimension von lebensweltlicher, religiöser und intellektueller Identitätssuche zu akzentuieren, könnte zukünftige Arbeiten zudem anregen, die Streitkultur, deren emotionsgeschichtlichen Aspekte sowie die Kommunikationsstrategien und den Netzwerkcharakter im Judentum des 19. Jahrhunderts grundsätzlich stärker einzubeziehen.

Anmerkung:
1 Vgl. Rogers Brubaker / Frederick Cooper, Beyond “identity”, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1-47.

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