G. Rosenfeld u.a. (Hrsg.): Beyond Berlin

Cover
Titel
Beyond Berlin. Twelve German Cities Confront the Nazi Past


Herausgeber
Rosenfeld, Gavriel D.; Jaskot, Paul B.
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 321 S., 62 SW-Abb.
Preis
$ 70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Thießen, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Eine Forschungslücke zur deutschen Erinnerungspolitik? Mancher Leser dürfte sich verwundert die Augen reiben. Haben wir nicht schon alles gelesen über die Erinnerungskultur zum „Dritten Reich“? Gavriel D. Rosenfeld und Paul B. Jaskot behaupten das Gegenteil – und dies aus gutem Grund. Ihr Buch richtet den Blick auf einzelne Städte „beyond Berlin“. Der Band reiht sich in einen Trend von Forschungen ein, die das „Gedächtnis der Stadt“ bzw. die Geschichtspolitik der Provinz erkunden.1 Dabei lässt sich ausloten, „how urban Vergangenheitsbewältigung has been pursued within the less well-known and more ordinary spaces of the German built environment“ (S. 4).

Dieser Leitlinie folgen die Fallstudien des Bandes ebenso konsequent wie ertragreich. Den Anfang macht Susanne Vees-Gulani mit ihrer Analyse eines besonders symbolträchtigen Gebäudes: Jahrzehntelang waren die Trümmer der Dresdener Frauenkirche Projektionsfläche für ein entlastendes Opferselbstbild, das 1945 zunächst von der NSDAP, später von der SED gepflegt wurde. Aber auch nach ihrem Wiederaufbau blieb die Kirche Referenzpunkt für ein Geschichtsbewusstsein, das sich allein aus der Tradition als Kulturmetropole speiste. Ironischerweise sollte der Wiederaufbau also Teile der Vergangenheit verschleiern, während der Neubau eines anderen Gebäudes als expliziter Hinweis auf das „Dritte Reich“ fungierte: Die neue Dresdener Synagoge markiert mit ihrer modernen Architektur eine Leerstelle im städtischen Raum und damit die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung. Jeffry M. Diefendorf beschäftigt sich anschließend nicht nur mit dem Wiederaufbau in Köln, sondern ebenso mit Denkmälern. Er entwirft dabei eine Analyse, die über architektur- und kunsthistorische Betrachtungen hinausgeht. Es sind die von ihm präsentierten Rituale, die die kollektive Erinnerung lebendig halten, nicht die Bauwerke an sich. Einen anderen Ansatz verfolgt Susan Mazur-Stommen aus kulturanthropologischer Sicht. In Rostock spürt sie individuellen Erinnerungen nach, die vom städtischen Raum beeinflusst werden. Ihr geht es um „processes shaping the memory of spaces, routes, and pathways that we create in our negotiations of cities“ (S. 69). Mazur-Stommen sieht beispielsweise in zahlreichen „Bombenlücken“ in Rostock „symbolic storage spaces“ (S. 81), die für das kommunikative Gedächtnis der Bewohner große Bedeutung haben.

Mit Wolfsburg und Essen geht es im zweiten Kapitel um Neubauten. Eine „Antithese“ zur NS-Architektur sieht Jan Otakar Fischer im Wolfsburger Rathaus und Kulturzentrum der 1950er-Jahre. Auf ganz andere Zusammenhänge zwischen moderner Architektur und Erinnerung weist Kathleen James-Chakraborty in ihrem Beitrag zur Zeche Zollverein hin. In Essen sei während der 1990er-Jahre die Bedeutung der Industriekultur für eine neue Imagepolitik entdeckt worden. Obwohl diese Traditionsstiftung insofern unproblematisch sei, als die 1932 eingeweihte Zeche kein „Nazi building“ war (S. 125), zeige sich hier eine ebenso verbreitete wie problematische Tendenz in deutschen Städten, Bauten der Industriemoderne als Medium der Distanzierung vom „Dritten Reich“ zu instrumentalisieren.

Im Falle des Reichsparteitagsgeländes waren solche Distanzierungen schwer möglich. Und doch kann Paul B. Jaskot an der Nachkriegsnutzung dieses Orts zeigen, dass Nürnberg viel Zeit für eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus brauchte. Auch hier war es nicht der städtische Raum an sich, der Erinnerungen evozierte, sondern „the agency of individuals and institutions“ (S. 160), die sich ab den 1980er-Jahren formierten. Mit Erinnerungsakteuren beschäftigt sich ebenfalls Rosenfelds Aufsatz zu München. Obgleich hier die „perpetrator sites“ besonders zahlreich verteilt sind, zeichnete sich die lokale Vergangenheitsbewältigung lange Zeit durch „an enduring unwillingness“ aus (S. 179). Zugleich beschreibt Rosenfeld eine „Verlagerung“ der Erinnerung „out to the provinces“ (S. 171), nach Dachau und Berchtesgarden. Der Autor differenziert zwischen städtischen und staatlichen Entscheidungsträgern und damit zwischen zwei geschichtspolitischen Ebenen mit unterschiedlichen Erinnerungsmotiven. Bei der Analyse lokaler Erinnerungen müssen das Bundesland und die Region ebenso berücksichtigt werden wie die Nation und die Stadt.

Dass wir es in Städten nicht nur mit konkreten, sondern oft mit betonierten Erinnerungen zu tun haben, heben Marc Buggeln und Inge Marszolek schon mit ihrem doppeldeutigen Titel hervor. „Concrete Memories“ finden sich in Bremen etwa in Form zahlreicher Bunker, die lange Zeit ein sehr einseitiges Geschichtsbewusstsein förderten: Sie erinnerten bevorzugt an das Leid der Deutschen oder an die „Bunkergemeinschaft“, während andere Opfergruppen, zum Beispiel diejenigen des Bunkerbaus, verdrängt wurden. Vergessen scheint auch die Geschichtspolitik Heinrich Himmlers in Quedlinburg. Für Himmler war die Kirche St. Servatius zeitlebens ein wichtiger Erinnerungsort an sein Vorbild Heinrich I. gewesen, was zu ihrer „Re-Romanisierung“ geführt hatte. Annah Kellogg-Krieg kann zeigen, dass die Kirche dank dieser baulichen Veränderungen auch nach 1945 interessant blieb, bediente sie doch auch die geschichtspolitischen Bedürfnisse der DDR. „St. Servatius, as a remnant of a more distant, idealized past, was inserted into the new historical lineage oft the GDR and circumvented a direct confrontation with East Germany’s recent past.“ (S. 219)

Sehr viel rigider ging man nach 1945 mit Potsdams Altstadt um. Wiederaufbau und Neuaufbau, so zeigt es Michael Meng, waren zuvorderst Fragen städtischer Geschichtspolitik. Gebäude, die dem sozialistischen Leitbild entsprachen, wurden erhalten. So lässt sich erklären, dass in Potsdam ausgerechnet die Synagoge abgerissen wurde: „[A] site that conjured up memories of the Holocaust“ (S. 246) passte eben nicht zur antifaschistischen Selbstwahrnehmung. In Hamburg war der Umgang mit städtischen Spuren des Holocaust nicht minder problematisch, wie Natasha Goldman nachweist. Sie bietet einen Überblick zu Denkmälern im städtischen Raum von den späten 1940er-Jahren bis heute, worunter allerdings die historische Einbettung der Erinnerungsorte und Kontextualisierung der zeitgenössischen Debatten leidet. Das Gegenteil ist über den Beitrag von Susanne Schönborn zu sagen. Sie konzentriert sich auf wenige Erinnerungsorte zum Holocaust in Frankfurt am Main und ordnet diese in den städtischen Raum und zeitlichen Kontext ein. Bei ihrer Analyse zur Entstehungsgeschichte des Börneplatz-Denkmals arbeitet sie unterschiedliche Botschaften heraus, die ein Denkmal je nach Deutungsinteresse vermitteln kann. Schönborn zeigt damit auch, dass Konfliktlinien nicht nur durch die Stadt laufen können, sondern mitten durch Erinnerungsgemeinschaften wie die Jüdische Gemeinde, Parteien oder Bürgerinitiativen.

Die in dem Band verfolgte Analyse der Beziehungen von Raum und Erinnerung eröffnet immer dann neue Perspektiven, wenn sie die Steine sprechen lässt – wenn architektonische und städtebauliche Phänomene auf Akteure zurückgeführt und in gesellschaftliche Entwicklungen eingebettet werden. Dank dieser sozialgeschichtlichen Kontextualisierung wird deutlich, warum ein und dasselbe Bauwerk „widely different purposes“ erfüllen kann, wie Brian Ladd in seinem Epilog festhält (S. 295). Die Aufsätze sind folglich besonders ergiebig, wenn sie aus den Kapitel-Grenzen von „Reconstruction“, „New Construction“, „Perpetrator“ bzw. „Jewish Sites“ ausbrechen.

Insgesamt zeichnet der Band ein facettenreiches Bild der deutsch-deutschen Erinnerungskultur. In der Gesamtschau werden durchaus Gemeinsamkeiten der verschiedenen Fälle kenntlich. Fast alle Beiträge heben (erneut) hervor, dass mit den 1980er-Jahren eine Intensivierung von Holocaust-Erinnerungen einsetzte. Sehr viel älter hingegen war in vielen Städten eine eigentümliche Zweiteilung der Erinnerung. Während das entlastende Gedenken an die Stadt als Opfer des Krieges seit Ende der 1940er-Jahre in den Symbolhaushalt in Ost und West gehörte, projizierte man NS-Verbrechen lange Zeit nur auf eine Stadt: auf Berlin. Der Blick „beyond Berlin“ ist auch deshalb so ertragreich, weil er ganz neue Zusammenhänge zwischen Erinnerungspolitik und städtischer Identitätsstiftung aufzeigt.

Anmerkung:
1 Vgl. u.a. Peter Reichel (Hrsg.), Das Gedächtnis der Stadt. Hamburg im Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, Hamburg 1997; Habbo Knoch (Hrsg.), Das Erbe der Provinz. Heimatkultur und Geschichtspolitik nach 1945, Göttingen 2001. Eine der ersten monografischen Fallstudien hat Rosenfeld selbst vorgelegt: Gavriel D. Rosenfeld, Architektur und Gedächtnis. München und Nationalsozialismus. Strategien des Vergessens, München 2004; dazu: Christian Fuhrmeister: Rezension, in: H-Soz-u-Kult, 11.10.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-022> (14.07.2009).