S. Zahlmann: Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns

Titel
Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns. Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989


Autor(en)
Zahlmann, Stefan
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Lahusen, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Der Konstanzer Zeithistoriker Stefan Zahlmann beschäftigt sich seit Jahren mit einem Thema, das lange als das „große Tabu der Moderne“ (Richard Sennett) galt: dem Scheitern von Lebensentwürfen. So war er bereits Mitherausgeber des Bandes „Scheitern und Biographie“ – ein Werk, das diesem Tabu bereits in seinem Titel keinen Raum mehr lässt. In seiner nun vorliegenden Habilitation beleuchtet der Autor auf rund 350 Seiten die selbstreferentielle Facette des Themas: Scheitern und Autobiographie, den individuellen Versuch also, dem Scheitern einer Gesellschaft auf narrative Weise selbst Herr zu werden.

Dass gesellschaftliche Brüche und Krisen häufig mit der Produktion von Autobiographien korrelieren, ist kein zeithistorisches Phänomen. Vielmehr beginnt der Untersuchungszeitraum des Autors bereits 1865, mit dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs. Dieser markierte eine deutliche Zäsur im historischen Kontinuum, die eine Flut von Erinnerungstexten hervorrief: für die Autoren und Autorinnen bedeutete der historische Epochenbruch schließlich vor allem einen Einschnitt im eigenen Lebenszusammenhang. Indem Zahlmann dieser Situation die Zeit nach 1989 in West- und Ostdeutschland gegenüberstellt, rückt er ein Phänomen ins Zentrum seiner Untersuchung, das so bislang nur in der deutschen und amerikanischen Geschichte aufgetaucht ist: „Die Überwindung einer bewusst herbeigeführten nationalen Spaltung und der (auch) militärisch getragenen Anstrengungen zu ihrer Aufrechterhaltung durch das Scheitern einer der beiden Gesellschaften und eine anschließende Vereinigung.“ (S. 21) Im Anschluss ergeben sich für beide Fälle die gleichen Fragen: „Wie erinnert sich eine Nation an die Zeit ihrer Teilung und an das Scheitern des unterlegenen Staates? In den Medien der ‚Sieger’, in den USA wie auch der Bundesrepublik, sollten in der Folgezeit die Gesellschaftsordnungen der Konföderation und der DDR als undemokratisch, ökonomisch rückständig und zum Scheitern verurteilt dargestellt werden. Und wie erinnern sich die ‚Verlierer’?“ (S. 13)

Es geht dem Autor also um einen Vergleich zweier Erinnerungskulturen, der auf den ersten Blick reichlich abwegig erscheinen mag – zu offenkundig ist die fehlende Kongruenz von Raum und Zeit. Die parallele historische Grundkonstante aber erlaubt es, trotz des enormen zeitlichen und geographischen Unterschieds nach Ähnlichkeiten bzw. Unterschieden in narrativen Grundmustern, Selbst- und Fremdwahrnehmungen, Rechtfertigungsstrategien zu fragen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Autobiographien als zeitlich versetzte und unabhängig voneinander erfolgende kulturelle Auseinandersetzungen mit gleichartigen gesellschaftlichen Konstellationen lesen (S. 20).

Wie erinnern sich die „Verlierer“, fragt der Autor, und setzt dies ganz zu Recht in Anführungszeichen, denn seine Hauptquellen sind die Autobiographien der Eliten aus den Südstaaten bzw. aus Ostdeutschland, die in den Zeiträumen von 1866-1922 bzw. 1990-2004 verfasst wurden. Erinnerungstexten der „alten Eliten“ stellt er jeweils die Autobiographien der „Gegeneliten“ und der „neuen Eliten“ gegenüber. Mit diesem Elitenbegriff sind keine normativen Wertungen verbunden, lediglich die gesellschaftliche Funktion spielt für die Einteilung eine Rolle. Grob gesagt handelt es sich bei den „alten Eliten“ somit um die Entscheidungsträger in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Militär (S. 53); die „Gegenelite“ umfasst ehemalige Oppositionelle, Dissidenten oder Verweigerer. Zur „neuen Elite“ wiederum zählen die Personen, die als ehemalige Bürger der Confederate States of America (CSA) bzw. der DDR in der vereinigten Nation verantwortliche Positionen übernommen haben (S. 56).1

Autobiographien dieser Gruppen – wobei die Gegenelite und die neue Elite ob ihrer gemeinsamen Stoßrichtung, gegen die Narrative der alten Eliten anzuschreiben, auch gemeinsam analysiert werden – werden vom Autor als ein Segment kultureller Erinnerung interpretiert, als Arbeit an einem kulturellen Gedächtnis, das mit anderen Teilstücken zu konkurrieren hat (S. 67). Dabei geht es dem Autor darum, „das zu unterschiedlichen Momenten der neuzeitlichen Geschichte erkennbar Ähnliche und mitunter sogar Gleiche in den veröffentlichten autobiographischen Selbstwahrnehmungen und Gesellschaftsbeschreibungen […] zu untersuchen und hierfür Erklärungsmöglichkeiten anzubieten.“ (S. 14) Dazu hat Zahlmann mehrere hundert Quellen gesichtet, die er anhand repräsentativer Fallstudien auf rund 200 Seiten analysiert. Um die Konkurrenz der Erinnerungen zu verdeutlichen, greift er Themen auf, die von den Autobiographen mit dem Scheitern der CSA bzw. der DDR verbunden wurden: Für die Südstaaten sind das beispielweise „Die Sklaverei“ und „Die Darstellung des Nordens“, für die DDR Komplexe wie „Die Darstellung des Westens“ und „Die DDR als sozialistischer Staat“.

Dieser empirische Teil ist in zwei große Kapitel eingeteilt, beginnend mit „Die Erinnerungen der Eliten aus den Südstaaten“, worauf „Die Erinnerungen der Eliten aus Ostdeutschland“ folgen. Die „Zwischenergebnisse“, die sich an beide Kapitel anschließen, beschäftigen sich damit, welche Gesellschaftsform der gescheiterte Staat favorisierte und wie er seine Gegner und Krisenmomente charakterisierte. Die Kapitel beginnen jeweils mit „Biographische[n] Skizzen und Quellen“, wobei Zahlmann hier sinnvollerweise darauf verzichtet, die Selbstdarstellungen mit einer Fremddarstellung abzugleichen, und sich stattdessen darauf konzentriert, die Autoren in ihrer Rolle als Autobiographen zu porträtieren. So reich der Quellenfundus, aus dem hier geschöpft wird, so vielgestaltig sind die Themenkomplexe, die von den Autobiographen narrativ be- und verarbeitet werden. Dazu gehören zum Beispiel die Grundprinzipien des Zusammenlebens in den Südstaaten und die patriarchalischen Strukturen der Großpflanzer-Familien. Sie finden ihre Entsprechung in den Personen, die an der autobiographischen Erinnerungsarbeit beteiligt sind: geschrieben wird beinahe ausschließlich von Männern – Frauen, die zur Feder greifen, sind vor allem eines: Verwandte von Männern. (S. 108-119)

Ins Auge fällt, dass zentrale Erinnerungen der alten wie der neue Eliten sich gleichen, sei es der Topos von der „Ritterlichkeit der Männer“ oder der „Dienstbarkeit der Sklaven“ (S. 168) – in einem wesentlichen Punkt aber unterscheiden sie sich: Die Kapitulation des Südens ist für die alte Elite „nur eine Zäsur, die das Scheitern einer militärischen Durchsetzung ihres Anspruchs markiert“. Keineswegs ist damit also der Kampf um die Sache des Südens verloren, diese Entscheidung ist lediglich in die Zukunft verlegt, wie zum Beispiel ein Zitat Jefferson Davis’ zeigt: „The contest is not over, the strife not ended“ (S. 168).

Auch für die Vertreter der alten Elite der DDR bedeutet 1989 nicht das Ende „ihrer“ Sache. Vielmehr trennen sie in ihren Auseinandersetzungen „Staat“ und „Sache“ voneinander; so schreibt Jürgen Kuczynski:„In jedem Fall wird aber diesmal das System des Kapitalismus zusammenbrechen.“ Die Gegeneliten und neuen Eliten wiederum lasten die Schwächen des Gesellschaftssystems allein der politischen Praxis der alten Eliten an, sie distanzieren sich also lediglich von der bisherigen Verwirklichung, nicht aber von der Idee des Sozialismus (S. 266).

Damit ist nur ein winziger Teil der Analyse angesprochen, die in ihrer Gänze zeigt, dass sich hier in verschiedenen historischen Epochen weitgehend übereinstimmende autobiographische Erinnerungskulturen bildeten. Das wirft natürlich die Frage auf, ob mit Blick auf die untersuchten 40 Jahre nach 1865 ein Ausblick möglich ist, welche Erinnerungen an die DDR die nationale Zukunft gestalten werden. Doch ist in dieser Hinsicht Zurückhaltung geboten. In den USA mussten vier Jahrzehnte vergehen, um zu einem tragfähigen Konsens von Erinnerungen zu gelangen.

Es sind nur Kleinigkeiten, über die man in dem dichten, ab und an leider etwas sperrig geschriebenen Werk stolpert: So fragt sich Zahlmann, wieso die ostdeutschen Eliten „angesichts der Optionen moderner audiovisueller Medien zur Darstellung ihres Lebens eine Textgattung [nutzen], die wie keine andere in der Tradition bürgerlicher Selbstdarstellungen des 19. Jahrhunderts steht?“ (S. 294) Hier hätte man sich eine stärkere Differenzierung gewünscht, denn die ehemaligen Funktionäre schreiben ihre Autobiographien allesamt nach anderen Kriterien als bürgerliche Honoratioren. Zahlmann selbst stellt dar, wie sie sich in ihren Erinnerungen erneut ihrer Ideologie unterordnen, sich oftmals als winzigen Teil der kommunistischen Bewegung präsentieren. Dies ist ein erheblicher Unterschied zur üblichen bürgerlichen Selbstdarstellung, bei der der Autobiograph um das Herausheben seiner Individualität bemüht ist.2

Auch scheint die Überlegung, dass sich die ostdeutsche Gegenelite so rasch aus den öffentlichen Debatten zurückgezogen habe, weil sie „als einstige Kritiker des ostdeutschen Systems von den gesamtdeutschen Bürgern hierfür nicht dauerhaft mit Aufmerksamkeit, Dank und Respekt gewürdigt wurden“, eher fragwürdig – nicht nur, weil dahinter das Klischee vom „Jammer-Ossi“ durchschimmert. Vielmehr geht es wohl weniger um „Dank und Respekt“ als um die Tatsache, dass im größten Teil der bundesdeutschen Gesellschaft nach 1990 sehr bald jegliches Interesse für die Oppositionsgeschichte versandete.

Doch davon abgesehen ist Zahlmanns Analyse eine Fundgrube narrativer Strategien der Selbstverortung und -rechtfertigung und zeigt auf überzeugende Weise, wie viel Wissen Historiker aus der Arbeit mit Autobiographien ziehen können, ohne sie dabei als Faktensteinbruch zu behandeln. Zu Beginn seines Buches plädiert der Autor für „nichts Geringeres, als die große Wirkung von zentralen Ereignissen zweier Nationalgeschichten auf kollektive Selbstbilder hin neu zu interpretieren – als vergleichbare Phänomene innerhalb der sich modernisierenden Gesellschaften des westlichen Kulturkreises.“ (S. 14) Diese Neu-Interpretation ist ihm gelungen, eröffnet doch die parallele Analyse zweier getrennter Erinnerungsdiskurse auch einen anderen Blick auf eine bestimmte Vorstellung von Fortschritt, die keineswegs selbstverständlich ist. Schließlich gehören zu jedem Modernisierungsprozess auch Rückschritte und Widersprüche.

Anmerkungen:
1 Hierzu zählen auch Personen, die ehemals zur Gegenelite oder zur alten Elite gehörten – wichtig für ihre Zuordnung ist, dass ihr Status als ehemaliger Bürger der CSA bzw. der DDR konstitutives Moment in ihrer öffentlichen Wahrnehmung wurde (S. 56).
2 Petra Frerichs, Bürgerliche Autobiographie und proletarische Selbstdarstellung, Frankfurt am Main 1980.

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