U. Jensen u.a. (Hrsg.): Rationalisierungen des Gefühls

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Titel
Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880-1930


Herausgeber
Jensen, Uffa; Morat, Daniel
Erschienen
München 2008: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Timm, Geschichte der Gefühle, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Das Interesse verschiedener Wissenschaftsdisziplinen an der Erforschung von Emotionen ist gegenwärtig groß. Nachdem in den letzten beiden Jahrzehnten die Neurowissenschaften Gefühle zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machten und die psychologische Emotionsforschung aufwerteten, thematisieren nun auch die Sozial- und Kulturwissenschaften verstärkt Emotionen. Innerhalb der Geschichtswissenschaft wird in den letzten Jahren intensiv über die Rolle von Gefühlen nachgedacht, einschlägige Arbeiten für eine theoretische Fundierung der Emotionsgeschichte sowie zur Historizität von einzelnen Gefühlen sind bereits entstanden. Dabei erstaunt, dass Wissenschaftsgeschichte, wenn überhaupt, bisher nur in ideengeschichtlicher Perspektive in das neue Forschungsgebiet Eingang gefunden hat und Bezugnahmen auf die zeitgenössische Emotionskultur, in der Begriffe und Konzepte von Affekten, Gefühlen und Emotionen entwickelt wurden, zumeist ausgeblieben sind. Der von Uffa Jensen und Daniel Morat herausgegebene Sammelband, der auf die gleichnamige Tagung des „Arbeitskreises Geschichte + Theorie“ im Oktober 2006 zurückgeht 1, soll nun ein Schritt in Richtung einer Wissenschaftsgeschichte sein, in der auf das Wechselverhältnis von Emotionalität und Wissenschaft eingegangen wird.

Der Untersuchungszeitraum, die als „Aufbruch in die Moderne“ (S. 14) bezeichneten Jahre von 1880 bis 1930, war für die Wissenschaften mit weitreichenden Veränderungen verbunden. Professionalisierung und Institutionalisierung gingen verstärkt einher mit disziplinärer Ausdifferenzierung, vor allem mit der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften und der Expansion etablierter und der Konstituierung neuer Disziplinen. In der wissenschaftshistorischen Umbruchphase der „langen Jahrhundertwende“ kam damals der wissenschaftlichen, rationalen Beschäftigung mit Gefühlen eine zentrale Bedeutung zu und es zeigte sich darin auch das rege Bemühen um eine Verhältnisbestimmung von „Wissenschaft und Wirklichkeit, von Moderne und Nicht-Moderne, aber auch von Forscherdasein und Lebens- sowie Erlebniswelt“ (S. 16).

Für die Analyse der Verwissenschaftlichung des Emotionalen im Dienste moderner westlicher Selbstverhältnisse, aber auch für eine Historisierung der bis heute gängigen Gegenüberstellung von Wissenschaft und Emotionalität haben die Herausgeber den Beiträgern drei Themenkomplexe vorgegeben (S. 17), die, wenn auch mit unterschiedlicher Fokussierung, durchgängig in den einzelnen Aufsätzen bearbeitet werden. Zunächst werden für eine Wissenschaftsgeschichte der Gefühle Fragen beantwortet, die die geistes- und sozialwissenschaftliche Konzeptionalisierung von Emotionen betreffen. Demgegenüber wird zweitens in Annäherung an eine Gefühlsgeschichte der Wissenschaften nach der Relevanz von Emotionen in der Wissenschaftspraxis selbst und im Leben von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gefragt, um den systematischen Ort von Gefühlen im wissenschaftlichen Erkennen und Handeln näher bestimmen zu können. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gefühlen soll drittens in ihrem Verhältnis zur zeitgenössischen Emotionskultur betrachtet werden, um dadurch die Bedeutung der Verwissenschaftlichung des Emotionalen für die soziale Ordnung von Gefühlen einzuschätzen. Die in sechs Sektionen unterteilten 13 Einzelbeiträge zeichnen auf dieser Folie ein komplexes und differenziertes Bild der interdependenten Beziehungen zwischen Wissenschaft und Emotionskultur und lassen zukünftige Forschungen in diesem Feld als lohnenswert erkennen.

In der Zeit zwischen 1880 und 1930 betonte man in den Naturwissenschaften das körpergebundene und universalistische Moment des Emotionalen und provozierte eine Kontrastierung von Rationalität und Emotionalität. Aus lebensweltlichen Bezügen heraus und von Vertretern geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen wurde diese Dichotomie jedoch hinterfragt und der soziale, kontextuelle und historische Charakter von Gefühlen herausgestellt. Der Sammelband trägt dieser Beobachtung Rechnung und geht somit auf verschiedene Wissenschaftsdisziplinen ein, auf Anthropologie, Soziologie, Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Kunstgeschichte, Musik- und nicht zuletzt auf die Geschichtswissenschaft. Von den Beiträgen, deren Argumentationslinien komplex und deren Perspektiven vielfältig sind, können hier nur einzelne skizzenhaft vorgestellt werden.

In dem ersten Beitrag der Sektion „Gedächtniskultur und Geschichtswissenschaft“ geht Isabel Richter der wechselseitigen Einflussnahme von bürgerlicher Emotionskultur und wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse am Beispiel der Totenmasken nach, die im 19. Jahrhundert zunehmend im bürgerlichen Trauerritus und auch in phrenologisch-anthropologischen Sammlungen, wie etwa in denen von Carl Gustav Carus und Franz Joseph Gall, verwendet worden sind. Sie zeigt, dass die Motive von Wissenschaftlern und Trauernden differierten, beide aber in der Totenmaske auf spezifische Art mit dem als unheimlich empfundenen „Anderen“ konfrontiert waren, die einen typisierend, die anderen individualisierend.

Einen anderen Zugang zum Thema findet Daniel Morat in dem Themenblock „Philosophie der Gefühle“ bei der Betrachtung von Wilhelm Diltheys hermeneutischer Grundlegung der Geisteswissenschaften. Unter der geschilderten Aufgabenstellung des Bandes kommt man an einer Figur wie Dilthey freilich nicht vorbei. Im wissenschaftshistorischen Streit um die Zuständigkeit für Gefühle sprach dieser der verstehenden Psychologie eine zentrale Rolle innerhalb der Geisteswissenschaften zu, deren Gegenstand und methodischer Zugang Gefühle sein sollten. Die maßgeblich durch ihn etablierte Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften macht die Naturwissenschaften letztlich zu gefühllosen Nachvollziehern und erhöht die Geisteswissenschaftler zu Nachfühlenden und Verstehenden.

Der Frage, wie Emotionen historisch und soziologisch verstanden werden könnten, spürte neben Dilthey auch der Soziologe und realistische Phänomenologe Max Scheler nach. Dem stellte er das Unternehmen voran, eine systematische Theorie der Gefühle zu entwickeln, mit der zuallererst geklärt werden müsste, was Gefühle überhaupt sind. Matthias Schlossberger geht im zweiten Artikel der Sektion auf die Problematik ein, die Scheler in seiner philosophischen Gefühlstheorie bearbeitete, nämlich, wie die eigenen Gefühle als auch die der Anderen verstanden werden können. Die Notwendigkeit, vor jeder theoretischen Analyse von Gefühlen diese selbst erfahren zu haben, gehörte zu Schelers Grundannahmen. Seine innovativen Gedanken bieten, so Schlossberger, auch noch heute wichtige Anstöße für eine Theorie der Gefühle.

Welch entscheidenden Einfluss Gefühle auf das Werk von Wissenschaftlern haben, zeigt beispielhaft auch der Beitrag aus der vierten Sektion „Psychoanalyse und Psychophysik“ von Uffa Jensen zur Rolle von Emotionen in der Freudschen Psychoanalyse. Der Artikel lässt vor allem die Schwierigkeiten einer solchen Verhältnisbestimmung erkennbar werden, denn obwohl Gefühle in Freuds theoretische und praktische Arbeit durchaus Eingang fanden, stand er ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung argwöhnisch gegenüber. An der Figur der Gefühlsambivalenz und dem Zustand der Angst werden die engen Interdependenzen von Freuds Leben und Werk deutlich, was zugleich zu der vernachlässigten Differenzierung von Affekt und Gefühl in der Theorie des Wiener Analytikers beiträgt.

Auf ein interessantes Feld führen die Artikel von Pascal Eitler und Till Kössler in dem Themenblock „Gefühlszuschreibungen und Affektübertragungen“. Während der erste Beitrag die Emotionalisierung und Verwissenschaftlichung des Tier-Mensch-Verhältnisses im Deutschen Kaiserreich am Vivisektionsstreit, einer heftig geführten öffentlichen Debatte um 1900, in den Blick nimmt, geht der zweite Artikel auf den wissenschaftlichen Diskurs der frühen Kinderpsychologie im deutschsprachigen Raum ein, in dem den kindlichen Emotionen von Anfang an eine besondere Aufmerksamkeit zukam. Beide zeigen, wie die Vorstellung einer Distanz zwischen Mensch und Tier, aber auch zwischen Erwachsenem und Kind, bestimmenden Einfluss auf die Konstruktion des Emotionalen des erwachsenen Menschen (Mannes) hatte.

In den letzten drei Beiträgen der Sektion „Wissenschaft und Kulturerleben“ von Hansjakob Ziemer, Anja Schürmann und Martin Urmann wird der interdisziplinäre Forschungsansatz des Sammelbandes noch einmal auf besondere Weise betont. Hier wird auf die künstlerische Auseinandersetzung mit Wissenschaft eingegangen und die enge Verknüpfung zwischen neuen technischen Möglichkeiten und dem wissenschaftlichen Umgang mit Gefühlen nachgezeichnet. So beleuchtet Anja Schürmann, wie moderne Medien, die Fotografie und der Diaprojektor, Effekte auf die Theoriebildung der Kunst zeitigten, wie beispielsweise bei Jakob Burckhardt und Heinrich Wölfflin. Mit Hilfe der Fotografie etwa wurde in entscheidendem Maße die Beschreibungssprache von Kunstwerken systematisiert und somit zugleich das emotionale Erleben vom Bild auf die Sprache des kompetenten Kunstwissenschaftlers übertragen.

Der Sammelband hält, was er verspricht. Das gelingt vor allem dadurch, dass sich alle Autoren auf die eingangs gestellten Fragen beziehen und ein breites Spektrum an Ansätzen offen gelegt wird, das die Verhältnisbestimmung von Wissenschaft und Emotionen ermöglicht. Allerdings wird in den einzelnen Beiträgen auch immer wieder die Schwierigkeit erkennbar, das terminologisch offene Feld genau zu umreißen. Doch der Band überzeugt schon durch die Themenwahl, seine Differenziertheit und Komplexität. Eine wichtige Intention der Publikation, „ein Nachdenken über eine Verwissenschaftlichung des Emotionalen als Teil einer Geschichte neuer Selbstverhältnisse anzuregen“ (S. 14), erfüllt sich beim Lesen ohne Zweifel.

Anmerkung:
1 Vgl. den Tagungsbericht von Uffa Jensen, Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionalität 1880-1930. 26.10.2006-28.10.2006, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 20.12.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1422> (10.07.2009).

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