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Titel
Die Ära Stalin. Leben in einer totalitären Gesellschaft


Autor(en)
Werth, Nicolas; Grosset, Marc
Erschienen
Stuttgart 2008: Theiss Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Teichmann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die totalitären Regimes des zwanzigsten Jahrhunderts waren nicht nur Terrormaschinen, sondern auch gewaltige Werbeagenturen. Überall vermarkteten sie ihr Logo (Hakenkreuz, Hammer und Sichel, ein stilisiertes Rutenbündel, rote Fahnen), errichteten Bildtafeln, rollten Schriftbänder aus und schmückten Häuser und Briefmarken mit Portraits von lächelnden Männern und Schnurrbartträgern. Der Führer ist nicht allein Herrscher – sein Bild ist eine omnipräsente Ikone im Marketingsystem der Diktatur. Die Führerportraits und Parteilogos verkörpern dabei eine leicht veränderliche ideologische Substanz: Erst durch ihre Materialität stellen sie die vorgebliche Einheit der stets unsteten Generallinie der Partei her. Dem Marketingsystem der Diktaturen unterliegt die binäre Doppelstruktur ihrer Werbebotschaft, die einerseits Hass auf Feinde schürt und andererseits eine glückliche Zukunft verspricht. Und erst wenn man die visuellen Codes der Diktaturen entschlüsselt und ihre Marketingstrategien analysiert, kann man auch verstehen, warum menschenverachtende Kriegsherren geliebt wurden oder wie selbst erklärte Systemgegner dem Bann der Bilder und Zeichen unterliegen konnten.1

Lässt man diese Sicht der Dinge für einen Moment gelten, so erscheinen die Macher des Bandes „Die Ära Stalin“ als die letzten Opfer der stalinistischen Propaganda. Der Anspruch des Bildbandes ist es, den Stalinismus auf 250 Seiten voller Photographien zu präsentieren, die von einem Text umrahmt werden, der die epochalen Jahre zwischen 1929 und 1953 deuten und verständlich machen will. Erzählt wird eine Geschichte des Stalinismus in drei Teilen: „Die dreißiger Jahre: »Mit Volldampf in die Modernisierung«“, „Der Große Vaterländische Krieg“ und „Die Nachkriegsjahre“. Der Großteil der ausgewählten Bilder sind weitläufig bekannte Motive von berühmten sowjetischen Photographen wie Arkadi Schaichet, Alexander Ustinow und Jewgeni Chaldei. Ergänzt werden sie durch Plakate und Ausschnitte aus sowjetischen Propaganda-Zeitschriften. Das von Mark Grosset ausgewählte Bildmaterial hätte durchaus dazu dienen können, sich über Themen wie Propaganda und Kunst, Künstler in der Diktatur oder die Verwandlungen des Bildhaushalts im Stalinismus Gedanken zu machen. Doch nichts dergleichen geschieht.

Viele der präsentierten Photographen machten mit ihrer ästhetischen Weltvision Kunstgeschichte. Gleichzeitig aber lieferten sie dem sowjetischen Propagandaapparat die Bilder, in denen das Regime die Welt so zeigen konnte, wie es sie gern sehen wollte. Denn die Photographen waren Außentrupps der staatlichen Marketingabteilungen. Im vorliegenden Band wird dagegen schon im Vorwort die Rolle der Photographie im Stalinismus als „Missbrauch der Kunst“ fehlgedeutet, um „die gesamte Gesellschaft auf die Linie des Alleinherrschers einzuschwören“ (S. 7). Die Bildauswahl des Bandes spricht eine ganz andere Sprache. Sie vermittelt die Werbebotschaft weiter, die die Propagandamaschine Stalins pausenlos verkündete: Die sowjetische Darstellung der Welt ist identisch mit der Realität des sowjetischen Lebens. Fleißige Arbeiter und glückliche Bäuerinnen, lesende Sowjetmenschen und die inszenierte Modernität des Sowjetstaats schauen die Leser von mehr als der Hälfte der Bildseiten an.

Die Bildauswahl verwechselt die stalinistische Marketingstrategie mit der Lebensrealität im Stalinismus. Bilder von bekannten Photographen werden als vergangene Wirklichkeit präsentiert. Die Realitätsinszenierung in den Photographien wird durch die Autoren noch verstärkt, indem sie neben den vielen (schönen!) Propaganda-Bildern vom glücklichen Leben unter Stalin und bekannten Bildern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auch Photos und Zeichnungen aus den GULag-Lagern abdrucken (S. 112-119, 220-235). Die so hergestellte Illusion von Echtheit und Vollständigkeit des gesamten präsentierten Materials kann auf Leser nur irritierend wirken. Es bleibt unklar, welche Bilder zu Lebzeiten Stalins veröffentlicht wurden, welche Bilder nach 1953 gezeigt werden durften oder welche erst in der Perestroika-Zeit auftauchten. Es bleibt auch unklar, warum bestimmte Typen von Bildern nicht in die Auswahl aufgenommen wurden.2 Um aber ein politisches System zu verstehen, das seinen Bildhaushalt penibel kontrollierte und keine Mühe in der propagandistischen Realitätsinszenierung scheute, sind solche Informationen unabdingbar. Die Autoren hätten sich lieber auf die Arbeiten bekannter sowjetischer Photographen beschränken3 – oder aber ausschließlich Propagandamaterialien aus den Stalin-Jahren abdrucken sollen.

Der begleitende Text von Nicolas Werth will die Geschichte der Stalinzeit möglichst umfassend und trotzdem allgemeinverständlich erzählen. Doch nur an wenigen Stellen macht der Text den Versuch, die Botschaft der Bilder zu unterlaufen (S. 198-203). Die Leser lernen dagegen den Stalin der 1930er-Jahre kennen, der einerseits als „Führer in der Defensive“ und andererseits als „brillanter Taktiker“ dasteht (S. 17). Auch die Einschätzung der Industrialisierung und Kollektivierung bleibt ambivalent: Einerseits handele es sich um opferreiche Pyrrhussiege, die nicht zu einer nachhaltigen Veränderung der bäuerlichen Arbeitsweise oder zu einer Verbesserung der urbanen Infrastrukturen geführt hätten (S. 44-45, 72-76). Andererseits hätten der Ausbau der Industriekapazitäten und die Verlagerung der Schwerindustrie nach Westsibirien später, im zweiten Weltkrieg, einen strategischen Vorteil bedeutet (S. 48). Kapitelüberschriften wie „Zeit des Mangels, Zeit der Utopien“ oder „Die schwarze Seite des Stalinismus: Terror und Gulag“ unterstreichen die binäre Grundstruktur in Nicolas Werths Bewertung des Stalinismus. Mit ganz anderen Inhalten strukturierten Schwarz-Weiß-Bilder auch das Eigenmarketing des stalinistischen Regimes.4

Im zweiten Weltkrieg erwies sich das System Stalins nach den Katastrophen der Vorkriegszeit als „erstaunlich funktionstüchtig, auch wenn die Rettung des Vaterlands gewaltige Opfer kostete“ (S. 122). Werth schildert den sowjetischen Kampf nach dem deutschen Überfall im Sommer 1941 als patriotischen „Großen Vaterländischen Krieg“, der Stalins Herrschaft am Kriegsende „neue Legitimität“ (S. 199) verliehen hätte: „Die siegreichen sowjetischen Soldaten denken gar nicht daran, das System, das sie geprägt und ausgebildet hat, zu hinterfragen. Und noch weniger üben sie Kritik an Stalin, der in ihren Augen die Kraft verkörpert, die den deutschen Besatzer aus ihrem Land verjagt hat.“ (S. 175) Erst im Nachsatz wird diese Wertung differenziert, wenn Werth den Hitler-Stalin-Pakt erwähnt (S. 127, 138 f., 220) oder Stalins Schuld an den hohen sowjetischen Kriegsverlusten thematisiert (S. 127-132). Dieser erzählerische Kunstgriff erlaubt es Werth jedoch, die bittere Enttäuschung der sowjetischen Bevölkerung plastisch herauszuarbeiten, als nach 1945 der Wiederaufbau des Landes mit den Methoden der 1930er-Jahre aufgenommen wurde, die Hungersnot von 1946/47 eine weitere Millionen Tote forderte und der GULag 1953 schließlich mit 2,8 Millionen Häftlingen überfüllt war.

Wie das Presseecho auf den Bildband „Die Ära Stalin“ zeigt, sind dem Buch eine positive Rezeption und eine weite Verbreitung gewiss. Dazu trägt das falsche Versprechen des Verlags, die Publikation enthalte „250 hier erstmals veröffentlichte Photos“ genauso bei, wie der bekannte Name von Nicolas Werth, der eine kurze und eingängige Geschichte der Stalinjahre vorgelegt hat. Doch der Band ist vor allem eine verpasste Chance. Er trägt weder dazu bei, einer breiteren Öffentlichkeit wirklich neue Bilder des Stalinismus zu zeigen, noch die innere Logik und die Besonderheiten dieses Systems aus einer originellen Perspektive zu beleuchten. Vielmehr bleibt er in der Binarität des sowjetischen Eigenmarketings gefangen und kann sich gegen die anmaßende Realitätsbehauptung der sowjetischen Propaganda nicht durchsetzen.5 In Perestroika-Zeiten wäre die Publikation sicherlich eine Sensation gewesen. Heute fragt man sich: Sollten gerade Bilder von lachenden Traktorfahrern und eines Pfeife rauchenden Diktators die Erinnerung an den Stalinismus prägen?

Anmerkungen:
1 Steven Heller, Iron Fists. Branding the 20-th Century Totalitarian State, London 2008, S. 8-11.
2 Wie etwa Photos von Verhafteten aus den Ermittlungsakten des Geheimdienstes, vgl. den Photoeinschub bei Aleksandr Vatlin, Terror rajonnogo masštaba, Moskau 2004, S. 128-129 (nur teilweise abgedruckt in der deutschen Ausgabe: Tatort Kunzewo. Opfer und Täter des Stalinschen Terrors 1937/38, Berlin 2003, bes. S. 125-128, 147-160).
3 Auch fehlen dem Band Arbeiten einiger großartiger sowjetischer Photographen, wie beispielsweise die von Max Penson, Usbekistan. Dokumentarfotografie 1925-1945 von Max Penson, Bern 1996; Max Penson, Photoarchive by Dina M. Khodjaeva, Moskau 2006 und <http://www.maxpenson.com/en/>.
4 Vgl. Evgeny Dobrenko, Socialism as Will and Representation, or What Legacy Are We Rejecting?, in: Kritika 5 (2004), S. 675-708.
5 Andere Bildbände leisten dies vorbildlich, vgl. Tomasz Kizny, Gulag, Hamburg 2004 oder Ernst Volland / Heinz Krimmer (Hrsg.), Jewgeni Chaldej – Der bedeutende Augenblick. Eine Retrospektive, Leipzig 2008.

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