K. Hruza (Hrsg.): Österreichische Historiker 1900-1945

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Titel
Österreichische Historiker 1900-1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts


Herausgeber
Hruza, Karel Jan
Erschienen
Anzahl Seiten
859 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pavel Kolar, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die österreichische Zeitgeschichtsschreibung bemüht sich seit mindestens zwei Jahrzehnten um eine kritische Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten des österreichischen zwanzigsten Jahrhunderts, und die Wissenschaftsgeschichte steht nicht abseits dieses Forschungstrends: Biographische, institutions- wie disziplinengeschichtliche Untersuchungen tragen vermehrt dazu bei, die bisher verdrängte Vergangenheit auch auf dem Gebiet der Wissenschaft aufzuarbeiten. Die Historiographiegeschichte steht dabei im Mittelpunkt dieses Bemühens und der von Karel Hruza herausgegebene umfangreiche Band kann als eine Krönung der bisherigen Forschungsarbeit bezeichnet werden.

Das Buch enthält insgesamt neunzehn biographische Einzelstudien über österreichische Historiker (und eine Historikerin), die im Zeitraum von 1900-1945 wissenschaftlich tätig waren. In seiner Einleitung plädiert der Herausgeber für einen methodisch breit gefächerten, kultur- und sozialgeschichtlich inspirierten wissenschaftsbiographischen Ansatz, der unter anderem mit analytischen Begriffen wie Generation oder Habitus arbeitet, institutionelle Aspekte einbezieht und überhaupt die Zeitbedingtheit der Wissenschaft durch die politische Gegenwart wahrnimmt. Eine solche stringente Historisierung sollte dabei die verengend teleologische Perspektive zu vermeiden helfen, die einerseits die Einschränkung auf die „Klassiker“ mit sich bringt, andererseits mögliche Alternativen als „Abweichungen“ und „Irrwege“ disqualifiziert und aus der Geschichte der Disziplin verbannt und ihre Bedeutung für den zeitgenössischen historischen Kontext negiert.

Was verbindet die sehr gut recherchierten und eine Vielfalt an neuem Material liefernden Wissenschaftlerporträts? Als erster gemeinsamer Nenner ist das vor allem durch die „Verstrickung“ in den Nationalsozialismus thematisierte Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik respektive Ideologie hervorzuheben. Neben der unverhüllten Politisierung der Geschichtswissenschaft und ihrer Indienstnahme für politische Zwecke, wie sie am deutlichsten etwa in den Arbeiten zur Kriegsschuldfrage Ludwig Bittners, der unermüdlichen Anschlusspropaganda Wilhelm Bauers oder in der anglophoben Kriegshetze Heinz Zatscheks ihren Ausdruck fand, scheint gerade die Zone der subtilen Politisierung der „eigentlichen Forschung“ von Interesse, bzw. politische Aspekte der Tätigkeit jener Historiker, die sich grundsätzlich als „reine Wissenschaftler“ verstanden haben. So zeigt sich etwa im Beitrag über Raimund F. Kaindl (Alexander Pinwinkler), wie anhand von scheinbar neutralen statistischen Kategorien „völkische Abgrenzungen“ konstruiert und diese dann durch unreflektierte Metaphorik verselbstständigt wurden. Als ein weiteres Beispiel dieser Politisierung durch Wissenschaft kann die sich als streng wissenschaftlich verstehende Diplomatik erwähnt werden, etwa bei Hans Hirsch und Heinz Zatschek, die seit den 1930er-Jahren zunehmend als Beitrag zur „Volksforschung“ umdefiniert wurde. Es wird deutlich, dass nicht nur zweitrangige, sondern führende Fachvertreter und „solide Wissenschaftler“ sich oft aktiv in den Dienst der NS-Ideologie gestellt haben.

Bezogen auf das Problemfeld Wissenschaft und Politik bringen die Beiträge viel Neues in die Diskussion über die „Volksgeschichte“ ein und präzisieren dabei den Stellenwert der österreichischen Geschichtswissenschaft in diesem Kontext. Aufschlussreich scheinen die Ausführungen Thomas Buchners über Alfons Dopsch, auf dessen Bedeutung als einem der Vorläufer der Volksgeschichte zwar bereits aufmerksam gemacht wurde, ohne dass allerdings seine konkrete Position in diesem Rahmen ausgemacht worden wäre. Zwar zeigt Buchner, dass Dopsch am Diskurs der Volksgeschichte partizipierte, zugleich macht er jedoch durch einen präzisen Vergleich etwa mit den Arbeiten von Herrmann Aubin, Otto Höfler oder Otto Brunner deutlich, wo die Grenzen des volksgeschichtlichen Paradigmas liegen. Vor allem in der Diskussion über die „germanische Kontinuität“ zeigte sich Dopschs klar abweichende Stellung von der Volksgeschichte, indem er an einer positiven Bewertung von „Mischkultur“ als produktivem Element der Geschichte festhielt. Ausdrücke wie „völkische Substanz“ oder „mit germanischem Wesen durchsäuerte Zone“ waren Dopschs Vokabular fremd, zu tief wurzelte sein Denken im Evolutionismus des 19. Jahrhunderts.

„Ambivalenz“ ist die oft gezogene Schlussfolgerung, wenn es um das Verhältnis der österreichischen Historiker zum Nationalsozialismus und Antisemitismus geht. Natürlich gab es unter den Vertretern des Faches überzeugte, fanatische Nationalsozialisten. Trotzdem ist es nicht ganz ohne Bedeutung festzustellen, dass auch solche NS-Fanatiker wie Harold Steinacker ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu ihren jüdischen Kollegen unterhielten (Beitrag Renate Spreitzer). Ein ambivalentes Verhaltensmuster, wie Helmut Maurer nachweist, ist auch bei Theodor Mayer zu beobachten, der sich von seinen Leitungspositionen her für jüdische Kollegen einsetzte und wiederholte Konflikte mit den Parteiinstanzen austragen musste.

Gerade durch den integrierenden Biographieansatz, der die wissenschaftliche Einzelkarriere mit der Entwicklung der Disziplin und den Veränderungen des gesellschaftlich-politischen Umfeldes verbindet, zeigen sich einige Historikerleben als voll von Brüchen und Widersprüchen. Neben dem erwähnten Theodor Mayer, dessen Karriere sich mit den vielen Stationen Wien, Prag, Gießen, Freiburg, Marburg, Berlin und Konstanz als äußerst diskontinuierlich darstellt, intellektuell aber eine klare Kontinuität aufweist, ist in diesem Zusammenhang auf das verwickelte Leben des Prager Kirchenhistorikers Eduard Winter hinzuweisen, der den Weg vom katholischen Altösterreicher über den pro-tschechoslowakischen Aktivisten hin zum Institutsdirektor an der Reinhard-Heydrich-Stiftung durchmachte, um schließlich als Direktor der Geschichte der Völker der UdSSR an der HU-Berlin und Mitglied der DDR-Akademie seine Karriere zu beenden.

Was in den meisten Beiträgen hätte etwas stärker zum Vorscheinen kommen können, ist die vom Herausgeber betonte Einbettung der österreichischen Historiographie in den internationalen Rahmen, sowohl in Hinsicht auf die Rezeption ausländischer Ansätze und Methoden als auch bezüglich der „Ausstrahlung“ der österreichischen Geschichtswissenschaft nach außen. Hier hätte man meines Erachtens noch mehr die Chance nutzen können, die in der deutschen historiographiegeschichtlichen Meistererzählung oft übersehene österreichische bzw. deutsch-böhmische Geschichtsschreibung mit ihrer Bedeutung für den gesamtdeutschen Wissenschaftskontext hervorzuheben. Diese kommt z.B. in dem Beitrag von Andreas Zajic über Hans Hirsch deutlich hervor, dessen Einfluss in der Zwischenkriegszeit weit über Österreichs Grenzen hinausreichte und der einer der wichtigsten Gestalter der gesamten deutschsprachigen Mediävistik war. Auch wäre generell die Bedeutung des Instituts für österreichische Geschichtsforschung für die moderne Mittelalterforschung stärker auszuarbeiten. Was die Ausstrahlungskraft der österreichischen Geschichtswissenschaft über den deutschsprachigen Raum hinaus angeht, so wird sie neben Dopsch, dessen Arbeiten in Frankreich und England bekannt waren und dessen Wiener Seminar für Wirtschafts- und Kulturgeschichte eine Art Drehscheibe der internationalen Forschung war, auch anhand der Wirkungsgeschichte des Werkes des Religionshistorikers Josef Loserth deutlich, dessen Studien zu Hus und Wicliff vor allem in England breit rezipiert wurden (Beitrag von Pavel Soukup). Neben dieser räumlichen Ausweitung der österreichischen Geschichtsschreibung könnte auch – trotz der zeitlichen Begrenzung auf das Jahr 1945 – die chronologische Nachwirkung der österreichischen Geschichtswissenschaft in die Nachkriegszeit hinein berücksichtigt werden, wie etwa die Beispiele von Theodor Mayer oder Eduard Winter demonstrieren. Hier zeigt sich das Fehlen eines Beitrages über Otto Brunner als besonders spürbare Lücke.

Bezüglich der Art, wie man eine Wissenschaftlerbiographie schreibt, bleibt zu fragen, ob die in den meisten Beiträgen gewählte Gliederung in die Abschnitte Leben – berufliche Laufbahn – wissenschaftliches Werk – politische Denkwelt – immer die bestmögliche war. Denn zuweilen wirkt diese Strukturierung etwas schematisch, die erwünschten Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Bereichen kommen nicht genügend ans Licht und Wiederholungen sind kaum vermeidbar, was die Lesbarkeit der Beiträge mitunter beeinträchtigt. Eine darstellerisch günstigere Methode scheint dagegen Helmut Maurer gewählt zu haben, der chronologisch vorgeht und eine kompakte und plastische Darstellung vom Leben und Werk Theodor Mayers vorlegt.

Der Band „Österreichische Historiker“ enthält nur scheinbar rein Biographisches: Vielmehr behandelt er Zentralfragen der Wissenschafts- und Politikgeschichte, wie das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ideologie, zwischen Institution und wissenschaftlichem Einzelwerk oder zwischen kontinuierlicher akademischer Karriere und einer brüchigen politischen Gegenwart. Wünschenswert scheint eine Fortführung dieser historiographiegeschichtlichen Arbeiten in breiteren zentral- wie gesamteuropäischen Zusammenhängen.

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