M. Seewald: Studien zum 9. Buch von Lucans Bellum Civile

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Titel
Studien zum 9. Buch von Lucans Bellum Civile. Mit einem Kommentar zu den Versen 1-733


Autor(en)
Seewald, Martin
Reihe
Göttinger Forum für Altertumswissenschaft, Beihefte N.F. 2
Erschienen
Berlin 2008: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIII, 507 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Seewalds „Studien zum 9. Buch“ des Bellum Civile enthalten seine überarbeitete und erweiterte Göttinger Dissertation von 2001 1 und zudem drei im Umfeld der Dissertation entstandene Aufsätze. Dass in den 1990er-Jahren gleich drei Kommentare zu dem lange vernachlässigten und mit 1108 Versen umfangreichsten Buch der Pharsalia in Arbeit waren, zudem alle im deutschsprachigen Raum, wusste damals offenbar niemand. Doch im Nachhinein schenkt diese Laune des Schicksals uns gleich drei Werke zu dem wohl schwierigsten Part dieses schwierigen Epos: von Christian Raschle (Verse 587-949, die Schlangenepisode), Claudia Wick (das ganze Buch neun) und eben Seewald.2

In seiner Einleitung geht Seewald zunächst auf die Rolle dieses Buches im Epos ein: Nach Pompeius’ Ermordung etabliert Lukan Caesars entscheidenden Widersacher, den stoischen Säulenheiligen Cato (vgl. u.a. S. 27). Vor allem aber bietet Seewald eine nach Sinnabschnitten gegliederte Paraphrase der kommentierten Verse, mit besonderem Augenmerk auf Lukans Quellen und seinen höchst kreativen Umgang mit ihnen. Das luftige und höchst augenfreundliche Druckbild macht sich vor allem beim Kommentar angenehm bemerkbar.3 Die Lemmata fallen in der Regel deutlich knapper aus als bei Wick (die im Übrigen die Arbeiten ihrer beiden Mitstreiter noch auswerten konnte) und unterscheiden sich nicht nur in zahllosen Details 4, sondern vielerorts auch in den Schlussfolgerungen und Urteilen. Vor allem aber lesen sie sich vorzüglich. Das liegt an Seewalds Fähigkeit, auch komplexe Gegenstände so konzise wie anschaulich in einer angenehm klaren, zugleich eleganten Diktion zu schildern und sie in einprägsamen Wendungen auf den Punkt zu bringen. Diese rhetorische Gabe macht die Lektüre der Arbeit zum genuinen Vergnügen.

Wie sieht dies im Einzelnen aus? Den Syrten, den gefürchteten Untiefen vor den Küsten Libyens und Tunesiens (9,303-318), widmen etwa beide etliche Seiten. Wick (Bd. II, 111ff.) ist in ihren maritimen und kosmologischen Daten ausführlicher – etwa wenn sie die Vorstellung von den Gestirnen, die sich von Wasserdunst ernähren, zurückverfolgt bis zu den Vorsokratikern. Doch auch Seewald glänzt mit erhellenden Details, zum Beispiel mit Parallelen zur platonischen Kosmogonie (S. 179) oder zur Rolle der Brandung in der Dichtung (S. 181). Nicht selten bietet Seewald mehr als Wick: Zu Vers 99 etwa (deceptaque vixi) kommt er auf einen Topos der Totenklage zu sprechen, den „Vorwurf der Untreue“ (S. 74), zu dem Wick schweigt.

Exquisit lesen sich Seewalds Exkurse, etwa zu Drachen und Riesenschlangen als Hütern mythischer Schätze, zu Tacitus’ skeptischem Referat des Phönixmythos, zu „Erzfeindschaften“ unter Tieren 5 oder zum Raub der Hesperidenäpfel in Lukans Fassung (alles S. 207-210 bzw. 373). Seine Belesenheit verraten beispielsweise die spätantike Anekdote des Sulpicius Severus zu den Nasamonen (S. 252), die Lukan als barbarische Nomaden schildert (nicht unähnlich den Tusken-Räubern aus Starwars 2), oder der Ausflug in die Commedia dell’arte, die den Mythos um die Schilde der Salier ins zoologische Fach transponiert (S. 267). Und Seewald hat ein Auge für das Essentielle. Wo Wick beispielsweise den Versen 101-105 eine penible, fast langatmige Exegese widmet, aus der sich der rote Faden erst allmählich herausschält (Bd. II, 38-40), kommt Seewalds Analyse gleich auf den Punkt: „Ein dunkles Paradox: Cornelia begeht Selbstmord, indem sie sich nicht tötet“ (S. 75f.; zit. 75).

Gelehrsamkeit und Scharfsinn stellt Seewald jedoch vor allem in den drei Aufsätzen des Anhangs unter Beweis: „I. Lucan. 9,411-420 und die TO-Karte“, „II. Lucans Cato, die Antipoden und das römische Herrscherlob“ und „III. Ein Anonymus der frühen Kaiserzeit. Zu Lucan. 9,167-185 und Tac. ann. 3,1-2“. Der dritte Text ist ein Glanzstück historischer, der zweite ein Paradigma literarischer Quellenkritik, das von der Alexandertopik über Cicero, Vergil und das kaiserzeitliche Herrscherenkomion zu Lukan führt. In Text eins schließlich gelingt Seewald eine von spätantiken Quellen und mittelalterlichen Karten inspirierte geo- und kartographische Rekonstruktion des lukanischen Weltbildes. Schon diese drei Texte dürften genügen, um ihn als Lukan-Exegeten ersten Ranges zu etablieren.

Umso trauriger, dass dieser Band das einzige Zeugnis eines seltenen philologischen Talents bleiben wird. Wie man auf den ersten Seiten erfährt, ist sein Autor ähnlich jung gestorben wie sein Studienobjekt Lukan, und wie jener über einem unvollendeten Werk (geplant war ursprünglich ein Gesamtkommentar zu Buch neun). Den beiden Herausgebern, G. Kloss und J. Radicke, gebührt Lob für die Umsicht und Sorgfalt, mit der sie die Manuskripte ihres Weggefährten betreut haben. Nicht nur die Freunde Lukans werden es ihnen danken.

Anmerkungen:
1 Publiziert im Internet unter folgender URL: <http://webdoc.sub.gwdg.de/diss/2002/seewald/seewald.pdf> (22.06.2009).
2 Christian Rudolf Raschle, Pestes harenae. Die Schlangenepisode in Lucans Pharsalia (IX 587–949). Einleitung, Text, Übersetzung, Frankfurt am Main 2001; Claudia Wick (Hrsg.), M. Annaeus Lucanus, Bellum civile, liber IX, Bd. 1: Einleitung, Text und Übersetzung; Bd. 2: Kommentar, München 2004.
3 Ein winziger Makel: S. 301-303 sind die Unterschriften zu den drei astronomischen Abbildungen unglücklich verrutscht.
4 Ein kleines Beispiel vom Anfang: zu Vers 5 niger … aer denkt Wick (Bd. II, 11f.) an die dunstig-trübe Luft unterhalb des Äthers, Seewald (S. 38) an den „nächtlichen Sternhimmel“.
5 Im Fall Lukans Elefant und Python.

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