J. Hahn: Drei Karrieren im Sanitätsdienst der SS

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Titel
Grawitz / Genzken / Gebhardt. Drei Karrieren im Sanitätsdienst der SS


Autor(en)
Hahn, Judith
Erschienen
Anzahl Seiten
543 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Fuchs, Institut für Geschichte der Medizin, Charité Berlin

Die Untersuchung der Historikerin Judith Hahn ist medizingeschichtlich ausgerichtet und setzt sich mit NS-Tätern auseinander. Drei hoch qualifizierte Mediziner und zugleich führende Akteure im Sanitätsdienst der SS nimmt die Autorin in den Blick: den Internisten, „Reichsarzt SS und Polizei“ und Geschäftsführenden Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes Ernst Robert Grawitz (1899-1945), den Marinearzt und Chef des Sanitätsamtes der Waffen-SS Karl Genzken (1885-1957) sowie den Chirurgen, Professor für Sportmedizin, Leiter der Heilanstalten Hohenlychen und Obersten Kliniker der Waffen-SS Karl Gebhardt (1897-1948). Die Publikation ist die überarbeitete und leicht gekürzte Druckfassung der 2007 an der Freien Universität Berlin am Friedrich-Meinecke-Institut angenommenen Dissertation.

In der Forschung über Medizin und Mediziner im Nationalsozialismus blieben die SS-Ärzte Grawitz und Genzken bislang weitgehend unberücksichtigt. Nur Gebhardt hat etwas größere Aufmerksamkeit erfahren, wobei der Fokus des wissenschaftlichen Interesses primär auf die Beteiligung der Akteure an der Organisation und Durchführung medizinischer Versuche an Häftlingen in Konzentrationslagern gerichtet war. Zwar beschäftigt sich auch Hahn mit diesem Aspekt, wenn sie die zentrale Frage zu klären sucht, wie diese drei Mediziner, deren berufliche Sozialisation und anfängliche (militär-)ärztliche Tätigkeit in den Zeitraum von Kaiserreich und Weimarer Republik fällt, zu Tätern in der Zeit des Nationalsozialismus wurden. Um zu Antworten zu gelangen, wählt sie jedoch ein methodisch anderes Vorgehen und wendet sich perspektivisch den wissenschaftlichen, militär- und SS-ärztlichen Werdegängen und Betätigungsfeldern zu, die diese drei Mediziner erst in die Lage versetzten, sich aktiv an verbrecherischen Humanexperimenten zu beteiligen.

Hahns besonderes Interesse gilt dabei der doppelten Zugehörigkeit der drei Protagonisten zur medizinisch-wissenschaftlichen Fachelite einerseits und zur Funktionselite der SS andererseits; denn im Gegensatz zu anderen akademischen Eliten, die sich in den Dienst des NS-Regimes stellten, arbeiteten Grawitz, Genzken und Gebhardt eben nicht nur im Auftrag oder in Kooperation mit der SS, sondern sie bekleideten dort selbst höchste Ämter. Hahns Erkenntnisinteresse ist weder psychologisch begründet noch auf die Klärung der Frage nach dem „Warum“ ausgerichtet. Vielmehr zielt die Arbeit darauf ab, das „Spezifische wie das gesellschaftlich Typische am Handeln der Mediziner“ (S. 19) zu verdeutlichen. Anders gesagt: Inwiefern ist die individuelle berufliche Laufbahn, der jeweils persönliche Aufstieg von Grawitz, Genzken und Gebhardt nur unter den spezifischen Bedingungen des NS-Regimes zu verstehen bzw. inwieweit lassen sich die professionellen Karrierewege dieser drei Mediziner zurückführen auf Bedingungen und Mechanismen, die auch außerhalb des NS-Kontextes wirksam waren und somit der Sphäre von „Normalität“ zuzuordnen sind. Hahn möchte in Erfahrung bringen, welche Interessen Grawitz, Genzken und Gebhardt mit der Planung und Durchführung von Experimenten an Menschen verfolgten und ob es eine „SS-spezifische“ Medizin gab oder ein SS-spezifisches Medizinverständnis vorherrschte, das sich von den sonstigen medizinischen bzw. gesundheitspolitischen Vorstellungen des NS-Regimes unterschied.

Um zu differenzierten Antworten auf diese Fragen zu gelangen, rekonstruiert Hahn den jeweiligen beruflichen Werdegang und die Karriereverläufe der drei Mediziner im gemeinsamen Schnittfeld ihrer Tätigkeit im SS-Sanitätsdienst. In Anknüpfung an die jüngere sozialhistorische Forschung ermittelt die Autorin die persönlichen Netzwerke und das professionelle Umfeld, in dem sich die militärischen und ärztlichen Karrieren der drei NS-Täter entfalteten. Zentrale Bedeutung misst sie der Untersuchung der vielschichtigen Wechselbeziehungen und Verschränkungen von individuellem Handeln und den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen zu, in denen Grawitz, Genzken und Gebhardt tätig waren. Zur Analyse dieses Spannungsfeldes greift sie auf Pierre Bourdieus Theorie des „sozialen Raums“ zurück und wendet dessen sozialhistorisches Modell von „Habitus“ und „Feld“, verstanden als zwei Existenzweisen des Sozialen, auf ihren Untersuchungsgegenstand an.

Die chronologisch gegliederte Studie umfasst vier übergreifende Kapitel und Zeitabschnitte, die dem jeweiligen individuellen Karriereweg der Mediziner und der parallel dazu verlaufenden professionellen Fortentwicklung im SS-Sanitätsdienst entsprechen. Hahn unterscheidet 1. die Phase der beruflichen Sozialisation und der Berufsausübung bis zum Beginn der NS-Herrschaft bzw. bis zur aktiven Mitarbeit im SS-Sanitätsdienst 1935/36; 2. die Vorkriegsphase, die insbesondere durch den Aufbau des SS-Sanitätsdienstes markiert war; 3. die erste Kriegsphase bis zur Winterkrise 1941/42, in der der berufliche Aufstieg der drei Mediziner und die Umwandlung des SS-Sanitätsdienstes in einen Kriegssanitätsdienst erfolgte und 4. die letzte Kriegsphase. Jedem der vier Hauptkapitel sind zwei Unterkapitel zugeordnet, von denen das erste die Entwicklung des SS-Sanitätsdienstes im entsprechenden Zeitabschnitt berücksichtigt, während sich das zweite der Entfaltung der Einzelkarrieren zuwendet. Jedes Unterkapitel schließt mit einem Zwischenergebnis ab, in jedem der vier übergreifenden Kapitel reflektiert Hahn abschließend den Verlauf und den Stand der Karriereentwicklung sowie die von Grawitz, Genzken und Gebhardt entwickelten Handlungsstrategien. Angesichts des beachtlichen Umfangs der Publikation ist dieser klare Aufbau notwendig und hilfreich. Das streng strukturierte Vorgehen Hahns macht ihr Buch darüber hinaus nicht nur unter der Frage nach dem „Wie“ der Täterschaft interessant. Mit der sorgfältigen und detailreichen Rekonstruktion der beruflichen Karrieren von Grawitz, Genzken und Gebhardt und der umfassenden Darstellung der Entwicklung des SS-Sanitätsdienstes leistet es darüber hinaus einen grundlegenden kollektivbiographisch wie institutionsgeschichtlichen Beitrag.

Erstmals stellt die Autorin den SS-Sanitätsdienst in seiner Entwicklungsgeschichte umfassend dar, indem sie zunächst an die Forschung zur Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ vor Kriegsbeginn anknüpft, sich aber einem Bereich der SS zuwendet, für den bisher noch keine eigenständige Untersuchung vorliegt.1 Neben der Institution SS-Sanitätsdienst zeichnet sie die Geschichte der Heilanstalten Hohenlychen bei Templin nach, wobei sich erst über die Einbindung der beruflichen Entwicklung Gebhardts in den größeren Zusammenhang von SS-Sanitätsdienst und ärztlich-medizinischen Netzwerken die Bedeutung dieses Sportsanatoriums erschließt. Nicht zuletzt spezifiziert die Autorin die Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes während der Zeit des Nationalsozialismus, indem sie die Perspektive der SS auf das DRK untersucht. Mit der Rekonstruktion der Karriere von Grawitz liegt zugleich die erste detaillierte Auseinandersetzung mit einem der wichtigsten SS-Mediziner vor. Im Zusammenhang mit der engen Verflechtung von SS und DRK verdeutlicht Hahn auch die besondere Funktion des DRK hinsichtlich der nationalen und internationalen Informationspolitik der SS über Konzentrationslagerhäftlinge.

Zu den zentralen Ergebnissen der Untersuchung gehört der Befund, dass das von Grawitz, Genzken und Gebhardt behauptete Etikett einer „neuen“ SS-Mediziner-Elite im wesentlichen durch die Anerkennung dieser Haltung seitens der „alten“ Eliten, das heißt der zeitgenössisch führenden Militärmediziner, Hochschulprofessoren und Forschungsinstitutionen gestützt und befördert wurde. Ein SS-spezifisches Medizinverständnis besaßen oder entwickelten Grawitz, Genzken und Gebhardt, die alle Anhänger der universitär vermittelten Schulmedizin und keine Vertreter der Neuen Deutschen Heilkunde waren, jedoch nicht. Ob dieses Ergebnis Hahns auch auf andere SS-Ärzte übertragbar ist, die an medizinischen Menschenversuchen beteiligt, als Lagerärzte in den KL bzw. als „Euthanasie“-Ärzte in den psychiatrischen Anstalten oder an der Front tätig waren, bleibt zu überprüfen.

Die Autorin stellt die vielfältigen Konkurrenzen und Verschränkungen von Personen und Institutionen im Bereich der medizinischen und gesundheitspolitischen Eliten der Zeit deutlich heraus. Sie zeigt, dass SS-Sanitätsdienst und SS-Mediziner auf höchster Ebene in die führenden militärmedizinischen Forschungsnetzwerke eingebunden waren, die SS sich also an der Lösung aktueller medizinischer Forschungsprobleme aktiv beteiligte. Einmal mehr belegt sie damit, dass es sich bei den von Ärzten und Wissenschaftlern vorbereiteten und durchgeführten Humanexperimenten an Häftlingen in Konzentrationslagern in der Regel nicht um pseudomedizinische Versuche handelte. In dieser Hinsicht stellt die Publikation einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis von Medizin und ärztlich-wissenschaftlichem Handeln der aktiv beteiligten Personen in der Zeit des Nationalsozialismus dar.

Kritisch angemerkt sei, dass die Detailfülle der Arbeit, die zahlreichen aufgeworfenen Fragen und die bearbeiteten Teilthemen die Lektüre ebenso schwer machen wie ein abschließendes Urteil. Wie das Quellenverzeichnis ausweist, wertete Hahn eine beträchtliche Menge an Material aus, darunter die Akten des SS-Hauptamtes, des SS-Führungshauptamtes und des Persönlichen Stabes Reichsführer SS, und die Darstellung der Institutionen erfolgt bisweilen so minutiös, dass sich fragen lässt, ob dieses kleinteilige Vorgehen für die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen wirklich unverzichtbar gewesen ist. Dennoch legt die Autorin mit ihrer Arbeit eine faktenreiche und solide recherchierte Untersuchung vor, auf die nachfolgende Arbeiten zur Analyse des Zusammenhangs von nationalsozialistischen Medizinverbrechen in Konzentrationslagern bzw. unter Beteiligung der SS werden Bezug nehmen müssen.

Anmerkung:
1 Vgl. Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934-1938, Boppard am Rhein 1991.

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