Titel
Joining Places. Slave Neighborhoods in the Old South


Autor(en)
Kaye, Anthony E.
Reihe
John Hope Franklin Series in African American History and Culture
Erschienen
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 26,84
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Orban

1855 eröffnete Frederick Douglass (1818-1895) My Bondage and My Freedom, seine zweite Autobiografie, mit einer detaillierten Beschreibung von Tuckahoe; dem „district, or neighborhood“ in Talbot County, Maryland, wo er, mit seinen Großeltern zusammenlebend, in Unfreiheit heranwuchs. Dabei entschuldigte sich der ehemalige Sklave, radikale Abolitionist, einflussreiche Autor, Orator, Reformer und Staatsmann, der als einer der prominentesten African Americans seiner Zeit sowie generell in der Geschichte der USA anzusehen ist, bei seiner Leserschaft für die ausführliche ortsgebundene Situierung seiner Darstellung. Selbige erschien ihm obgleich unerlässlich, da es ihm einerseits persönlich wichtig war, zu erfahren, wo jemand geboren wurde und aufwuchs; zumal er andererseits, analog zur Mehrheit der im amerikanischen Süden versklavten Menschen, eine exakte zeitliche Einordnung seiner Geschichte (zunächst) nicht zu leisten vermochte. So konnte er beispielsweise sein Alter und Geburtsdatum nicht genau angeben. Eine verortende Erzählung ermöglichte es ihm indessen, auf die ihm wichtigen Ereignisse, Dynamiken und Personen, etwa seine als „old settlers in the neighborhood“ angesehenen Großeltern, konkret, anschaulich und nachvollziehbar einzugehen. Denn eine solche Raum-Perspektive gewährte ihm Orientierung und war für seine Lebensführung und Selbstentwürfe, insbesondere während der ihn nachhaltig prägenden Lebensphase seiner Versklavung, von großer Bedeutung.1

Vergleichbar mit Douglass’ populärer Narration, die hier als ein produktiver Modus der Herstellung sozialer Räume gelesen wird, definierten und orientierten sich unzählige unfreie African Americans mittels komplexer spatialer Vorstellungen und Praktiken in ihren vorwiegend fremdbestimmten Lebenswelten. Und folgen wir diesbezüglich dem US-amerikanischen Historiker Anthony E. Kaye (Pennsylvania State University) in seiner innovativen Publikation Joining Places: Slave Neighborhoods in the Old South, so geschah dieses Sich-Zurechtfinden und Sich-Verorten vor allem durch in den alltäglichen sozialen Beziehungen beständig (re-)produzierte, mannigfaltig bedeutungsvolle Nachbarschaften. Kaye, der derzeit an einer buchlangen Studie über die Nat-Turner-Revolte in Southampton County, Virginia, im Jahre 1831 arbeitet, verweist dazu auf die Redeweisen von (ehemaligen) Sklaven und Sklavinnen, die ihre Gesellschaft nicht mit dem Terminus der Gemeinschaft beschrieben, sondern sich selbst und ihre Familien, wie einführend aufgezeigt, häufig in Nachbarschaften verorteten. Bei Letztgenannten handelte es sich aber keineswegs um die seit John W. Blassingames paradigmatischem Buch The Slave Community (1972) in der Forschung zur Sklaverei in Nordamerika gerne postulierten und konstruierten, durch Autonomie und Solidarität gekennzeichneten, monolithischen Sklavengemeinschaften. Vielmehr pointiert Kaye – auf diese Forschung aufbauend und sie in Anknüpfung an die Arbeiten von ForscherInnen wie etwa Nell Irvin Painter, Brenda E. Stevenson oder Deborah Gray White erfreulicherweise zugleich transzendierend – den pluralistischen Charakter, beziehungsweise die vielfältigen Kerbungen und Verwerfungen innerhalb von nicht abgeschlossenen, heterogenen Sklavengesellschaften. In Ergänzung und Beziehung zu diesen in der Forschung bereits eingehend thematisierten Faltlinien, zum Beispiel entlang von „Geschlecht“, fokussiert er demzufolge die humane Geografie ländlicher Nachbarschaften, die aufgefächert als ein Archipel verschiedener Nachbarschaften mit spezifischer Historie und multidimensionalen Relationen eine weitere eminent wichtige Demarkationslinie darstellten.

Gemäß dem Haupttitel des als Beitrag zum so genannten „Spatial Turn“ verstandenen Buches werden Sklaven-Nachbarschaften als Joining Places vorgestellt. Dies ist in mehrerlei Hinsicht zutreffend: „The neighborhood was a place; the arena for activities of every type; a set of people, bonds, and solidarities; a collective identity“ (S. 5), wie Kaye überblicksartig anführt. Sonach waren jene facettenreichen Nachbarschaften mit der jeweiligen physischen und sozialen Landschaft, dem urbar gemachten, bebauten und partiell „unberührten“ Terrain sowie den (inter-)agierenden Personen untrennbar verknüpft. Genauer gesagt meinte „Nachbarschaft“ für viele versklavte Menschen „adjoining plantations, because this was the domain of all the bonds that constituted their daily routine“ (S. 4). Anders formuliert diente ihnen dieser faktische, geografische und mithin imaginierte Ort, der gleichzeitig als politische Idee und Institution fungierte, als Dreh- und Angelpunkt für all die Beziehungen, welche die Konturen ihres (Zusammen-)Lebens tief greifend formten. Kaye geht es nun darum, detailliert zu beleuchten, wie Sklaven und Sklavinnen vermöge diverser alltäglicher Handlungsweisen soziale Räume fabrizierten und wie sie ihnen welche Bedeutungen beilegten. Insbesondere akzentuiert er hierbei die Prozesshaftigkeit, situative Bedingtheit und Machtverformtheit der Praktiken, die als nicht notwendig intendierte Konsequenzen gedacht, letztlich Nachbarschaften hervorbrachten. Denn angesichts des sich im kontinuierlichen transnationalen, interregionalen und lokalen Menschenhandel manifestierenden fluiden Systems der Sklaverei konnten Nachbarschaften nahezu nur dynamische, permeable Orte sein. Zudem ist die resultierende permanente (Re-)Kreierung von Nachbarschaften, durch je nach räumlich-zeitlicher Konstellation different positionierte (un-)freie AkteurInnen, als ein auf dem vielförmig umkämpften Terrain angrenzender Plantagen aufgeführtes Ringen um Macht und Raum zu begreifen. Kurzum, eine konzeptionelle Stärke von Kayes Arbeit liegt unzweifelhaft darin begründet, Sklaven und Sklavinnen, getreu einer Struktur-Handlung-Relation, als in komplexen, veränderlichen, historisch und spatial spezifischen Nachbarschaften lebende Handelnde ernst zu nehmen. Unproduktive statisch-separierte Kategorien (unter anderen der Autonomie, Gemeinschaft und Agentenschaft) wie auch simple Dualismen (etwa Sklaven versus Master) werden weitgehend vermieden.

Was den konkreten historischen Kontext und Untersuchungszeitraum von Joining Places anbetrifft, so erscheint der gewählte Untertitel als ein leicht irritierendes Label, das in der Einleitung auch dezent revidiert wird. Das heißt, de facto legt Kaye eine reflektierte und analytisch-empirisch hochwertige, lokalspezifische Fallstudie vor, in der das Hauptaugenmerk der Betrachtung auf dem sich im Südwesten Mississippis von Vicksburg bis Natchez erstreckenden Natchez District von den 1830er- bis zu den 1860er-Jahren ruht. Allerdings sei ebenso darauf verwiesen, dass die Grenzen seiner Darstellung, analog zu denen des Untersuchungsgegenstandes durchlässig sind. Entsprechend bezieht er einerseits die Transformationsphasen des Amerikanischen Bürgerkrieges, der Emanzipation und der nachfolgenden „Reconstruction“ in seine Interpretation ein; und andererseits verbindet er den Natchez District punktuell mit anderen Regionen des amerikanischen Südens und auch der Karibik. Jedoch, dies sei deutlich gesagt, kann und will Kaye der Sklaverei als atlantischem, transnationalem Problem mit seiner Studie nicht gerecht werden. Hingegen betont er, vielmehr auf einen lokalen und regionalen, eng vernetzten Raum konzentriert die beständigen Transfers von Menschen, Waren und Wissen.

Um genau schildern und analysieren zu können, wie am Mississippi-Delta lebende Sklaven und Sklavinnen in komplexen, machtverformten und reflexiven Prozessen, in denen sie sich selbst und ihre Gesellschaft konstituierten und formten, ihre Nachbarschaften beharrlich (re-)kreierten, beruft sich Kaye sowohl auf bekannte Materialien zur Sklaverei als auch auf eine wichtige, bisher vernachlässigte Primärquelle. Neben den Interviews der Works Progress Administration, Zeitungsartikeln, Gerichtsakten, Plantagenjournalen, Reiseberichten, (Auto-)Biografien und den Akten der Southern Claims Commission nutzt er die Akten des U.S. Pension Bureau, in denen afroamerikanische Unionsveteranen und/oder ihre Witwen diverse Schattierungen ihres Lebens während und nach der Sklaverei skizzierten, um monetäre Ansprüche geltend zu machen.

Die Betrachtung, die maßgeblich von einer ausgewogenen Melange der angeführten Schriftquellen profitiert, ist in sechs Kapitel, eine Einleitung und einen Epilog untergliedert. Ausgehend von einer richtungweisenden Einführung sowie einem direkt daran anschließenden Abschnitt, worin Kaye sein Nachbarschaftskonzept detailliert darlegt, kehrt er in den Folgekapiteln auf scheinbar ausgetretenes Terrain zurück. So widmet er sich etwa dem Familienleben und den intimen Beziehungen unfreier Menschen; den Feldern und Wegen ihrer Arbeit; und den Formen und Räumen ihres Widerstandes. Aber ungeachtet der Aufwerfung dieser in der Geschichtsschreibung zur Sklaverei (alt-)bekannten Themen, vermag der hier angewandte Nachbarschaftsansatz – die einzelnen Kapitel sind entlang ausgewählter Machtbeziehungen organisiert, in denen Sklaven und Sklavinnen Nachbarschaften generierten – durchaus neue Perspektiven, Zugänge und Aspekte zu offerieren. Unter anderem wird das Beziehungsgeflecht zwischen BesitzerInnen, Aufsehern, Drivers und Versklavten durch die Einbeziehung von benachbarten PflanzerInnen neu gelesen; Nachbarschaftsterrains, -solidaritäten und -antagonismen werden mit Widerständigkeit zusammengedacht; und verschiedene, hierarchisch geordnete Ausprägungen intimer Beziehungen werden als ordnungsstiftende, sanktionierte Nachbarschaftsangelegenheiten präsentiert. Überdies leistet Kaye nicht zuletzt dadurch einen wichtigen Beitrag, indem er die Matrix der Nachbarschaften vor, während und nach der Wasserscheide des Civil War in Augenschein nimmt und insofern Fragen sozialer wie politischer Kontinuität und Transformation problematisiert.

Zusammenfassend gesprochen, reformuliert das in Joining Places entworfene Bild von Sklaven-Nachbarschaften zentrale Forschungsperspektiven und -debatten, die die Forschungen zur Sklaverei im „Old South“ während der zurückliegenden drei Jahrzehnte nachhaltig bestimmt haben. Zudem lädt es HistorikerInnen dazu ein, bekannte Themenbereiche neu zu denken und etablierte Konzepte zu überdenken. Das treffende Schlusswort, das als eine abschließende Einschätzung der besprochenen Publikation zu lesen ist und zugleich in Frederick Douglass’ Narration bejaht wurde, sei Kaye selbst gestattet: „‘Neighborhood’, this seemingly prosaic term, opens a window with a panoramic view of antebellum slave society“ (S. 1).

Anmerkung:
1 Vgl. Frederick Douglass, My Bondage and My Freedom, Urbana 1987 [Boston 1855], S. 27-28. Siehe auch Frederick Douglass, Life and Times of Frederick Douglass, Boston 1892, S. 25-26.

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