J. Court: Deutsche Sportwissenschaft

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Titel
Deutsche Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Bd. 1: Die Vorgeschichte 1900-1918


Autor(en)
Court, Jürgen
Reihe
Studien zur Geschichte des Sports 6
Erschienen
Münster 2008: LIT Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markwart Herzog, Schwabenakademie Irsee

Epochen übergreifende monographische Arbeiten zur Fachgeschichte der Disziplin Sportwissenschaft sind selten. Der universitären Sportwissenschaft mangelt es in ihrem eher anwendungsorientierten Erkenntnisinteresse weitgehend an explizit historischem Bewusstsein (S. 14), und die deutsche Geschichtswissenschaft entdeckt die Zeitgeschichte des Sports erst seit kurzem, und das auch nur zögerlich. Schon allein deshalb verdient Jürgen Courts Geschichte der deutschen Sportwissenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus besondere Aufmerksamkeit. Der erste Band behandelt die „Vorgeschichte“, die Court vor 1920, vor der Gründung der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin (DHfL), dem Schwerpunkt seines auf drei Bände angelegten Werks, enden lässt. Zentrale Aufmerksamkeit widmet Court der Wissenschaftlichkeit der Disziplin, ihrer Instrumentalisierung für außersportliche Zwecke sowie Kontinuitäten und Diskontinuitäten unter den Bedingungen disparatester politischer Systeme.

So wie es sich beim Sport im Deutschen Reich um 1900 um eine „neue Kultur“ handelte, war die universitäre Sportwissenschaft in den 1920er-Jahren eine ebenfalls „neue Disziplin“ (S. 14). Court behandelt die Genese der deutschen Sportwissenschaft, die sich aus der Turnwissenschaft heraus zu einer eigenständigen Richtung emanzipierte und institutionalisierte. Methodisch plädiert er für einen interdisziplinär-pluralistischen Ansatz, der institutionelle, biographische, ökonomische, ideen-, kultur-, struktur- und gesellschaftshistorische Ansätze integriert. Tatsächlich dominiert allerdings der ideengeschichtliche Zugriff.

Court interpretiert im ersten Teil des ersten Bandes seiner Sportwissenschaftsgeschichte die Entstehung der Disziplin, im Anschluss an Thomas S. Kuhn, paradigmentheoretisch als „Revolution“. Revolutionär sei das Auftreten der Sportwissenschaft, weil sie die Prinzipien der Turnwissenschaft einer radikalen kulturellen Modernisierung unterziehe. Bestimme im Turnen die Durchschnittsleistung einer großen Zahl das Ziel der Leibesübung, so sei es im Sport die Höchstleistung des Einzelnen. Darüber hinaus sei das Turnen pädagogisch (vaterländische Gesinnung) und medizinisch (Volksgesundheit) legitimiert. Im Unterschied dazu definiere sich Sport prinzipiell durch dynamische Zweckoffenheit, Sportwissenschaft durch Internationalität und eine Interdisziplinarität, in der naturwissenschaftliche Argumente über nationalpädagogische allmählich die Oberhand gewinnen. In der Pionierphase der Sporttheorie werden der Körper, die Auswirkungen von Training und Wettkampf sowie die Möglichkeiten der Expansion biologischer Grenzen (Anthropometrie, Bewegungsfotografie, Röntgenbild, Kinematographie, Medizin etc.) zum Gegenstand systematischen wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses. Die experimentierfreudigen Pioniere des Sports warben für staatliche Unterstützung und das Interesse von einflussreichen Persönlichkeiten, (Schul-)Behörden und Armeekreisen für diese „neue Kultur“ der Leibesübung.

Ein wichtiges Netzwerk institutionalisierten die Vorkämpfer der Sportbewegung 1904 im „Deutschen Reichsausschuss für Olympische Spiele“ (DRAfOS), der mit anderen Organisationen der Körperübung um Anerkennung, Macht und Einfluss konkurrierte. Unter dem Dach des DRAfOS war vor 1914 Platz für eine große Vielfalt weltanschaulicher Positionen, allerdings mit einem „Übergewicht der nationalen Kontinuität in der Rechtfertigung eines olympischen Sportbetriebs“ (S. 69). Dabei gingen spezifisch moderne, naturwissenschaftliche Prinzipien mit geisteswissenschaftlichen, romantischen Idealen ein Bündnis ein, das die Ausdifferenzierung des Sports und der Sportwissenschaft aus den Mutterdisziplinen des Turnens und der Turnwissenschaft erst möglich machte. Anhand von Projekten, Ausstellungen, Kongressen und wissenschaftlichen Vereinigungen der Kaiserzeit sowie der Planung und Einweihung des Deutschen Stadions im Berliner Grunewald zeigt Court, wie die Idee des Sports im Kaiserreich an Einfluss gewann.

Nach der Vergabe der Olympischen Spiele von 1916 an Berlin im Jahr 1912 senkte sich im DRAfOS die Waagschale immer mehr zugunsten des Sportprinzips, seiner Propagierung und Erforschung, sollte doch das Deutsche Reich im sportlichen Wettstreit der Nationen seine Überlegenheit vor anderen Völkern demonstrativ unter Beweis stellen.

Im zweiten Teil analysiert Court die revolutionären Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf Theorie und Praxis der Leibesübung und den zwischen Turnen und Sport nun verschärft ausgetragenen „Systemstreit“. Die Korrelationen zwischen einer Leistungssteigerung im friedlichen Wettkampf und der Wehrtüchtigkeit im Krieg (sowie dem Arbeitserfolg im zivilen Berufsleben) ließen DRAfOS-Generalsekretär Carl Diem über die „greisenhaften Sorgen vor Überanstrengung“ (S. 155) spotten und dem sportlichen Paradigma zum Durchbruch verhelfen. Zu deutlich wurden die nun auch wissenschaftstheoretisch relevanten Überschneidungspunkte zwischen Sport und Militär. Der Krieg erschien als ein sozialdarwinistisches Laboratorium, aus dem Militärs wie Sportfunktionäre ihre Lehren zogen. Die „physischen und psychischen Anforderungen des Weltkriegs an die Soldaten“ drängten auf „eine wissenschaftliche Entscheidung über den Wert von Turnen und Sport“ (S. 234). Bestand vor 1914 Konsens über Volksgesundheit als Ziel der Leibesübung, wobei Höchstleistungen und systematisches Ausdauertraining noch als Gesundheitsgefahr galten, allenfalls „als vorübergehende Möglichkeit zum theoretischen und praktischen Erkenntnisgewinn“ (S. 50), so wurde diesen Bedenken von 1916 an zunehmend der Boden entzogen.

Fand man vor dem Krieg vielfältige Sinnzuschreibungen, so dominierte nach dessen Beginn die vaterländische und wehrpolitische Nützlichkeit der Körperübung. Die verschiedenen Sportdisziplinen wurden nun immer exklusiver unter dem Gesichtspunkt spezialisierter Vorbereitung auf operative Teilaspekte der Kriegsführung, der Regeneration einer kriegsmüden Bevölkerung und damit als nationale Pflichtübung erörtert. Die revolutionäre Wirkung des Kriegs zeigt sich auch auf institutionellem Gebiet: Begleitet von hitzigen Debatten um „Nationale Olympische Spiele“ als Ersatz für internationale, erfolgte die Umbenennung des DRAfOS in „Deutscher Reichsausschuss für Leibesübungen“ (DRA), womit sich der Verband nominell der internationalen olympischen Idee entledigte, um den Vorwurf unpatriotischer Gesinnung seitens nationalistischer Verbände abwehren zu können. Dabei verstand es Diem taktisch allerdings sehr geschickt, der Turnerschaft mit der Umarmungsstrategie eines Integrationskurses zu begegnen: Einerseits hielt er am Grundsatz internationaler Wettkämpfe durchaus fest, den er auf die Stärkung der „nationalen Sammlung“ (S. 256) hin funktionalisierte. Andererseits deklarierte er das sportliche Prinzip der individuellen Höchstleistung als vereinbar mit dem turnerischen einer höheren Massenleistung. Wissenschaftshistorisch wichtig sind darüber hinaus die aus dem Kriegserleben resultierenden Forderungen, Sportlehrer auszubilden, den Schul- und Universitätssport als vormilitärische Körper- und Charakterschulung der Jugend zu forcieren, die für den modernen Krieg wie für den modernen Sport konstitutiven Prinzipien der Spezialisierung, Quantifizierung, Professionalisierung und Leistungssteigerung interdisziplinär zu erforschen und diese wissenschaftliche Arbeit institutionell zu verankern.

Es ist Courts großes Verdienst, dass er nicht nur den Mainstream der Turn- und Sporttheorie auf dem Weg zu einer fest institutionalisierten Sportwissenschaft rekonstruiert, sondern auch „Unzeitgemäße“ und „Querdenker“ ausführlich zu Wort kommen lässt, beispielsweise Georg Friedrich Nicolai, einen jüdischen Sozialisten und Pazifisten, der dem anachronistischen Hygienediskurs der Turner sehr viel näher stand als dem Sportparadigma, oder Wilhelm Benary, der den Begriff des Sports scharf gegen andere menschliche Tätigkeiten abgrenzte und Instrumentalisierungen für externe Ziele jedweder Art (Gesundheit, Hygiene, Arbeitskraft, Wehrtüchtigkeit) kategorisch ausschloss, während Diems Verständnis der Selbstzwecklichkeit des „unpolitischen Sports“ auf eine nationale Sinngebung legitimationsstrategisch nicht verzichten konnte. Benary war dagegen ein früher radikaler Vertreter der „Eigenwelt-These des modernen Sports“ (S. 143). Höchst interessant ist darüber hinaus die „Einbeziehung der bislang nur unterschwellig verhandelten religiösen Dimension des Sports“ (S. 206) bei dem Turntheoretiker Wilhelm Winter. Allerdings versäumt es Court in diesem Kontext, die umgangssprachlich weit verbreiteten metaphorischen Übertragungen religiöser Terminologie auf Sport oder Nation von einem auch wissenschaftstheoretisch relevanten „Begriff der Religion“ (S. 215–217) zu unterscheiden.1

Courts Untersuchung über die Geburt der Sportwissenschaft aus dem Geist des Weltkriegs leistet, auf immens breiter Quellenbasis recherchiert, echte Pionierarbeit. Sie ist nicht eben leicht zu lesen, was einerseits der Tatsache geschuldet ist, dass die Frontlinien zwischen der Körperertüchtigungspädagogik und dem Hochleistungssport, der sich seiner Identität selbst erst sukzessive bewusst wird, teilweise sehr verwirrende Verläufe nehmen. Zum anderen ist es Court hoch anzurechnen, dass er diese Komplexität seines Themas nicht auf einfache, wohlfeile Formeln reduziert, sondern beispielsweise umstrittenen Persönlichkeiten der Zeitgeschichte des Sports auch in all ihren Widersprüchen und Ambivalenzen gerecht zu werden sucht. So lässt sich seine „Vorgeschichte“ deutscher Sportwissenschaft auch als wertvolle ideengeschichtliche Ergänzung neuer biographischer Studien über Carl Diem lesen, die bestätigen, dass es Diem in seinem machtpolitischen Kalkül vorrangig um die Sache des Sports zu tun war, die er unter den Bedingungen von vier verschiedenen politischen Systemen verfocht und dabei zu enormen Anpassungsleistungen fähig war, die ihn sicher nicht ganz zu unrecht auch in den Verruf des Opportunismus brachten.2

Also gibt es guten Grund, das Erscheinen von Courts zweitem Band über die Geschichte der „Deutschen Sportwissenschaft“ in den Jahren 1918 bis 1933 mit Spannung zu erwarten.

Anmerkungen:
1 Über den Gegenstandsbezug und die metaphorische Übertragung religiöser Terminologie auf den Sport vgl. Markwart Herzog, Von der ‚Fußlümmelei‘ zur ‚Kunst am Ball‘: Zur kulturgeschichtlichen Karriere des Fußballsports, in: ders. (Hrsg.), Fußball als Kulturphänomen: Kunst – Kult – Kommerz, Stuttgart 2002, S. 11–43, hier S. 23–32.
2 Vgl. BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 18 (2005), Nr. 2: Schwerpunkt „Biographie und Sportgeschichte“.

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