: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90. München 2008 : Piper Verlag, ISBN 978-3-492-05155-2 520 S. € 24,90

: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa. München 2009 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-58245-5 272 S. € 19,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Wilke, Berlin

Der ungarische Schriftsteller und Historiker György Dalos analysiert in sechs Essays die nationale Spezifik im Verlauf der europäischen Herbstrevolution in den Ländern Ost-Mitteleuropas. Die Schwäche der Sowjetunion ist die Voraussetzung für das Ende ihres Imperiums. Erhart Neubert hingegen konzentriert sich ganz auf den deutschen Schauplatz. Erzählt wird die Geschichte der friedlichen Revolution in der DDR und der deutschen Vereinigung aus der Perspektive der ostdeutschen Akteure.

Dalos‘ Analyse beginnt in Moskau mit dem Begräbnis des sowjetischen Parteichefs Konstantin Tschernenko im März 1985. Es war der Prolog, mit dem das Drama seinen Lauf nahm. Der Nachfolger, Michail S. Gorbatschow, musste diesen langen Staatsakt gestalten. Am Ende seiner Amtszeit, sechs Jahre später, waren das Imperium und die Sowjetunion eingesargt.

Alle Staatschefs der sozialistischen Staaten, die sich am Grab Tschernenkos versammelt hatten, steckten in einer Wirtschaftskrise, die nur mit westlicher Hilfe zu beheben war. Auch die Sowjetunion benötigte aus ökonomischen Gründen die Kooperation mit dem Westen. Vor allem war sie nicht mehr in der Lage, den „Bruderstaaten“ wirtschaftlich zu helfen. Kooperation mit dem Westen schloss militärische Intervention zum Schutz der kommunistischen Regime aus. Gorbatschow wusste dies und äußerte 1986 im engsten Zirkel der Macht: So wie es war, kann es nicht weitergehen; und gewaltsame Methoden zum Schutz der kommunistischen Regime im Imperium sind heute „unannehmbar“.

Das Jahr 1989 begann mit dem Rückzug der geschlagenen sowjetischen Armee aus Afghanistan. Die Schwäche der Sowjetunion und die ökonomischen Probleme im gesamten Ostblock schufen in den sozialistischen Staaten einen Freiraum für das Streben nach nationaler Selbstbestimmung. Die kommunistischen Parteien mussten im Verlauf des Jahres 1989 ihr totalitäres Machtmonopol aufgeben. Aus den „Volksdemokratien“ wurden parlamentarische Verfassungsstaaten. Der treibende Faktor dieser Transformation waren mit Ausnahme von Bulgarien und Rumänien die Bürgerbewegungen; zum Symbol wurden die „Runden Tische“, an denen die Systemwechsel ausgehandelt wurden. Der erste stand in Polen, die Machthaber ließen ihn bereits 1988 anfertigen. An ihm nahmen im Januar 1989 die bisherigen „Erzfeinde“, der General des Kriegsrechts von 1981 Wojchiech Jaruzelski und sein Gegenspieler von der Gewerkschaft Solidarnosc Lech Walesa Platz, um über die Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems und freier Wahlen zu verhandeln. Jacek Kuron und Adam Michnik hatten bereits in den siebziger Jahren die Theorie für diesen gewaltlosen Weg ausgearbeitet. Durch gesellschaftliche Selbstbestimmung sollte in Polen eine Evolution der Freiheit eingeleitet werden, die nicht den revolutionären Sturz der kommunistischen Diktatur voraussetzte, sondern sie zu Kompromissen mit der Opposition zwingen sollte. Am 4. Juni 1989, dem Tag, als in Peking der Studentenprotest mit Panzern gewaltsam beendet wurde, wählten die Polen. Im Ergebnis kam es für eine Übergangszeit zu einer Machtteilung: Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki vertrat die Solidarnosc, Jaruzelski wurde Staatspräsident.

Den ungarischen Auftakt zur Veränderung bildete 1987 die Forderung aus den Reihen der Opposition, Parteichef Janos Kadar solle zurücktreten. Nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution durch sowjetische Truppen war er es gewesen, der die kommunistische Restauration repressiv durchsetzte. Die Herbstereignisse des Jahres 1956 waren im kollektiven Gedächtnis der Ungarn als nationale Tragödie noch immer eine offene Wunde. Die Forderung nach einer Neubewertung als „Volksaufstand“ und der Rehabilitierung seiner hingerichteten Führer geriet zum nationalen Konsens. Im Mai 1988 wurde Kadar als Generalsekretär der Staatspartei abgelöst, und die Umbewertung der Ereignisse von 1956 begann. Im März 1989 forderte die Opposition ein „freies, unabhängiges, demokratisches Ungarn“. Ganz in der Tradition der Märzrevolution von 1848 gab sie ihrer Forderung eine transnationale Perspektive: „Selbstbestimmung für die Völker von Ost- und Mitteleuropa. Aufhebung der militärischen, ökonomischen und menschenrechtlichen Spaltung Europas.“

Mit Blick auf die in Rumänien drangsalierte ungarische Minderheit verlangte sie eine Änderung der ungarischen Asylpolitik, die dann im Sommer 1989 den Flüchtlingen aus der DDR zugute kam. Im Mai öffnete die ungarische Regierung symbolisch den „Eisernen Vorhang“. Im Juni verhandelte die Opposition an einem Runden Tisch mit den Kommunisten die Demokratisierung Ungarns. Die Staatspartei hatte bereits auf ihre „führende Rolle“ verzichtet und der Gründung anderer Parteien zugestimmt; im Oktober löste sie sich auf. Nun betraten die ungarischen Sozialisten die politische Bühne. Die Bürgerrechtsbewegung hatte ihre grundlegenden Ziele erreicht und nun machte sie sich „überflüssig“ - ein Urteil das nicht nur für Ungarn gilt.

Im Unterschied zu den fünf anderen Nationalstaaten war die DDR ein Teilstaat in Deutschland. Folglich lauerte „hinter jedem politischen, sozialen und kulturellen Konflikt in der vierzigjährigen DDR-Geschichte das Gespenst der Wiedervereinigung“. In der DDR gab es deshalb nicht nur drei Akteure, die Kommunisten, die Sowjetunion und die Opposition, es gab einen vierten: die Bundesrepublik. In diesem Viereck äußerer und innerer Konflikte vollzog sich die friedliche Revolution in der DDR. Die Rolle der „Ausreißer“ und der Flüchtlinge im SED-Staat erschließt sich nur in dieser Konstellation. Der Protest gegen die Verweigerung der beantragten Ausreise in den Westen löste im September in Leipzig auch die Montagsdemonstrationen und damit die Demokratie auf der Straße aus. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen waren die Künstler und Schriftsteller, die die größte Demonstration am 4. November in Berlin organisierten, nicht an der nationalen Frage interessiert. Die Redner der Kundgebung einte ein anderer Minimalkonsens: „Denken im Rahmen einer reformierbaren DDR.“ Dieses Denken beherrschte auch den von Bärbel Bohley geprägten Aufruf des Neuen Forums zum Dialog über die Zukunft des Landes. Die „nationale Komponente“ in der Herbstrevolution traf aber auf das „Konstrukt“ DDR existentiell zu. Die Entscheidung für die deutsche Einheit fiel auf den Straßen und Plätzen der DDR, sie wurde beschleunigt durch den Fall der Berliner Mauer. Für Dalos zählt die Volkskammerwahl im März 1990 nicht mehr wirklich zur Geschichte der DDR, sondern zur Vorgeschichte des wiedervereinigten Deutschlands.

In Bulgarien standen am Beginn der Krise des Regimes ethnische Konflikte mit der türkischen Minderheit, die wirtschaftliche Probleme auslösten. Ähnlich wie in Rumänien legitimierte sich die Diktatur von Todor Schiwkow, der seit 1956 das „goldene Zeitalter“ Bulgariens gestaltete, nationalistisch. Bürgerrechtsgruppen existierten nicht. Der Systemwechsel vollzog sich durch eine Palastrevolution, zeitgleich mit dem Fall der Berliner Mauer. Der Führungswechsel an der Spitze der Partei erfolgte vermutlich nach „Beratungen“ durch den sowjetischen Botschafter, einen KGB-General. Erst einen Monat nach diesem Ereignis formierte sich ein Dachverband der nichtkommunistischen Opposition. Die Entwicklung der Demokratie wurde durch die „Verspätung“ der bulgarischen Bürgerbewegung deformiert. Die Parteikader konnten ihre „führende Rolle“ fortsetzen, obwohl dieser Anspruch in der Verfassung längst gestrichen war.

Die regierenden Kommunisten in Prag waren angesichts der sowjetischen Politik wie gelähmt. Reformunwillig hielten sie an der Macht fest. Die Opposition setzte 1989 mit ihren Protestaktionen auf die Gegenwart der Geschichte, sie wählte nationale Gedenktage, um ihre Forderungen nach Demokratisierung vorzutragen. Bis zum 17. November wurden diese Demonstrationen einer Minderheit unterdrückt, das Land blieb still. Die Brutalität des Polizeieinsatzes an diesem Tag des offiziellen Gedenkens an den Studentenprotest von 1939 provozierte die „Demokratie auf der Straße“. Sie löste einen „panischen Rückzug“ des Regimes aus.

Am 24. November kamen 300.000 Menschen auf den Wenzelsplatz. Alexander Dubcek und Vaclav Havel sprachen zu ihnen. Es „war dies ein schönes Zeichen der demokratischen und nationalen Kontinuität zwischen Frühling 1968 und Herbst 1989.“ Die KPC wechselte ihre Spitze aus, und am 28. November verhandelte sie mit der Opposition über die Bildung eine Koalitionsregierung. Die „Versammlungsdemokratie“ analog zu den Montagsdemonstrationen in der DDR hatte der „samtenen Revolution“ zum Sieg verholfen.

Einen Monat später wurde in Rumänien der blutige Schlussakt aufgeführt. Gestützt auf Massenproteste und die Armee führten kommunistische Kader einen Staatsstreich durch und lösten sofort die Kommunistische Partei auf.
Im Unterschied zu den im Westen hoch verschuldeten „Bruderstaaten“ war Rumänien schuldenfrei. Dieser ökonomische Kraftakt war von der Bevölkerung mit Hungern und Frieren bezahlt worden. Altkommunisten forderten im März von Nicolae Ceausescu:„Beenden Sie die Lebensmittelausfuhr, die unsere Nation bereits in ihrer biologischen Existenz bedroht.“ Der rumänische Despot, der „Sohn der Sonne“, stützte sich in seiner Machtausübung auf seinen Familienclan. Legitimation suchte das Regime im rumänischen Nationalismus, der auch seine Minderheitenpolitik prägte. Die „Banater Schwaben“ konnten gegen ein Kopfgeld in die Bundesrepublik auswandern, die ungarische Minderheit war dafür zu groß, sie wurde drangsaliert. Das wiederum führte zu Konflikten mit Ungarn. Der „Pharao“ Ceausescu hatte 1988 seinen letzten Pyramidenbau begonnen: die „Dorfsystematisierung“. Dieses Programm lief auf die Zerstörung kleiner Dörfer und die Umsiedlung ihrer Bewohner hinaus.

Der Protest des evangelischen Pfarrers Laszlo Tökes in der ungarischen Kirchengemeinde Temesvar gegen die Dorfzerstörungen war der Anfang vom Ende. Die Zwangsaussiedlung Tökes‘ löste am 16. Dezember Massenproteste aus. Ceausescu gab am 17. Dezember Befehl, auf das Volk zu schießen, was die Sicherheitskräfte auch taten: 58 Tote und 92 Verletzte. Die Niederwerfung dieses spontanen Aufstandes misslang jedoch, die Proteste erfassten das ganze Land, und am 21. Dezember gab es weitere Tote. In den Betrieben forderten die Arbeiter Ceausescus Rücktritt. Das Land wurde unter Kriegsrecht gestellt. Am nächsten Tag meldete Radio Bukarest den Tod des Verteidigungsministers. Danach ging alles sehr schnell, die Armee unterstützte einen Putsch und verhalf ehemaligen sowie jungen Kadern der kommunistischen Partei an die Macht. Die „rumänischen Wendehälse“ lösten die Partei auf, die in der Gesellschaft nur noch ein Hassobjekt war, „selbstverständlich ohne auf ihr immenses Vermögen zu verzichten.“ Am 23. Dezember übernahm ein Provisorischer Rat der Nationalen Rettung die politische Verantwortung in Rumänien. Vom 17. bis 26. Dezember starben 1104 Menschen eines gewaltsamen Todes. Die Rettungsfront beschloss am 24. Dezember die Hinrichtung von Ceausescu und seiner Ehefrau. Ein außerordentliches Militärgericht erledigte den Auftrag, die Todesurteile zu fällen, Rechtsmittel wurden den Angeklagten verweigert. Es musste schnell gehen, damit der gestürzte Diktator „nicht mehr als Kronzeuge gegen andere Täter auftreten konnte.“

Bevor der Vorhang 1989 aufging, war das Ereignis in den Arbeiten von Intellektuellen und Schriftstellern geistig längst vorweggenommen. Dalos‘ utopischer Essay von 1985, „Die Befreiung der Sowjetunion von ihren Satelliten“, beschließt das vorliegende Buch und erinnert an diese unverzichtbare Vorarbeit.

Neuberts packend geschriebenes Epos über die 13 Monate „Unserer Revolution“ zwischen September 1989 und Oktober 1990 gliedert sich in zwei Teile. In der ersten Hälfte geht es um den Sturz der SED-Diktatur in der DDR, in der zweiten, ab dem Mauerfall, um die deutsche Einheit. Neuberts Erzählung des revolutionären Prozesses liegt ein soziologisches Interpretationsmuster zu Grunde. Geschichte entsteht durch das soziale Handeln von Menschen, somit rückt er die Akteure in den Mittelpunkt der Darstellung. Revolution heißt für ihn „Selbstermächtigung der Gesellschaft“ und impliziert die politische Machtfrage im Staate DDR. Die Opposition war nicht nur mit den „bewaffneten Organe“ konfrontiert, sondern agierte auch in einer ideologisch vorgegebenen „Wirklichkeitsordnung“, die der Bevölkerung keine selbstbestimmte Sprache erlaubte, dafür sorgte das politische Strafrecht. Die Konsequenz war „Passivität, Orientierungs- und Sprachlosigkeit“. Dem Betrachter von außen erschien es sogar wie „der Wille zur Ohnmacht“ der Gesellschaft. Die Verfügung über die Sprache gehörte zum stalinistischen Erbe der SED. Stalin verstand Sprache als „ein Werkzeug des Kampfes und der Entwicklung der Gesellschaft“.

Die Konstituierung der Opposition beginnt mit dem Wort, gesprochen in Gottesdiensten, in Sprechchören auf der Straße, in denen der SED die Zustände in der DDR anklagend vorgehalten und Reformen eingefordert wurden. Das Buch bietet eine Fülle von Beispielen kreativer Wortschöpfungen, in denen sich der Übergang von der passiven Hinnahme der Diktatur zu aktivem Handeln gegen die Partei widerspiegelte. Im September fielen dann die „Entgrenzung der DDR“ durch die Massenflucht und das „Aufbrechen des geschlossenen politischen Raumes“ innerhalb des Staates zusammen.

Neuberts methodischer Ansatz, Sprache und politische Macht zur Analyse des Verlaufs der Revolution in der DDR heranzuziehen, ist produktiv. Er kann damit den Aufbruch von unten und die geistige Entwaffnung der SED, die zum Machtverlust führte, plausibel erklären. Ohne die Agonie der Staatspartei hätte es weder einen Mauerfall noch die deutsche Einheit gegeben. Die Klärung der Frage, wie es begann, ist der wichtigste Beitrag, den Neuberts Buch zur aktuellen Debatte um 1989 leistet.

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