J. Eckel: Deutsche Geisteswissenschaften

Titel
Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870


Autor(en)
Eckel, Jan
Erschienen
Göttingen 2008: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
174 S.
Preis
€ 18,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Thiel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Jan Eckels kleines Handbuch informiert seine Leser knapp, zuverlässig und gut lesbar über die wichtigsten Entwicklungen in den deutschen Geisteswissenschaften seit 1870. Eckel stellt die wichtigsten Ideen und Konzeptionen, Debatten und Diskurse in einem bereits im Kaiserreich weit ausdifferenzierten und spezialisierten Disziplinengefüge vor, beschreibt intellektuelle Umfelder und institutionelle Verankerungen sowie die sozialen und politischen Rahmenbedingungen, in der sich die Entwicklung der Geisteswissenschaften vollzog. Der Freiburger Historiker zeigt aber auch, wie die Geisteswissenschaften ihrerseits in Gesellschaft und Politik oder in andere Wissenschaftsfelder hinein und zurück wirkten.

Das von Eckel behandelte Fächerspektrum umfasst all jene Fächer, die seit dem Kaiserreich zu den „Philosophischen Fakultäten“ gehörten, also vor allem die „klassischen“ geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Philosophie, Geschichte oder Sprachwissenschaften, später aber auch Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaft. Weitgehend außen vor bleiben Theologie, Nationalökonomie und Rechtswissenschaft. Solche notwendigen Ab- und Eingrenzungen sind immer eine schwierige Entscheidung, insbesondere in Fällen von nur scheinbarer Eindeutigkeit. Im Grunde lässt sich gegen die von Eckel gewählte Beschränkung wenig sagen. Korrekterweise hätte der Autor jedoch bei seiner Entscheidung, die Zugehörigkeit einzelner Disziplinen zu den „Philosophischen Fakultäten“ als entscheidendes Auswahlkriterium zu bestimmen, zumindest darauf hinweisen müssen, dass die Philosophischen Fakultäten noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an einigen Universitäten auch die naturwissenschaftlichen Disziplinen einschlossen.

Eckels Buch ist chronologisch gegliedert; die jeweiligen Zeitabschnitte folgen im Wesentlichen den politischen Umbrüchen. Eine Ausnahme stellt lediglich das Jahr 1960 dar, das Eckel für die lange Nachkriegszeit als erste Zäsur dient. In den einzelnen Zeitabschnitten widmet sich Eckel dann jeweils spezifischen Fragestellungen und Schwerpunkten – im Kaiserreich etwa den institutionellen Umbrüchen, der Pluralisierung der Forschung, dem Krisendiskurs und dem Bedürfnis nach „Ganzheit“ oder der Neudefinition der Erkenntnisgrundlagen. Die neueste Forschungsliteratur ist in jedem Abschnitt hinreichend berücksichtigt; ein Literaturverzeichnis ist wohl dem Handbuchformat zum Opfer gefallen. Hinweise auf die zitierte oder weiterführende Literatur muss sich der Leser also gegebenenfalls aus dem Anmerkungsapparat am Ende des Buches erschließen.

Angemessen ist die Gewichtung der einzelnen Zeitabschnitte. Das Kapitel über die Geisteswissenschaften im Dritten Reich nimmt zu Recht vergleichsweise viel Platz ein. Für die relativ ausführliche Darstellung der Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus spricht vor allem, dass die gegenwärtige wissenschaftshistorische Forschung sehr stark auf die NS-Zeit samt ihrer Vor- und Nachgeschichte fokussiert ist. Eckel geht von einer „enge[n] Allianz zwischen den Geisteswissenschaften und dem nationalsozialistischen Regime“ aus (S. 52). Die wichtigste Funktion der Geisteswissenschaften für das nationalsozialistische Herrschaftssystem sieht er – in Einklang mit den meisten Forschern – in der Bereitstellung von Expertenwissen und ihrer Rolle als Legitimationswissenschaften. Eckel beschreibt die „Voraussetzungen und Dispositionen“ (S. 53), die zu den „subtile[n] Angleichungen und Radikalisierungen“ (S. 69) der Geisteswissenschaften und ihrer Vertreter im Nationalsozialismus führten. Im Zusammenspiel der genannten Faktoren mit der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, die von Eckel knapp, aber differenziert dargestellt wird, sieht er die Ursache dafür, dass sich die meisten der in Deutschland bleibenden – nichtjüdischen – Geisteswissenschaftler relativ schnell im NS-Wissenschaftsbetrieb einrichteten. Hinzu kam, dass nationalsozialistische Herrschaftspraxis und Krieg neue Aufstiegschancen boten. Eckel rundet das Bild der Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus mit einem Blick auf nonkonformes und abweichendes Denken und Verhalten einzelner Geisteswissenschaftler ab. Die meisten Geisteswissenschaftler aber bewegten sich, so Eckel bilanzierend, zwischen den beiden „seltenen Polen der vorbehaltlosen Bejahung und des aktiven Widerstands“ (S. 54).

Personelle Kontinuitäten und ein eher verdeckender als aufklärender Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kennzeichnen laut Eckel die Zeit nach 1945. Erst die 1960er-Jahre stellen seiner Ansicht nach einen „Wendepunkt in der fachlichen Traditionenbildung“ (S. 98) dar. Dieser Wandel vollzog sich zunächst vorsichtig, erwies sich aber langfristig als dauerhaft. Er führte schon bald zu neuen Aufbrüchen, aber auch zu neuen Unübersichtlichkeiten (S. 112) und schließlich zu einer institutionellen Expansion und zu weit reichenden konzeptionellen Umbrüchen in den Geisteswissenschaften (S. 113 bzw. S. 117). Eckel lässt seinen Abriss der deutschen Geisteswissenschaften 1990 enden, also im Jahr der deutschen Vereinigung. Die Zeit danach wird nur noch kursorisch abgehandelt. Eckel skizziert die sich abzeichnenden und teils schon Wirklichkeit gewordenen Veränderungsprozesse des modernen Wissenschaftssystems; sieht auch die damit verbundenen Schwierigkeiten und Neuorientierungen kritisch. Zum Klagelied aber werden seine Überlegungen nicht. Eckel plädiert stattdessen für eine sachlich geführte Debatte und eine historisch begründete Selbstreflexion über den Zustand und die Zukunft der Geisteswissenschaften in Deutschland. Sein Buch bietet im Übrigen genug Anschauungsmaterial, um zu sehen, dass Krisendiskurse seit jeher zum verlässlichen rhetorischen Repertoire deutscher Geisteswissenschaftler gehörten. Oder, um es salopp zu formulieren: Die Krise war und ist immer und überall.

Vieles an Eckels Buch ist zu loben. Als Überblicksdarstellung, sicher nicht zuletzt für Studenten und Neugierige, die sich „nur“ allgemein informieren wollen, sich aber (noch) nicht für jede einzelne Verästelung und Fußnote der Forschung interessieren, wird es zukünftig als eine gute Einstiegs- und Orientierungshilfe dienen. Natürlich könnte man einwenden, dass diese und jene Entwicklung fehlt, der eine oder andere Aspekt zu kurz kommt und dass manches kürzer, vieles auch länger hätte abgehandelt werden können. Solche Vorwürfe wird man aber fairerweise einem Buch dieses Formats nicht machen können.

Eine Lücke aber sollte in einer nächsten Auflage vielleicht doch gefüllt werden. Eckels Darstellung der deutschen Geisteswissenschaften nach 1945 bleibt auf die alte Bundesrepublik beschränkt. Der Autor hat das Problem erkannt, weicht ihm aber auf elegante Weise aus. Das unterscheidet ihn immerhin von fragwürdigen Ansätzen, die die vormals geistes- und später gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen in der SBZ/DDR oft in Gänze als vermeintliche „Pseudowissenschaften“ abtun – und sich damit eines in vielerlei Hinsicht interessanten Problems auf eine ganz bequeme Art entledigen. Eckel begründet den Verzicht auf eine Darstellung der ostdeutschen Entwicklung damit, dass eine Einbeziehung der Geisteswissenschaften in der SBZ/DDR den „argumentativen Rahmen“ des Buches gesprengt hätte. Hier hätte, so Eckel, eine „grundlegend andere Perspektive“ (S. 11) gegenüber den westdeutschen Verhältnissen vorgeherrscht. Das mag so sein; aber auf diese Weise bleibt sein Buch zwangsläufig eine einseitige Meistererzählung der „alten“ Bundesrepublik, die beispielsweise die wichtigen Brüche von 1945/49 und 1989/90 nur aus einer Perspektive heraus behandelt. Das ist schade, denn gerade die divergierende Entwicklung in der SBZ/DDR, in der die geisteswissenschaftlichen Disziplinen mehrheitlich in den „Gesellschaftswissenschaften“ aufgingen und in gänzlich andere politische Rahmenbedingungen einbezogen waren, wäre durchaus ein wichtiges Thema für ein solches Buch gewesen – sei es als „bloße“ Kontrastfolie für die Geisteswissenschaften in der Bundesrepublik oder aber, in der anspruchsvolleren Variante, als eine Perspektivenkonstellation, die die Entwicklungen in Ost und West gegen- und nebeneinander gestellt und gespiegelt hätte.

Trotz dieser Einschränkung aber ist Eckels Buch als Einführungstext und Überblicksdarstellung zur Geschichte, aber auch als Diskussionsbeitrag zum gegenwärtigen Zustand der deutschen Geisteswissenschaften unbedingt weiterzuempfehlen. Wer sich rasch und zuverlässig über die deutschen Geisteswissenschaften seit dem Kaiserreich informieren will, sollte Eckels Buch zur Hand nehmen.