Cover
Titel
Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse


Herausgeber
Geis, Anna
Reihe
Schriftenreihe der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Bd. 6
Erschienen
Baden-Baden 2006: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Werner Bührer, Fachgebiet Politikwissenschaft, Technische Universität München

Obwohl bekanntlich schon Clausewitz den Krieg als „wahres Chamäleon“ bezeichnet hatte, „weil er in jedem konkreten Fall seine Natur etwas ändert“ (zitiert im Beitrag von Anna Geis, S. 14), erlebt das Konzept der „neuen Kriege“ seit der letzten Jahrtausendwende eine erstaunliche Karriere. In der wissenschaftlichen Arena sorgten vor allem Mary Kaldor und Herfried Münkler für seine Verbreitung.1 Dominiert wurde die Debatte bisher von Politologen, die in ihrer Neuentdeckungseuphorie eventuelle historische Vorläufer oft schlicht ignorierten. Erst in jüngster Zeit mehren sich Stimmen auch aus dem Lager der Historiker, welche die These der „neuen“ Kriege unter Verweis auf Beispiele aus der Geschichte in Frage stellen.2 In dem von Anna Geis, Mitarbeiterin der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main, herausgegeben Band kommen mit einer Ausnahme – einem Soziologen – allerdings ausschließlich Vertreter verschiedener Teildisziplinen der Politikwissenschaft zu Wort. Der von manchen Wissenschaftlern erhobenen Forderung nach „Interdisziplinarität der Kriegsforschung“ unter Einschluss etwa der Ethnologie oder der Geschichtswissenschaft, stellt die Herausgeberin in ihrer Einleitung kategorisch fest, habe man nicht nachkommen können (S. 36, Anm. 40). Das ist bedauerlich, würde doch die „Kriegsforschung“ von unterschiedlichen Zugriffen gewiss profitieren.

Der Befund, mit dem sich die zwölf Autoren des aus einer Tagung der Sektion Politische Theorien und Ideengeschichte der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und der HSFK hervorgegangenen Sammelbandes auseinandersetzen, ist mittlerweile geläufig: Die Ära der klassischen (Staaten)Kriege sei zu Ende, an ihre Stelle sei ein neuer Kriegstypus getreten, der sich durch „Entstaatlichung, Entpolitisierung, Entmilitarisierung, Entzivilisierung, Entterritorialisierung und Entgrenzung“ auszeichne (S. 19). Spiegelt dieser Befund nun, wie Anna Geis einleitend mit Recht fragt, Veränderungen in der Realität oder nur in der Wahrnehmung wieder? Anliegen und Anspruch der Autoren ist es allerdings nicht nur, das Theorem der „neuen Kriege“ zu diskutieren, sondern in einer Art Zwischenbilanz „auf der Basis der empirischen Befunde zum weltweiten Kriegsgeschehen die verschiedenen Begriffe, Konzepte und Theorien des Krieges“ insgesamt kritisch zu erörtern (S.10). Dies geschieht in drei Etappen.

Zunächst geht es um „Empirie und Theorie des globalen Kriegsgeschehens“: Sven Chojnacki schreibt seine zahlreichen einschlägigen Arbeiten fort und stellt einen neuen Datensatz vor, der „alle kriegerischen Ereignisse und militärischen Interventionen in laufende Kampfhandlungen“ für die Jahre 1946 bis 2003 erfasst (S. 49). Auf dieser Grundlage kommt er zu dem Ergebnis, dass „substaatliche Kriege zwar an Bedeutung gewonnen haben, aber (zumindest noch) nicht die dominante Form kriegerischer Gewalt im globalen Zeitalter sind“ (S. 66). Thorsten Bonacker und Andreas Herberg-Rothe nehmen in ihren Beiträgen die empirischen Befunde nur noch als Ausgangspunkt und konfrontieren sie in forschungsprogrammatischer Absicht mit der Theorie der Weltgesellschaft bzw. dem Erklärungsansatz des Weltordnungskonflikts.

Die fünf Beiträge des zweiten Kapitels widmen sich Kriegsbegriffen und -theorien. Während Klaus Schlichte die wichtigsten Stränge der Debatte über die „neuen“ Kriege einer kritischen Revision unterzieht und Tine Stein bemängelt, dass die Theoretiker des „kleinen Krieges“ auf die „Analyse der inhaltlichen Handlungsmotive“ terroristischer Gruppierungen verzichteten (S. 175), erhalten Herfried Münkler und Christopher Daase Gelegenheit, ihre Positionen zu den „neuen“ bzw. „kleinen“ Kriegen zu verteidigen. Abschließend setzt sich Matthias Iser mit den „Paradoxien des (un)gerechten Krieges“ auseinander.

Im dritten Kapitel gehen Lothar Brock, Harald Müller und Marcus Llanque aus unterschiedlicher Perspektive unter den Stichworten „demokratischer Friede“ und „demokratischer Krieg“ der Frage nach, warum, mit welchen Mitteln und unter Rückgriff auf welche Rechtfertigungsstrategien Demokratien besonders seit dem Ende des Ost-West-Konflikts Krieg führten und noch immer führen. Während die „Kriegsabneigung“ von Demokratien im Verhältnis zu anderen Demokratien unstrittig ist, konstatiert Brock eine „spezifische Gewaltbereitschaft von Demokratien gegenüber Nicht-Demokratien in der Form von Erzwingungskriegen“ (S. 223).

Der von der Herausgeberin kompetent und mit Blick für die wesentlichen Kontroversen eingeleitete Sammelband dürfte vor allem von denjenigen Lesern und Leserinnen mit Gewinn konsultiert werden, welche die intensiven Debatten um die „neuen Kriege“ bisher nur ansatzweise rezipiert haben. Der Anspruch, Zwischenbilanz zu ziehen, wird jedenfalls voll und ganz eingelöst. Wer hingegen mit den verschiedenen Konzepten und Positionen bereits vertraut ist, findet kaum neue Ideen und Thesen. Die Präsentation und Verarbeitung neuer empirischer Erkenntnisse tritt – von dem Beitrag Chojnackis abgesehen – eindeutig hinter theoretische, oft künftige Forschungsaufgaben umreißende Überlegungen zurück. Über die oben zitierte Frage, ob sich die Realität oder die Wahrnehmung – oder womöglich beide – verändert hätten, wird jedenfalls weiter zu streiten sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. vor allem Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000, und Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Hamburg 2002.
2 Vgl. z.B. Martin Rink, Der kleine Krieg. Entwicklungen und Trends asymmetrischer Gewalt 1740 bis 1815, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 65 (2006), Heft 2.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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