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Titel
Hugo Grotius und die Antike. Römisches Recht und römische Ethik im frühneuzeitlichen Naturrecht


Autor(en)
Straumann, Benjamin
Reihe
Studien zur Gechichte des Völkerrechts 14
Erschienen
Baden-Baden 2007: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 221 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Mühlegger, Welfen-Gymnasium Schongau

Benjamin Straumann beschäftigt sich in seiner 2005 an der Universität Zürich angenommenen Dissertation mit dem Einfluss, den die Antike auf die Ausgestaltung des Völkerrechts bei Hugo Grotius besaß. Einleitend stellt der Autor fest, dass in der bisherigen Forschung Grotius kaum als juristischer Humanist begriffen und daher der Einfluss antiken Denkens auf ihn zu wenig berücksichtigt wurde. Dies zu untersuchen ist insbesondere dort interessant, wo Grotius bisher als Neuerer gesehen wurde, nämlich hinsichtlich der natürlichen subjektiven Rechte. Daher will Straumann Grotius nicht zwischen Scholastik und Moderne ansiedeln, sondern ihn als Repräsentanten frühneuzeitlichen Naturrechts und als Vermittler der Antike darstellen, der vor allem auf römische Rechtsquellen wie das Corpus iuris civilis, aber auch auf Ciceros moralphilosphische Dialoge und rhetorische Schriften von Cicero und Quintilian zurückgriff.

Im ersten Teil seiner Arbeit erklärt Straumann anhand der Schriften De iure praedae commentarius von 1604/06, Mare liberum von 1609, den bisher unveröffentlichen Theses sive quaestiones LVI und der Defensio capitis quinti maris liberi oppuganti a Guilielmo Welwodo, mit welchen Argumenten Grotius die Kaperung eines portugiesischen Schiffs durch die Vereinigte Ostindische Kompagnie (VOC) als rechtmäßig darzustellen versuchte. Da die Portugiesen ihr Handelsmonopol in Südostasien mit dem Gewohnheitsrecht, dem Titel von Entdeckung und Besitz und päpstlichen Edikten rechtfertigten, musste Grotius auf eine alternative Rechtsquelle zurückgreifen, um die portugiesischen Ansprüche zu unterminieren. Er rekurrierte in erster Linie auf Ciceros philosophische Schriften, vor allem auf de officiis, de legibus und de re publica. Wie Cicero differenzierte er zwischen der Natur des Menschen als Quelle für das eigentliche Naturrecht und dem Konsens der Völker als Quelle für das sekundäre ius gentium. Während ersteres in Anlehnung an die antike Rhetorik mit Hilfe der deductio zu erkennen ist, muss das Recht der Völker empirisch über die inductio herausgearbeitet werden. Durch diese Differenzierung konnte Grotius geltende völkerrechtliche Übereinkünfte als konventionell entlarven und sie somit ihres Geltungsanspruchs berauben. Dazu postulierte er, dass sich die Weltmeere und Südostasien in einem „Naturzustand“ befinden, in dem Ansprüche nur aus Naturrecht erhoben werden können. Vor allem aus römischen Quellen leitete er sechs in erster Linie eigentumsrechtliche „Gesetze“ des Naturrechts ab, aus denen Rechtsansprüche erwachsen können. Er verband die von Laelius im 3. Buch von de re publica zur Rechtfertigung der römischen Expansion vorgetragene Lehre vom bellum iustum mit der aus dem römischen Privatrecht übernommenen Forderung nach Wiedergutmachung (rerum repetitio). Die VOC durfte – so Grotius – also gegen Portugal vorgehen, um ihre Rechte zu verteidigen, sofern dafür gerechte Gründe vorliegen, aus denen dann die subjektiven Rechte der VOC erwachsen, zumal die Abwesenheit einer richtenden Instanz auf den Weltmeeren und in Südostasien andere Rechtsmittel wie Klagen (actiones) ausschließt. Straumann arbeitet präzise und zielstrebig heraus, wie Grotius auf Cicero und römischem (Eigentums-)Recht aufbauend ein Naturrecht entwirft, das sich „auf Individuen, private Handelsgesellschaften und Gemeinwesen im Naturzustand erstreckt und diesen subjektive Rechtsansprüche einräumt“ (S. 84).

Im zweiten Teil seiner Arbeit erhärtet Straumann diese Schlussfolgerungen an Grotius’ De iure belli ac pacis libri tres. Die Kontinuität, die zwischen beiden Schriften besteht, führt der Autor auf die beide Male in Anspruch genommene römische Tradition zurück. Eine Erweiterung gegenüber der früheren Schrift stellt indes Grotius’ systematische Rechtsquellenlehre dar. Der Niederländer führte es auf die Verwendung disparater Rechtsquellen und das Fehlen historischer Kenntnisse zurück, dass vor ihm noch niemand eine umfassende Darstellung des Völkerrechts unternommen hatte. Als eigentliche Rechtsquelle benannte Grotius den – nicht voluntaristisch verstandenen – Willen Gottes, der in der menschlichen Natur, genauer in der menschlichen Vernunft erkennbar sei. Diese Definition des Rechts stammt aus der Stoa und wurde von Grotius aus Cicero übernommen. Mit ihm stellt Grotius im Menschen einen Trieb zur Gesellschaft fest (appetitus societatis). Sein „Gegner“ ist hier wie auch schon in De iure praedae Karneades. Grotius, der das dritte Buch von Ciceros de re publica nur über Laktanz’ Diviniae Instititutiones kannte, widerlegte dabei das letztendlich sophistische Argument, dass es keine wirkliche Gerechtigkeit gebe, mit den Mitteln der Rhetorik. Dabei verfolgte er eine doppelte Strategie: Wie in De iure praedae leitete er naturrechtliche Normen a priori aus einer vornehmlich stoischen Anthropologie ab, während er andererseits – wenn auch weniger zwingend – empirisch vorging. Über diese Methode der inductio wollte er durch Beispiele (exempla) und Urteile (iudicia) auf die menschliche Natur rückschließen.

Hinsichtlich der Quellen differenziert Grotius zwischen Historikern, Philosophen und Zeugnissen römischen Rechts. Der Konsens gerade der gesitteteren Völker wiederum ließ ihn auf eine gemeinsame Ursache schließen, die im appetitus societatis liegt. Dieser spezifische menschliche Trieb entspricht weitgehend dem oikeiosis-Begriff, den Cicero aus der Stoa übernommen hat. Eine Modifikation der orthodoxen Stoa findet bei Cicero aber da statt, wo er den ersten natürlichen Dingen (prima naturae), darunter der Selbsterhaltung eine wichtigere Rolle gegenüber Tugend (honestum) einräumt, um die Tugendethik der alten Stoa zu einer Handlungsethik zu erweitern. Cicero und Grotius schafften es jedoch nicht – wie Straumann überzeugend darlegt –, die Lehre vom gerechten Krieg mit dem stoischen honestum-Begriff in Einklang zu bringen. Daher können auch in De iure belli ac pacis gerechte Kriegsgründe nur aus dem Schutz der ersten natürlichen Dinge, darunter der Selbsterhaltung, entnommen werden. Es sind dies der Schutz von Eigentum, die Ersatz- und Erstattungspflicht, die Vertragstreue und die Vergeltung unter den Menschen durch Strafe. Eine Verletzung dieser Normen lässt subjektive natürliche Rechte auf die Anwendung von Gewalt entstehen. Ausgehend von diesen Normen bennent Grotius auch vier Kategorien von gerechten Kriegsgründen: „Verletzung der eigenen Person, Verletzung von Eigentum, Nichtbezahlung von Geschuldetem und Delikte. Die Kategorien entsprechen den Kategorien verletzbarer subjektiver Rechte: Freiheit, Rechte in rem, Rechte in personam und das Recht zur Bestrafung“ (S. 164). Straumann folgt Grotius’ Kategosierung und erläutert die einzelnen Implikationen dieser Kriegsgründe.

In einem kurzen Schlussteil fasst Straumann noch einmal die Bedeutung der römischen Antike für Grotius’ Naturrechtskonzeption zusammen, gibt einen instruktiven Überblick über ihre Wirkungsgeschichte und hebt die Bedeutung naturrechtlich begründeter Regeln für das menschliche Zusammenleben hervor.

Straumanns Arbeit besticht durch ihre klare Gliederung, ihre präzise Arbeit an Grotius’ Texten sowie durch ihre stringente und zielorientierte Darstellung. Sie stellt einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung des frühneuzeitlichen Naturrechts dar und wird für die weitere Auseinandersetzung mit Grotius’ völkerrechtlichen Schriften unerlässlich sein. Bedauerlich ist – neben dem Fehlen eines Registers –, dass interessante Parallelen zu Grotius’ Argumentationsweise in den theologischen Streitigkeiten der 1610er-Jahre nicht gezogen wurden. Insbesondere in der Defensio fidei catholicae de satisfactione und in De imperio summarum potestatum circa sacra finden sich ganz ähnlich Autorisierungsstrategien mit Rekursen auf römisches Privatrecht, die die Bedeutung, die Grotius der Antike zumaß, noch stärker unterstreichen könnten. Aber auch in den „Elementardogmatiken“ Meletius und De veritate religionis Christianae ließen sich viele Parallelen finden, in erster Linie bei der Hochschätzung der römischen Ethik bzw. dem Gebrauch der Testimonien.

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