Cover
Titel
Neighbours or enemies?. Germans, the Baltic and beyond


Autor(en)
Hiden, John; Housden, Martyn
Reihe
On the Boundary of Two Worlds: Identity, Freedom, and Moral Imagination in the Baltics 12
Erschienen
Amsterdam 2008: Rodopi
Anzahl Seiten
VIII, 154 S.
Preis
€ 42,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Heinert, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Universität zu Köln

Dass auf dem angelsächsischen Buchmarkt auch bei Publikationen aus der Feder von Wissenschaftler/innen provokative Zuspitzungen und maßlose Übertreibungen zumindest auf den Buchumschlägen nicht ganz selten sind, ist bekannt. Dies muss kein Manko sein, zumal dadurch auch Leserkreise außerhalb von Elfenbeintürmen und akademisch verbrämten Fachdiskursen angesprochen und neue Problemstellungen durch Provokationen in den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs eingebracht werden können.

John Hiden und Martyn Housden haben mit Ihrem (explizit nicht nur und auch nicht in erster Linie an Spezialisten adressierten) Buch über “Neighbours or enemies? Germans, the Baltic and beyond” einen hohen Anspruch. Auf dem Buchcover wird er wie folgt formuliert: “This is the first attempt to redress the injustice done to the memory of German minorities by the popular equation of ‘Lebensraum’ and Nazism; minorities, many of whom chose to be neighbours rather than enemies and who over time peacefully shared with other nationalities the territorial space east of the Reich”. Auch wenn die verkaufsstrategisch bedingte Übertreibung in Rechnung zu stellen wäre, scheint dieser Anspruch dem Rezensenten diejenige Messlatte zu sein, an der die Autoren gemessen werden wollen, zumal diese These nicht nur auf dem Cover formuliert, sondern – in etwas abgeschwächten Formen – auch in dem Buch selbst an mehreren Stellen wiederholt wird.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Arbeit die Bestrebung, das Konzept des “Lebensraums” und die damit verbundenen historischen “borderland experiences” aus der Verengung auf den Nationalsozialismus zu befreien und in längerfristige sowie größere historische Zusammenhänge einzuordnen. Dieses Anliegen wird zu Beginn der Arbeit klar herausgestellt: “Implicit in our project […] is also the attempt to release the concept of ‘living space’ from its exclusive association with the Third Reich in the popular and scholarly imagination” (S. 2). Diese Stoßrichtung wird mit der Fokussierung auf die baltische Region verknüpft, die als ein Beispiel für die meist mehr oder weniger friedliche, jedenfalls vielschichtige Koexistenz von Deutschen und Nicht-Deutschen apostrophiert wird. Letztlich geht es in dem Buch nicht primär um das “Baltikum”, sondern nicht zuletzt um dessen Stellenwert für politische Imaginationen, mentale Landkarten und Lebensraumphantasien in “Deutschland “ (vom Kaiserreich bis hin zur Bundesrepublik). Solche Fragestellungen sind, wie neuere Forschungen andeuten, durchaus ernst zu nehmen und können die nationalhistoriographischen Fixierungen konstruktiv ergänzen.1

Um Lebensraumkonzepte historisch aus der nationalsozialistischen Blickverengung zu befreien – dies allerdings ist nicht wirklich der erste Vorstoß –, betonen die Autoren, dass: “In the history of all imperial systems one colonised area invariably figures more prominently than others [...]. For Britain, India was central to the myths of Empire […]. In Germany’s case the Baltic region exerted a particular attraction, not only for the rulers of the German Empire and its military leaders, but also for the popular and intellectual imaginations ever since the arrival in the twelfth century of the Teutonic Crusading Order” (S. 35). So konstruktiv eine solche Perspektivierung auch zu sein scheint, argumentieren die Autoren in der artifiziellen Kontinuitätenbetonung doch ein wenig ahistorisch, denn bei der Einbettung in die Gesamtargumentation bleibt vor allem der (historisch variable) Konstruktionscharakter der Begriffe “deutsch”, “baltisch”, “baltendeutsch” unterbeleuchtet (man könnte “deutschbaltisch” hinzufügen sowie eine Reihe weiterer historischer Begriffe). Schade. Denn gerade diese Fragestellung hätte die Arbeit um eine nicht unwichtige Pointe bereichern können.

Den Autoren geht es um die Hervorhebung historischer Kontinuitäten (und Brüche), die nicht zwangsläufig auf Nationalsozialismus und Holocaust hinausliefen. Keine allzu neue Forderung, wurde doch spätestens seit den 1980er-Jahren die ehrwürdige Sonderwegthese – ursprünglich eine modifizierte Denkfigur aus dem Kaiserreich – (zunächst vor allem von englischsprachigen Autoren) Schritt für Schritt entzaubert. Das Verdienst von Hiden und Housden ist es, diese Forderung am Beispiel der deutschen Lebensraumkonzepte in der baltischen Region und in Ostmitteleuropa allgemein noch einmal dezidiert formuliert zu haben. Mag sein, dass dieses Anliegen in Teile der außerwissenschaftlichen englischsprachigen Leserschaft, an die das Buch insbesondere gerichtet ist, noch nicht durchgedrungen ist. Der Vorwurf der Verengung der Idee des Lebensraums auf die nationalsozialistischen Gräuel, ein Vorwurf, der sich insbesondere gegen die englischsprachige Forschung richtet (S. 3), scheint aber heute nicht mehr ganz aktuell zu sein. Gleich zu Beginn des Buches wird außerdem eine wenig originelle Forderung formuliert: “There is a need to rescue such continuities from the marginalization they have suffered […] in the extensive literature […] on the origins and course of German anti-Semitism” (S. 3). Es scheint, dass die Autoren vor allem (aber nicht nur) neuere Forschungen zur (deutsch-)jüdischen Geschichte sowie zur Geschichte des Antisemitismus äußerst selektiv rezipiert haben. Abgesehen von einigen “Überfliegern” á la Goldhagen, auf den auch eingegangen wird, scheint es heute eher ein Phantom zu sein, gegen welches die Autoren hier die Keule schwingen.

Den Autoren geht es darum, die Widersprüchlichkeiten, unterschiedlichen Formulierungen sowie Umsetzungen der Lebensraumplanungen auch innerhalb der nationalsozialistischen Führungs- und Verwaltungselite darzustellen. Das reicht bis hin zu Alfred Rosenbergs Zukunftsplänen unter der Berücksichtigung der multiethnischen Strukturierung der Gebiete im Osten sowie Hans Franks verwaltungspraktisch und strategisch bedingter Formulierung der “Lebensraum”konzeption, die die Autoren folgendermaßen auf den Punkt zu bringen und von der ausschließlich genozidalen “Lebensraum”politik abzugrenzen versuchen: “Whatever the long terms plans for his territory, in the immediate term the Governor General seemed to end up working towards the creation of a multi-ethnic apartheid state” (S. 81). Dass das NS-System von internen Spannungen und Interessenskonflikten durchzogen war, ist keine neue These. Ob die hier gewählten Beispiele gut geeignet sind, dem Leser eine gründlich neue Sicht auf die nationalsozialistische Lebensraumpolitik zu präsentieren, scheint dem Rezensenten fraglich zu sein.

Die Darstellung streift auch die (Vor-)Geschichte des Kaiserreichs und des Ersten Weltkriegs, bleibt aber schwerpunktmäßig auf die “Zwischenkriegszeit” und den Zweiten Weltkrieg fokussiert, was tendenziell den Blickwinkel etwas zu verengen scheint, zumal die Autoren eingangs festzustellen glauben “that broader and longer term issues relating to the German nation and the existence of Germans beyond the Reich’s eastern borders have too often been left completely to one side or given insufficient weight”. Das Anliegen, “to redress this by opening readers’ minds to the diversity of life-styles and cultural possibilities that could, and indeed did, develop where Germans and non-Germans shared territorial space over time” (S. 3), hätte von einer Perspektivenerweiterung profitieren können. Etwas unverständlich bleibt, warum sich die Autoren eingangs über die Flut an Literatur zum Dritten Reich ein wenig ironisch äußern (S. 2f.), wenn doch sie selbst in ihrer Darstellung auffallend viel Platz der NS-Zeit einräumen.

Das Buch ist in acht Kapitel unterteilt, die mehr oder weniger chronologisch aufgebaut und plakativ überschrieben sind: “The troubled nation”, “Peaceful coexistence”, “Living communities”, “The new aristocracy”, “Dying space”, “Ordinary Germans?”, “Refugee nation” und “The end of nationalism?”. Auch wenn die Darstellung, so die Befürchtung des Rezensenten, die Nicht-Spezialist/innen an einigen Stellen alleinlassen könnte, weil sie zwar gut lesbar ist, aber den Versuch, historische Alternativen und Widersprüche, Kontinuitäten und Brüche nebeneinanderzustellen, nicht immer ganz gelungen zu meistern und empirisch eindeutiger zu gewichten vermag, bietet sie insgesamt doch einen brauchbaren Einstieg in einige Problemfelder.

Geboten wird ein Überblick über die Weimarer “Ostpolitik”, die Entwicklung politisch-demographischer Lebensraumkonzepte, die (gesamteuropäische) Bedeutung (auslands)deutscher Minderheitenpolitiker in Ostmitteleuropa und im Baltikum insbesondere, die allmähliche und konfliktgeladene Verschränkung von (auslands)deutscher Minderheitenpolitik und deutscher Volkstumspolitik im Umfeld des Europäischen Nationalitätenkongresses – die beiden letzten Punkte stellen vermutlich die eigentliche Stärke des Buches dar –, die schrittweise Radikalisierung der Lebensraumpläne im Soge der nationalsozialistischen Machtübernahme, die Radikalisierung des Krieges an der Ostfront sowie einige divergierende und wechselnde Interessen innerhalb der nationalsozialistischen Führungs- und Verwaltungselite in den besetzten Gebieten. Zudem gibt es brauchbare Einblicke in die seit den 1990er-Jahren angestoßenen Forschungen zur Beteiligung von “ganz normalen” Männern am Vernichtungskrieg und Holocaust – letzteres auch im Hinblick auf die Beteiligung von “ganz normalen” Osteuropäern deutlich hervorgehoben. Schließlich wird die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa behandelt und mit der vorangegangenen Umsiedlung der Baltendeutschen verglichen. Außerdem gehen die Autoren auf die Fragen und Probleme der gesellschaftlichen Integration und der Vergangenheitspolitik im Zusammenhang mit der Aufnahme von Millionen von Vertriebenen in der Nachkriegszeit ein.

Die Kapitel über “Ordinary Germans?” sind die einzigen, die eine eher klassische (außen-)politik- und diplomatiegeschichtliche Perspektive an einigen Stellen sozial- und kulturhistorisch durchbrechen. Vor dem Hintergrund der Leitfrage der Arbeit (“Neighbours or enemies?”) scheint dieses eher an der Geschichte der “großen Männer” orientierte Narrativ konzeptionell nicht durchweg überzeugend zu sein. Zumal die Autoren am Ende des Buches unter anderem auf die erinnerungspolitischen Strategien der Nachkriegszeit (etwa in Bezug auf die Bundesrepublik und die DDR, die Vertriebenenverbände, die Baltische Historische Kommission oder die Erinnerungspolitik im heutigen Baltikum) durchaus kritisch eingehen, die oft von einem sehr selektiven Memorieren geprägt waren, wobei “große Männer” meist auf die eine oder andere Weise ins Zentrum rückten. So etwa wenn der liberale deutschbaltische Journalist und Minderheitenpolitiker der “Zwischenkriegszeit”, Paul Schiemann, der 1944 als einer der wenigen Deutschbalten, die im Baltikum bleiben konnten, verstarb, in der Retrospektive der Nachkriegszeit vom marginalisierten Gegner der nationalsozialistischen Bewegung zu ‘der’ baltendeutschen Erinnerungsfigur der 1930er- und 1940er-Jahre aufstieg. Ansonsten war aber eher, wie es die Autoren treffend formulieren, folgendes Phänomen zu beobachten: “Adelsgeschichte […] ruled.” (S. 133)

Im Schlusskapitel werden einige strukturelle Ungleichgewichte der Darstellung oder vielleicht eher die nicht durchweg überzeugend gewichtete Darstellung historischer Widersprüche zurechtgerückt. So wird das eigentliche Anliegen durch eine klarer verortete politische und moralische Botschaft der Autoren angemessener verstehbar, auch wenn einige ihrer Schlüsse, so etwa über die Voraussetzungen und Imperative der Erinnerungspolitik in Osteuropa, diskussionswürdig bleiben. Zu diesen Diskussionen lädt das Buch engagiert ein.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa die Beiträge in: Sebastian Conrad / Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004.

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