U. Hohensee u.a. (Hrsg.): Die Goldene Bulle

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Titel
Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. Politik - Wahrnehmung - Rezeption


Herausgeber
Hohensee, Ulrike u.a.
Reihe
Berichte und Abhandlungen, Sonderbände 12
Erschienen
Berlin 2009: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
1249 S.
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Miethke, Mittelalterliche und Neuere Geschichte, Universität Heidelberg

24 Beiträge (und zusätzlich eine "Zusammenfassung") sind auf der Jubiläumstagung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im November 2006 vorgetragen worden, die jetzt zusammen mit 10 weiteren Aufsätzen als Doppelband vorgelegt werden. Dass es diese Bücher auf 1250 großformatige Seiten bringen, macht dem Werk seinen Weg zu Lesern sicher nicht leichter, die im Allgemeinen wenig Muße zur Lektüre gewaltiger Kongressakten haben dürften. Gleichwohl lohnt hier die Mühe. Die "Goldene Bulle" (im Folgenden: GB)1, die als Grundgesetz der deutschen Reichsverfassung nominell 450 Jahre lang (1356-1806) in Kraft war – gewiss eine respektable Geltungsdauer einer Verfassungsbestimmung, auch wenn diese "Geltung" nicht immer gleich bleibend intensiv gewesen ist – durfte sich im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sicherlich als ein Lieblingskind verfassungsgeschichtlicher Forschungen wissen und hat auch seither immer wieder die Aufmerksamkeit der Historiker auf sich gezogen, zumal sie auch weiterhin als beliebtes Proseminarthema vielen Anfängerstudenten methodisch und sachlich nahe gebracht wurde und wird. Die klassische Rechts- und Verfassungsgeschichte genießt aber derzeit keine allzu hohe Achtung im 'cultural turn' der Disziplin, der die strenge Begriffsarbeit juristischer Analyse nicht allzu freudig auf sich nimmt. So ist es den Veranstaltern des Symposiums zu danken, dass sie das Thema erneut ins Zentrum vielfältiger Bemühungen insbesondere von jüngeren Fachleuten gerückt haben, die hier, ganz den heutigen Tendenzen der Historie verpflichtet, ein farbiges Bild verschiedener Aspekte des großen Textes entrollen.

In vier Abteilungen haben die Herausgeber, allesamt Mitarbeiter der Forschungsstelle der Monumenta Germaniae Historica für die "Constitutiones et acta publica" in Berlin, die Beiträge gebündelt, "Kaiser und Reich im 14. Jahrhundert" (S. 17-257), "Inszenierung und Repräsentation" (S. 261-550), "Das Reich und seine Nachbarn" (S. 563-930), "Rezeption und Wirkung" (S. 933-1135). Die quantitative Gewichtsverteilung erscheint plausibel, denn erwartungsgemäß haben die "Nachbarn" den Löwenanteil zu bestreiten. Die elegante Zusammenfassung von Johannes Helmrath setzt dann bereits in ihrem Titel ("Das Reich 962 – 1356 – 1806") einen chronologisch ungemein weit gefassten Rahmen und geht sodann in drei Abschnitten dem Ablauf der Tagung nach: "Die GB: Text – Verfassung – Wirkung"; "Die GB, Kaiser Karl IV. und ihr Europa"; "Inszenierung, Zeremoniell, Visualisierung" (S. 1137-1151). Damit wird ein eigener Spannungsbogen von einer geographischen und chronologischen Breite erzeugt, der allein in den scharfsichtigen und gedankenreichen Bemerkungen von Dietmar Willoweit zur rechtsgeschichtlichen Tiefendimension von Rezeption und Verwissenschaftlichung des Rechts in Mittelalter und Neuzeit gewissermaßen auf einer anderen Spur eingeholt wird (S. 241-257).

Text und Bedeutung der GB selbst gelten zahlreiche Beiträge. Der Nutzung und Beachtung des Gesetzes, das in dem ersten Halbjahrhundert seiner Existenz nicht gerade im Zentrum zeitgenössischer Aufmerksamkeit stand (wie noch etwa Hermann Heimpel in seinem Vener-Buch überzeugend gezeigt hat2, auf den hier jedoch nicht eigens eingegangen wurde; selbst Job Vener, dem Heimpel geradezu die Wiedererweckung der GB zugeschrieben hatte, fehlt im Register) gelten spezifisch ganz verschieden gerichtete Überlegungen: Als zukunftsträchtig dürfte sich die Untersuchung von Marie-Luise Heckmann erweisen (S. 933-1042), insbesondere ihr "Anhang", eine umfängliche sachlich und chronologisch geordnete Liste (S. 981-1042) von 172 (!) Abschriften des Textes der GB im lateinischen Original und in verschiedenen europäischen volkssprachlichen Übersetzungen in mittelalterlichen, 21 weiteren in neuzeitlichen (Buch-)Manuskripten sowie auch 18 Deperdita; eine übersichtliche Tabelle (S. 976 f.) präsentiert darüber hinaus zahlreiche europäische Inkunabeln und frühneuzeitliche Drucke. Jedes Stück erhält eine knapp beschreibende Inhaltsübersicht, so dass Textüberlieferung und Nutzerinteresse ansichtig werden. Künftigen Forschungen zur Rezeptionsgeschichte ist damit an überraschendem Ort kräftig vorgearbeitet – wer denkt bei einem Tagungsband an derartige Kärrnerarbeit? Die berühmte illuminierte Prachthandschrift (ÖNB cvp 338, knapp beschrieben: S. 1017f. Nr. 116), die sich König Wenzel in Prag im Jahr seiner Absetzung herstellen ließ, steht dann im Zentrum bei Claudia Garnier (S. 225-237), die sich der Wahrnehmung der GB durch die Zeitgenossen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts widmet (S. 197-240). Eberhard Holtz (S. 1043-1069) schildert weiterführend, wie und wofür sich der Habsburger Friedrich III. und die Kurfürsten in den Konflikten seiner langen Regierungszeit auf die GB berufen haben (oder sie beiseite schoben); nicht immer entgeht er (wie auch andere Beiträge) dabei der Versuchung, über die "Geltung" des Gesetzes nach dem Bild eines positivistischen modernen Rechtsstaates zu denken. Die wissenschaftliche Behandlung der GB in der frühneuzeitlichen Reichspublizistik stellt dann Arno Buschmann am Beispiel der fünf einflussreichsten Autoren vor (S. 1071-1119) und errichtet damit einen Wegweiser zu den oft missachteten frühneuzeitlichen Kommentaren, die eine kritische Nutzung immer noch lohnen. Michael Niedermeier (S. 1121-1135) berichtet eingehend, wie sich GB und mittelalterliche Reichsverfassung bei Goethe, dem Sohn Frankfurts, gespiegelt haben.
Texterklärung lebt auch hier immer wieder vom Vergleich des Inhalts und seiner Bedingungen mit den Umständen anderwärts: Jean-Marie Moeglin (S. 17-38) bringt mit einem intensiv erarbeiteten Blick auf die zeitgenössische Wirkung der Gesetze Ludwigs des Bayerm, wie sie sich vor allem in historiographischen Zeugnissen und in ihrer materiellen Textüberlieferung spiegelt, diesen komparatistischen Aspekt zur Geltung, wobei er die Sonderrolle der GB in der mittelalterlichen Geschichte der Reichsgesetze erwartungsgemäß stark unterstreicht, während Michael Menzel (S. 39-63) ihren inhaltlichen Bezug auf die intellektuelle Vorbereitung durch politische Konzepte und Formulierungs-Stichworte aus der Zeit Ludwigs des Bayern prägnant und überzeugend als eine "feindliche Übernahme" durch Karl IV. charakterisiert und damit Kontinuität und dissimulierenden Bezug Karls zu seinem Vorgänger sichtbar macht. Vielleicht hätte die Rolle eines Marsilius von Padua, Wilhelm von Ockham und vor allem Lupold von Bebenburg klarer markiert werden können, was dann wenigstens teilweise später von Michael Lindner (S. 169-195, besonders S. 116ff.) in einer Ausschau nach namhaften zeitgenössischen Vorbildern und Einflüssen nachgeholt wird (ohne dass der Leser anders als durch das Personenregister darauf hingewiesen wird).

Vielerlei Vergleiche ermöglichen auch die Arbeiten zur Situation in den Nachbarländern des Reichs, wo von Ost nach West und Süd zahlreiche Aspekte einleuchtende Behandlung finden, auch wenn hier die GB eher stellvertretend für das Reich unter Karl IV. insgesamt angesehen wird, nicht als Text für sich (der Norden fehlt als Bühne weitgehend, wenn Dänemark, Schweden und Norwegen auch sicherlich mehr Stoff als die wenigen Bemerkungen zu bieten hätten, die sich über das Ortsregister leicht auffinden lassen). Blicke auf das Reich von außen zeigen in der weit gespannten Zusammenschau von Werner Maleczek (S. 563-598) einmal mehr die dürftige gegenseitige Information und damit die Schwierigkeiten auf allen Ebenen der mittelalterlichen Kommunikation über Grenzen hinweg. Michael Borgolte (S. 599-618) sucht den "europäischen Rang" der GB in ihrem Charakter als Herrschaftsvertrag und lex fundamentalis. Franz Tinnefeld (S. 619-637) blickt gar nach Byzanz. Die berühmte Heiratspolitik Karls IV. nach Osten und Westen, von seinen Treffen mit den entsprechenden Herrschern begleitet, führt dann entschieden von der GB fort (Ulrike Hohensee, S. 639-664). Martin Kintzinger stellt Zeremoniell und politische Repräsentation bei dem berühmten Treffen zwischen Karl IV. und Karl VI. von Frankreich noch gesondert vor (S. 299-326). Auch Reflexionen über Erb- und Wahlrecht bei polnischen Herrschern (Slawomir Gawlas, S. 665-712) können nicht erkennbar engen Bezug zum Text behalten, wenngleich natürlich das Verhältnis von Erbrecht und Wahlrecht in der Herrschaftssukzession auch für Deutschland und damit für die Wahlordnung der GB wichtig ist. Ähnlich verhält es sich mit weiteren Ausblicken nach "außen", die allesamt hochinteressante Themen aufgrund teilweise eigener Forschungen anschlagen, jedoch die GB nur indirekt beleuchten können: die Bemühungen Karls IV. durch Gesetzgebung in seinem Königreich Böhmen (Lenka Bobková, S. 713-735), die Realität der Reichspräsenz in Italien und ihr Nachleben (Marie-Luise Favreau-Lilie, S. 737-759), der Kreuzzugsgedanke und die Beziehungen zu Venedig (Uwe Ludwig, S. 761-803, mit 8 Stücken aus der Sammlung des Collegio secreta des venezianischen Staatsarchivs im Anhang), die verfassungsgeschichtliche Lage und das neue Verwaltungsschriftgut im regnum Italiae der Zeit (Antonella Ghignoli, S. 805-834), die Rekrutierung des diplomatischen Personals durch den Herrscher (Flaminia Pichiorri, S. 835-867). Näher an die GB zurück führen Michel Margue und Michel Pauly (S. 869-915), wenn sie Bezüge des Reichs zur Heimat der Luxemburger und zur Reichsstadt Metz beleuchten, die den Abschluss der Promulgation der GB gesehen hat; auch Stefan Weiss (S. 917-930) konzentriert sich auf die Rolle, die die GB im Rahmen der "Außenpolitik" Karls IV. gegenüber dem Papsttum und Frankreich spielen konnte.

Überlegungen, die sich der "Inszenierung und Repräsentation" zuwenden, zielen erst recht in das Zentrum gegenwärtigen Interesses an der GB, wenn sie fragen, wie in diesem Text durch die Inszenierung der Königswahl und der Königsbegegnung mit den Kurfürsten das Reich "inszeniert und repräsentiert" wird. Bernd Schneidmüller holt mit intensiven vergleichenden Blicken nach Frankreich und England zu einer geistreichen Betrachtung aus (S. 261-297), die er prägnant "die Aufführung des Reichs" nennen kann. Damit nimmt er die Verfassungsgeschichte der drei Staaten entschlossen ins Auge und dringt weit über einen oberflächlichen Vergleich bloßer Teil-Ähnlichkeiten hinaus zu den Tiefenschichten mittelalterlicher Sozialverfassung vor. Robert Suckale (S. 327-348) widmet sich mit kunsthistorischer Analyse den künstlerischen Ausdrucksmitteln und dem ikonographisch erfassbaren Ausdruckswillen der Hofkünstler bei der Herrscherdarstellung von Rudolf von Habsburg, Ludwig dem Bayern und Karl IV., während Jiří Fajt (S. 349-368) und Richard Němec (S. 369-401) sich speziell Karl IV. selber zuwenden, dessen Absichten sie aus seinen Auftragswerken zu erheben versuchen. Genauer auf politische Absichten zielt Olaf B. Rader, wenn er die Ausgestaltung der königlichen Begräbnisorte eingehend untersucht (S. 403-430). Die "Reliquienpolitik", die ja bekanntlich von Karl IV. bis zum Exzess ausgekostet wurde, ist Gegenstand einer Skizze Wolfgang Schmids (S. 431-464). Thorsten Fried nimmt die alte numismatische Frage nach dem Herrscherwillen des jeweiligen Münzherren bei Kaiser und Kurfürsten des 14. Jahrhunderts aufs Korn (S. 465-491), während schließlich Martin Schmid (S. 493-516) eine literaturwissenschaftliche Analyse von Inszenierung und Repräsentation von Herrschaft in den Sprachkunstwerken der Zeit vorlegt. Die diplomatische Untersuchung der lateinischen, deutschen und tschechischen Urkundensprache in Deutschland und Böhmen durch Mathias Lawo (S. 517-541) liegt wieder näher an der GB und ihrer Formulierung im lateinischen Original und ihren frühen Übersetzungen. Die intensive Diskussion der Mehrsprachigkeit im Urkundenwesen des 14. Jahrhunderts zeigt vielfach die Verständnisschwierigkeiten in diesem Feld auf. Als Beilagen beigegeben sind eine Liste über die "deutschsprachigen Herrscherurkunden" an der Wende zum 14. Jahrhundert (S. 542-545) sowie zum Beleg eines barbarischen Lateins (vergleiche dazu S. 541 Anmerkung 96) ein Bericht über den Umgang der Stadt Dortmund mit Judensteuer und Judenfreilassung 1332 (!) in Form eines diplomatischen Abdrucks des (in verkleinerter Photographie) abgebildeten Schreibens (S. 546-550) unter Beigabe einer neuhochdeutschen Übersetzung (die in etwa die nicht immer leicht erkennbare Meinung des Textes entschlüsselt) für das bereits zweimal, zuletzt von Wolfgang Eggert publizierte Schriftstück3.

Das Verzeichnis der Abkürzungen, die Personen-, Orts- und Sachregister erstrecken sich, opulent und Platz greifend gesetzt, über fast 100 Seiten (S. 1153-1249). Im Personennamenregister (S. 1186) ist zumindest Margarethe von Österreich (1346-1366), Tochter Herzog Albrechts II. von Habsburg und in erster Ehe Gemahlin Meinhards III. von Tirol, des Sohnes der Margarethe Maultasch (für S. 654 und 657), mit dieser ihrer Schwiegermutter verwechselt worden. Ein Register der benutzten Handschriften ist leider ebenso wenig ausgeworfen wie eine Liste der zahlreichen Abbildungen oder der Beiträger.

Man kann aus dem perspektivenreichen umfänglichen Werk gewiss vieles über die GB und ihre Zeit lernen. Dass die klassische und mehrfach aufgerufene Studie von Karl Zeumer zur GB4 aber damit nicht einfach ersetzt werden konnte, das versteht sich von selbst. Für die Forschungen zur Welt Ludwigs des Bayern und Karls IV. aber eröffnen sich hier zahlreiche alte und neue Wege, die in Zukunft noch zu gehen sein werden.

Anmerkungen:
1 In allen Beiträgen nach der maßgeblichen Ausgabe zitiert: Die goldene Bulle vom 10. Januar und 25. Dezember 1356, lateinisch und frühneuhochdeutsch, hrsg. von Wolfgang D. Fritz, in: Monumenta Germaniae Historica. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd. 11, Weimar 1988, S. 535-633.
2 Hermann Heimpel, Die Vener von Gmünd und Straßburg 1162-1447. Studien und Texte zur Geschichte einer Familie sowie der gelehrten Beamtentums in der Zeit der abendländischen Kirchenspaltung und der Konzilien von Pisa, Konstanz und Basel, Bd. 1-3, Göttingen 1982 (zur GB besonders S. 653-690).
3 Monumenta Germaniae Historica. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd. 6,2, Teil 2, bearb. v. Wolfgang Eggert, Hannover 1999, Nr. 216 S. 134.
4 Karl Zeumer, Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV., Teil 1: Entstehung und Bedeutung der Goldenen Bulle, Teil 2: Text der Goldenen Bulle und Urkunden zu ihrer Geschichte und Erläuterung, Weimar 1908.

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