G. R. Tsetskhladze: Greek colonisation

Cover
Titel
Greek colonisation. An account of Greek colonies and other settlements overseas, Bd. 2


Herausgeber
Tsetskhladze, Gocha R.
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 566 S.
Preis
€ 149.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Daubner, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Der im Jahre 2006 erschienene erste Band dieses Handbuchs zur griechischen Kolonisation hat sich in der Benutzung als sehr hilfreich erwiesen.1 Mittlerweile ist geplant, einen dritten folgen zu lassen, der Beiträge zu Ostgriechenland, Milet, dem Schwarzmeerraum, den Griechen im Nahen Osten sowie zur sekundären Kolonisation enthalten wird. Der zweite Band umfasst, wie schon der erste, teils umfangreiche Artikel zu vielfältigen Aspekten der griechischen Kolonisation. Eine kohärente Darbietungsform wurde nicht angestrebt, so dass die Autoren in der Gestaltung und Schwerpunktsetzung ihren Vorlieben und Schwerpunkten folgen konnten. Ob dies dem Charakter eines Handbuchs entspricht, mag dahingestellt sein; die Bedeutung der einzelnen Studien und des Gesamtwerkes kann durchaus auf anderen Gebieten gesucht werden.

So ist der erste Beitrag von Michalis Tiverios (S. 1–154) eine umfassende und höchst wertvolle Zusammenschau der griechischen Aktivitäten im nördlichen Ägäisraum von der archaischen bis in die klassische Zeit hinein. Eine solche lag bisher nicht vor, und die vielen verstreuten Nachrichten der antiken Autoren sowie die relative Unzugänglichkeit der neueren Grabungsberichte machten eine Beschäftigung mit diesem Thema oder auch nur eine Einbeziehung in allgemeine Überlegungen zu einer sehr aufwendigen Angelegenheit. Nun liegt ein zuverlässiger Ausgangspunkt für weitere Auseinandersetzungen mit dieser an Kulturkontakten so reichen Region vor. Tiverios diskutiert die submykenische Besiedlung, die sich vor allem in Mende gut fassen lässt, die von einigen vorgebrachte These einer phönikischen Dominanz bis etwa 650 v.Chr., die er ablehnt, und die zweite Einwanderungswelle, die ab dem 8. Jahrhundert v.Chr. vor allem aus Euboia stattfand. Er betont den kosmopolitischen Charakter von Orten wie Therme und stellt schließlich die betreffenden Orte von West nach Ost vor.

Pierre Cabanes (S. 155–185) sieht die Bedeutung des Adriaraumes vor allem in der Eigenschaft als Durchgangsstation wichtiger Handelswege. Die frühesten Kontakte der Griechen mit diesem Gebiet verlieren sich in mythischer Vorzeit, und so ist ein Gutteil des Beitrages den verschiedenen Mythen gewidmet, die hier angesiedelt sind. Vor allem die euboiischen und die korinthischen Expansionsbestrebungen betreffen den Adriaraum, später auch die athenischen. Entsprechend den Arbeitsschwerpunkten des Autors liegt das Hauptaugenmerk auf dem östlichen Adriaraum und den Städten Dyrrhachion und Apollonia. Berücksichtigt werden zudem die Ereignisse des 4. Jahrhunderts v.Chr.

Die griechische Besiedlung der Kyrenaika schildert Michel Austin (S. 187–217). Vor allem finden sich eine eingehende Besprechung der zahlreichen Quellen zur Gründung Kyrenes, leider in Unkenntnis des wichtigen Beitrags von F. Bernstein verfasst2, und eine sehr hilfreiche Darstellung der einzelnen griechischen Städte der Kyrenaika.

Betreffs der Frage, ob ein Kapitel über Zypern in ein Handbuch der Griechischen Kolonisation gehört, kann man geteilter Meinung sein. Maria Iacovou (S. 219–288) ist sich dieses Problems bewusst und liefert einen wichtigen Beitrag vor allem für diejenigen, die einen Überblick über die einzigartige Entwicklung dieser Insel erwerben möchten.3 Als Phasen dieser Entwicklung konstatiert sie die Neolithisierung, die Urbanisierung und die Hellenisierung. Im 16. Jahrhundert v.Chr. dringen die griechische Schrift und die griechische Sprache ein; ab dem 11. Jahrhundert v.Chr. werden zahlreiche neue Städte gegründet; vom 12. bis zum 7. Jahrhundert v.Chr. unterstand mehr als die Hälfte der Insel griechischen Königen. Das bemerkenswerteste Phänomen der zypriotischen Kultur sind die kulturelle Homogenität, die identischen Kultpraktiken und Grabsitten, die trotz der politischen Vielfalt und der drei unterschiedlichen Sprachgruppen („eteozyprisch“, phönikisch, griechisch) das Bild der Insel bestimmten. Bis zum 3. Jahrhundert v.Chr. blieb das Griechisch der Zyprioten frei von attischen und ionischen Einflüssen, was wohl heißt, dass sie von den Siedlerzügen der archaischen und klassischen Zeit unberührt blieben. Ein grundsätzlicher Wandel der Verhältnisse trat mit der Eroberung durch Ptolemaios I. im 3. Jahrhundert v.Chr. ein.

Jean-Paul Descœudres (S. 289–382) gibt einen umfassenden Überblick über die Situation der griechischen Landschaften, von denen die Kolonisationsbewegungen ausgingen, im Übergang von den Dark Ages zur archaischen Zeit. Er prüft die unterschiedlichen Theorien zu den Ursachen der Auswanderung und lehnt es ab, die Veränderungen auf Handelsbestrebungen, Klimawandel oder Überbevölkerung zurückzuführen; stattdessen postuliert er einen ursächlichen Zusammenhang mit der Polisentstehung. Als Schlüsselquelle sieht er den homerischen Lebensbericht eines Piraten-Händlers an.4 Allerdings seien unsere Kenntnisse durchaus zu erweitern, da lediglich eine einzige geometrische Siedlung Griechenlands (Zagora auf Andros) halbwegs vollständig ausgegraben und bekannt ist.

Vom stets kontroversen Problem der Gründungsgeschichten handelt der Beitrag von Jonathan M. Hall (S. 383–426). Er stellt die drei in der Wissenschaft vertretenen Herangehensweisen an diese Literaturgattung vor: Der historisch-positivistische Ansatz, von dem eine archäologische Variante existiert, glaube, natürlich in komplexerer Weise als hier referiert werden kann, an die Quellenberichte. Die Poetizisten sehen narrative Versatzstücke am Werk, die nachträglich und aitiologisch zu den jeweiligen Ktiseis zusammengesetzt wurden, so dass wir nie wissen können, was tatsächlich geschehen ist. Die historisch-konstruktivistische Herangehensweise teile die Skepsis der Poetizisten und versuche, den archäologischen Befund ohne die Leseanweisungen der literarischen Texte zu verstehen, gleichzeitig aber der positivistischen Denkfalle zu entkommen, die archäologische Prominenz mit historischer Bedeutsamkeit verwechsle. Hall nun versucht eine systematische Untersuchung der Gründungsgeschichten der Kolonien Unteritaliens und Siziliens, liefert einige sehr nützliche aus den Ktiseis gezogene Statistiken und beabsichtigt insgesamt, das verstreute Material handhabbar zu machen. Im Vergleich mit dem archäologischen Befund zeigt sich bei seinem Hauptbeispiel Taras, dass sich die Verbindung mit der (laut Ktisis) Mutterstadt Sparta erst in spätarchaischer Zeit materiell niederschlägt. Selbst wenn also vorher Lakedaimonier unter den Siedlern waren, wurde Taras erst im 6. Jahrhundert v.Chr. zur spartanischen Kolonie.

Der Titel des Artikels von Thomas Figueira (Colonisation in the Classical Period, S. 427–523) ist etwas irreführend, geht es doch vor allem um Athen. Die Stadt spielt in den Darstellungen der Großen Kolonisation bisher kaum eine Rolle. Figueira jedoch postuliert, dass sich die archaische Kolonisation der Athener im nordägäischen Raum nicht wesentlich von der der anderen Poleis unterschieden habe. Mächtige Adelige wie Phrynon, Peisistratos und Miltiades gründeten Städte; Figueira bezeichnet diese Art der Siedlungsgründung als patronale Kolonisation. Der im 5. Jahrhundert v.Chr. aufkommende Unterschied zwischen Apoikien und Kleruchien wird eingehend besprochen; große Gründungen (Thourioi, Amphipolis) werden den viel zahlreicheren kleinen gegenübergestellt, die Zusammensetzung der Bevölkerung und der Status der Kolonisten wird eingehend geprüft. Nach der verheerenden Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg verblieben vorerst nur die Außenbesitzungen Lemnos, Imbros und Skyros bei Athen, das ab den 360er-Jahren intensive Rekolonisierungsbemühungen unternahm (Samos, Poteidaia, Torone). Die nun entstehenden Siedlungen werden fast durchweg als Kleruchien bezeichnet. Ein recht kurzer Abschnitt behandelt die nichtathenischen Gründungen der klassischen Zeit. In geografischer Reihe werden die einzelnen Siedlungen besprochen und kontextualisiert, die vor allem von den Korinthern, Spartanern, Makedonen und Syrakusanern von Sizilien bis zum Schwarzen Meer angelegt wurden. Hier hätte durchaus detaillierter gearbeitet werden können, jedoch gibt Figueira zudem eine sehr nützliche Liste der klassischen Gründungen.

Die wenigen Abbildungen sind stets hilfreich; ein Index schließt den Band ab. Dieser kann das klassisch gewordene Handbuch von John Boardman bei allen Mängeln, die diesem anhaften, nicht ersetzen.5 Der Preis spricht gegen eine private Anschaffung durch Studenten; der Anspruch ist auch ein anderer und zielt kaum auf Anfänger auf dem Gebiet der griechischen Kolonisation. Die Autoren behandeln ihre Themen auf je spezifische Weise im Forschungskontext. Jedem Beitrag sind ausführliche Literaturhinweise beigegeben, die die weitere und tiefergehende Arbeit ungemein erleichtern. Die zeitliche und räumliche Breite der behandelten Kolonisationsphänomene geben den Bänden den Charakter eines umfassenden Forschungsberichts, und als solcher werden sie künftig unverzichtbar sein.

Anmerkungen:
1 Siehe Nadin Burkhardt: Rezension zu: Tsetskhladze, Gocha R. (Hrsg.): Greek Colonisation. An Account of Greek Colonies and Other Settlements Overseas, Bd. 1. Leiden 2006, in: H-Soz-u-Kult, 14.01.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-1-033>.
2 Frank Bernstein, Konflikt und Migration, St. Katharinen 2004, S. 171–222.
3 Hilfreich wäre eine chronologische Aufstellung mit, natürlich nur annähernden, Übersetzungen der Epochengliederung der Zypernforschung in absolute Jahreszahlen gewesen. Sicher weiß jeder Altertumswissenschaftler SHIIIA 2 zu verorten, aber LCIIC?
4 Homer, Odyssee 14, 199–234.
5 John Boardman, The Greeks Overseas, London 1964, 3. Auflage 1999; deutsch: Kolonien und Handel der Griechen, München 1981.

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