Titel
Reappraisals. Reflections on the Forgotten Twentieth Century


Autor(en)
Judt, Tony
Erschienen
New York 2008: Penguin Books
Anzahl Seiten
XIV, 448 S.
Preis
$ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

„Moi penaty“ (Meine Penaten) hieß ein 1811 erschienenes pädagogisches Poem des „russischen Tibull“ Konstantin Batjuškov, und der Titel von Tony Judts Essaysammlung hätte statt „Reappraisals“ gut und gerne auch „My Penates“ lauten können. Denn die Mehrzahl der 24 zumeist aus umfangreicheren Rezensionen im „New York Review of Books“, weiter in „The New Republic“, „The Nation“, „The London Review of Books“, „Ha’aretz“ und „Foreign Affairs“ hervorgegangenen, zuerst zwischen 1994 und 2006 erschienenen Beiträge ist direkt oder indirekt den Hausgöttern des New Yorker Europahistorikers gewidmet – neben solchen Artikeln, in denen er Publikationen von seinen Lieblingsgegnern oder über sie aufs Korn nimmt. Arthur Koestler, Primo Levi, Manès Sperber, Hannah Arendt, Albert Camus und Leszek Kołakowski stehen ganz oben auf Judts Hausaltar. Aus den durchgängig umfangreichen Rezensionen wird erkennbar, wie sehr sich Judt mit ihnen auseinandergesetzt hat – und von ihnen fasziniert wurde. Zugleich wird deutlich, dass die ausführliche Behandlung der Selbststalinisierung Westeuropas in seinem Opus magnum „Postwar. A History of Europe since 1945“ aus dem Jahr 2005 – in deutscher Übersetzung phantasielos als „Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart“ betitelt – hier ihre Wurzeln hat.1

Zu den Anti-Helden von Judts Universum gehört Louis Althusser, der für den zunächst marxistisch inspirierten, dann vom Marxismus enttäuschten britischen Studenten im Paris der 1960er-Jahre auch als akademischer Lehrer offenkundig eine Enttäuschung war. Dass sich Judt 30 Jahre später Althussers Autobiographie „L’Avenir dure longtemps“2 und ihren Autor sowohl als Wissenschaftler wie auch als Person regelrecht „vorknöpfte“, hing nicht zuletzt mit dem von ihm so bezeichneten „curious cult of Althusser in British and American academia“ zusammen (S. 115). Noch härter fällt Judts Urteil über einen anderen Marxisten aus, nämlich über Eric Hobsbawm – „the best-known historian in the world“ und zugleich „the most naturally gifted historian of our time“ (S. 116, S. 126). Ihm attestiert Judt eine nachhaltige Romantisierung Lenins und Stalins, ein ideologisches Nichterwachsenwerdenwollen trotz besseren Wissens: Hobsbawm, so Judt, „has somehow slept through the terror and shame of the age“ (S. 126). Nur graduell besser kommen – aus ganz unterschiedlichen Gründen – Papst Johannes Paul II., Edward Said, Günter Grass, Henry Kissinger, John Gaddis und Tony Blair weg.

Neben den ausführlichen Rezensionen enthält der Band auch eine Reihe von Essays, in denen Judt einem US-amerikanischen Lesepublikum „Europa“ erklärt. So finden sich Texte zur Zeitgeschichte und Gegenwart Frankreichs und Belgiens, aber auch Rumäniens. Hinzu kommen Beiträge über Israel, über die Kuba-Krise 1962 sowie, als vielleicht etwas deplatzierter Schluss, „The Social Question Redivivus“.

Während es Judt in seinen Rezensionstexten primär um die im Zuge von „1989“ und „9/11“ „vergessenen“ Anteile der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts geht, liegt der Schwerpunkt seines einleitenden Essays „The World We Have Lost“ auf einer Kritik an der in seiner Sicht ignoranten, geschichtsvergessenen und naiv zukunftsgläubigen erinnerungskulturellen Kanonisisierung, ja Petrifizierung dieses Säkulums. Vehement wendet sich Judt gegen das, was er als volkspädagogisch instrumentalisierbares „historisches Horrorkabinett“ bezeichnet, „dessen Stationen mit ‚München’ oder ‚Pearl Harbor’, ‚Auschwitz’ oder ‚Gulag’, ‚Armenien’ oder ‚Bosnien’ oder ‚Ruanda’ benannt sind“ (S. 4). Beide Fokussierungen machen deutlich, dass das Buch „Reappraisals“ zentrale Prolegomena zu „Postwar“ enthält sowie auch an Judts frühere Monographien anknüpft.3 Zugleich tritt Judt einmal mehr als meinungsfreudiger, polemischer, ja bissiger, aber auch als selbstkritischer Autor in Erscheinung, der auf den Schultern von Riesen steht – und sich dessen bewusst ist.

Anmerkungen:
1 Siehe zu diesem Buch Jan-Henrik Meyer: Rezension zu: Judt, Tony: Postwar. A History of Europe Since 1945. London 2005, in: H-Soz-u-Kult, 22.09.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-212>.
2 Deutsche Übersetzung: Louis Althusser, Die Zukunft hat Zeit. Die Tatsachen. Zwei autobiographische Texte, Frankfurt am Main 1993.
3 Tony Judt, The Burden of Responsibility. Blum, Camus, Aron, and the French Twentieth Century, Chicago 1998; ders., Past Imperfect. French Intellectuals, 1944–1956, Berkeley 1992; ders., Marxism and the French Left. Studies in Labour and Politics in France, 1830–1982, Clarendon 1986.

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