D. Nolde u.a. (Hrsg.): Familienbeziehungen

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Titel
Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit


Herausgeber
Nolde, Dorothea; Opitz, Claudia
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
VI, 289 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornel Zwierlein, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Der Sammelband greift das Mitte der 1980er-Jahre von Michel Espagne und Michael Werner zum Programm erhobene Kulturtransferparadigma auf und versucht es in dreierlei Hinsicht durch neue Aspekte zu bereichern: Erstens wird die erst seit einigen Jahren auf den Weg gebrachte Tendenz, nicht nur Transfers zwischen Nationalkulturen, sondern auch zwischen vornationalen Kulturräumen zu erfassen, weiterverfolgt. Zweitens wird die geschlechtergeschichtliche Perspektive in die Kulturtransferforschung eingebracht. Drittens werden als Akteure Familienverbände mit den ihnen eigenen Medien, insbesondere mit der vormodernen Briefkultur, ins Zentrum der Untersuchungen gerückt.

In ihrer einleitenden Methodenreflexion schlagen die Herausgeberinnen vor, für die Frühe Neuzeit anstatt von Derivaten von Nationalkulturen – nämlich „homogene[n] räumliche[n] Entitäten“ – auszugehen, vielmehr abstrakte „Kulturen […] als Bedeutungssysteme, die von einer (oder auch mehreren) Kernzone(n) oder einem Zentrum her zu verstehen sind“, zum Rahmen der Untersuchungen zu machen (S. 5). Anstatt bewusst oder unbewusst als Forscher selbst die Grenzen dieser Kulturräume zu bestimmen, solle man konsequent die „Binnenperspektive der Akteure“ für die Bestimmung der „kulturelle[n] Fremdheit“ heranziehen (S. 6). Die Fokussierung der Beiträge auf Transferprozesse in Familien-Netzwerken gebe zum einen die Sicht auf die unterschätzte Rolle der Frauen in den Austauschbeziehungen frei, zeige zum anderen allgemein die hohe Mobilität der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Briefkorrespondenzen ermöglichten als „eine Art janusköpfige Quellengattung“ besser als andere, einerseits „Geschlechter- und Kulturgrenzen zu erkennen, aber auch, über sie gleichsam ‚hinwegzusehen‘“: Inhaltlich und von den Kommunikationspfaden her machen sie das gendering interpretierbar, sie lassen aber rein strukturell auch allgemein den Austausch in Fernbeziehungen deutlich werden (S. 11).

Der Band ist dann in drei Sektionen gegliedert: Politik, Repräsentation und Kulturtransfer (I), familiäre Netzwerke (II) und Briefe als Medien des (familiären) Kulturtransfers (III).

Im ersten Abschnitt gibt Daniel Schönpflug einige als „Befremden“ vermerkte Wahrnehmungen kultureller Differenzen und die Rituale der familiären und territorialen Grenzüberschreitung bei Hohenzollern-Heiraten 1767, 1791 und 1817 wieder. Anuschka Tischer weist auf das bemerkenswerte Faktum hin, dass bis auf eine Ausnahme zwischen 1530 und 1789 alle französischen Königinnen aus ausländischen Dynastien kamen, skizziert die sich hieraus ergebenden Folgen für den Kulturtransfer im Rahmen des Mäzenatentums etwa gegenüber italienischen Künstlern in Frankreich, erwähnt aber insbesondere auch die strategisch-politische Bedeutung von Heiraten in der Frühen Neuzeit. Linda Maria Koldau stellt die maßgebliche Rolle dreier Fürstinnen – Margaretes von Österreich in den Niederlanden, Marias von Innerösterreich und der Kaiserin Eleonora Gonzaga I. – für den jeweiligen Transfer neuer Musikstile von der Renaissance-Musik bis zum Import der Oper nach Wien vor. Detailstärker und plastischer zeigt Christiane Coester, wie Anna d’Este im Zuge ihrer Hochzeit mit dem Herzog von Aumale eine italienisch-französische Verwandlung durchmacht. Gesa Stedman betont noch einmal die wichtige Rolle von Königinnen (der französischen Königstochter Henrietta Maria, Gattin von Charles I. von England) und auch von Mätressen (Louises de Kéroualle, der von Ludwig XIV. entsandten Mätresse Charles‘ II.) für kulturellen Austausch. Dorothea Nolde untersucht die Rolle von Eléonore Desmier d’Olbreuse (1639-1722), der hugenottischen Adligen und unstandesgemäßen Gattin Georg Wilhelms von Braunschweig-Lüneburg, die in Celle sowohl über horizontale Netzwerkverbindungen – Heiraten und andere Verknüpfungen der hugenottischen Adligen ihres Hofes mit der regionalen norddeutschen Adelsgesellschaft – als auch ‚vertikal‘ durch die Ausstrahlung der französisch-reformierten Gemeinde am Hof in andere Gesellschaftsschichten multiple Formen von Kulturtransfer bewirkte.

Im Abschnitt ‚Familiäre Netzwerke‘ steht die Rekonstruktion der Struktur dieser Netze im Vordergrund: der norddeutschen Hansekaufleute des 16./17. Jahrhunderts (Marie Louise Pelus-Kaplan), der einflussreichen calvinistischen Pfälzer Exulantenfamilie Tossanus-Spanheim (Sven Externbrinck), eines frühen Salons des Jean de Morel und der Antoinette de Loynes im 16. Jahrhundert (Margarete Zimmermann), der in Saint-Cyr ausgebildeten hochadligen Schülerinnen im 17./18. Jahrhundert (Dominique Picco) und der Schweizer Söldnerfamilien (Nathalie Büsser). Ein Großteil dieser Beiträge streift die Frage nach kulturellen Transfers nur noch oder muss sie explizit oder implizit im Vagen lassen (S. 134, 152f., 189). Nur Zimmermann und Büsser lassen sich stärker auf die Heuristik ein. Dies liegt nicht an Quellenproblemen allein. Im Falle des Beitrags von Externbrinck wäre nur vonnöten gewesen, jenseits der Analyse der biographischen Details auch die von den Personen als Autoren geschriebenen Texte und ihre Rezeption in der Pfalz näher zu untersuchen. Auch die Aussage Piccos, dass der Umfang des „bagage culturel“, der von den durchschnittlich zehn Jahre lang in Saint-Cyr erzogenen hochadligen Mädchen von dort mitgenommen wurde, nicht abzuschätzen sei, überzeugt nicht ganz. Die Vermutung liegt nahe, dass man eben andere Quellen aus der Zeit nach dem Aufenthalt in Saint-Cyr hätte heranziehen müssen.

Im letzten Abschnitt werden Briefe als Medien des Kulturtransfers untersucht. Dabei kommt zum einen die normative Gattung der Briefsteller in den Blick, unter anderem mit ihrer frühen gegen französisierende Transferenzen gerichteten Arbeit an kultureller ‚Deutschheit‘ (Caspar Stieler, Benjamin Neukirch, Georg Philipp Harsdörffer – Beiträge von Sophie Ruppel und Carmen Fugger). Andere Beiträge untersuchen, wie mit den Briefen in fürstlichen oder patrizisch-kaufmännischen Familien oft Luxusgüter wie Tabak, Exotica, Schokolade, Kunsthandwerk und Neuigkeiten, aber auch empfohlene Handwerker, Künstler und Spezialisten reisten (Beiträge von Tobias Brandenberger, Elisabeth Hasse, Irmgard Schwanke).

Der Sammelband vereint eine Vielzahl von wohl ausgewählten und thematisch nahen Beiträgen vor allem zum 16./17. Jahrhundert und – mit drei Ausnahmen – zum höfisch-hochadligen Milieu. Im Gesamteindruck scheint doch das Element der Netzwerkanalyse, der Rekonstruktion von Biographien und Verbindungen in Adelsfamilien und -gesellschaften das Element des Transfers zu überlagern. Die geschlechtergeschichtliche Perspektive hier einzubringen, war jedenfalls gewinnbringend; es wird so die große Bedeutung auch von (hoch-)adligen Frauen in der Frühen Neuzeit nachgewiesen – „in order to redress the gender balance“ (S. 94), wie es Gesa Stedman formuliert. Im Band fehlen Reflexionen zu spezifisch männlichen Kulturtransfer- oder zumindest Kommunikations-Formen weitgehend (Ausnahme: Beitrag von Irmgard Schwanke, S. 263), und es gibt eigentlich auch keinen Beitrag, in dem systematisch Geschlechtergrenzen selbst als Grenzen, über die hinweg Kulturtransfer stattfände, untersucht würden. Die in der Kulturtransferforschung zuweilen präsente Gefahr, dass der Begriff nur als Dach für die Aufzählung von Artefakt- und Textbewegungen über (Kultur-)Raumgrenzen hinweg dient oder man sich in der Charakterisierung von bi- oder mehrkulturellen Kommunikationsstrukturen und in der reinen Erzählung der Lebenswege von kulturellen Mittlern erschöpft, scheint so manchmal auf. Man hätte sich hier noch mehr genaue Mikroanalysen der Umdeutung, Umsemantisierung von Artefakten, Texten und Menschen im Zuge eines Transfers und der Verwandlung von Fremdem in Eigenes gewünscht, wie es gut im Beitrag von Christiane Coester zur Transformation der italienischen Prinzessin in eine französische Herzogin oder im Beitrag Nathalie Büssers zur Aufnahme höfisch-französischer Elemente in die Familienkultur der Schweizer Patrizier Zurlauben gelingt. Insgesamt leisten aber alle Artikel wichtige Beiträge zur frühneuzeitlichen interfamiliären und interkulturellen Kommunikation. Der insgesamt sehr homogen wirkende Sammelband öffnet so in fruchtbarer Weise die Familien(netzwerk)geschichte für die Kulturtransferforschung und umgekehrt.

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