G. Lubich: Verwandtsein im Frühmittelalter

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Titel
Verwandtsein. Lesarten einer politisch-sozialen Beziehung im Frühmittelalter (6. - 11. Jahrhundert)


Autor(en)
Lubich, Gerhard
Reihe
Europäische Geschichtsdarstellungen 16
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 295 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva-Maria Butz, Historisches Institut, Universität Dortmund

Die mediävistische Forschung spricht Familie und Verwandtschaft zentrale soziale Funktionen im Früh- und Hochmittelalter zu. Sie spielten in politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen eine wichtige Rolle und stellten somit ein maßgebliches Strukturmerkmal der Gesellschaft dar. Verwandtschaft im frühen Mittelalter war eine Beziehung zwischen "Zusammenhalt und Spannung", so der Titel eines 2008 erschienen Aufsatzes von Hans-Werner Goetz, der beinahe zeitgleich mit und daher ohne Berücksichtigung des vorzustellenden Buches von Gerhard Lubich erschien.1 Die Untersuchung von Lubich ist der Überprüfung und Differenzierung der Bindungskraft von Verwandtschaft gewidmet und basiert auf seiner Düsseldorfer Habilitationsschrift "Verwandtschaft im Früh- und Hochmittelalter. Begriff und Formen, Funktion und Grenzen" aus dem Jahr 2004.

Lubich reklamiert, dass die gesellschaftsrelevanten Modelle von Verwandtschaft in der Geschichtswissenschaft nicht an die mittellateinische Terminologie gekoppelt seien und somit nur teilweise das Feld der mittelalterlichen Bedeutungsinhalte reflektieren (S. 10, 127). Das mit dem deutschen Begriff Verwandtschaft verbundene Bedeutungsfeld entspricht nur teilweise den semantischen Varianten der entsprechenden lateinischen Termini (affinitas, cognatio/agnatio, consanguinitas, propinquitas). Sollten "diese Begriffe nur unvollständig oder gar fehlerhaft interpretierend" übersetzt worden sein, dann stellt sich für Lubich die Frage, ob nicht auch die "Struktur eines der bedeutendsten Bindungsmechanismen von Personengruppen im Früh- und Hochmittelalter grundlegend verkannt" wurde (S. 11). Aus dieser Fragestellung entwickelt er sein weiteres Vorgehen: zum einen eine sprachgeschichtliche Untersuchung der mittellateinischen Begriffe und in einem zweiten Teil die historische Einbindung und Übertragung der Ergebnisse in die Geschichte des Früh- und Hochmittelalters. Besonderen Wert legt Lubich dabei auf den Arbeitsbegriff des "Verwandt-Seins", der ohne die Konnotationen, die dem modernen Verwandtschaftsbegriff inne wohnen, die zentrale Eigenschaft der Verwandtschaft reflektiere (S. 14).

Der erste Teil "Die Sprache des Verwandtseins: Wörter und Taten" (S. 12-127) widmet sich einer umfassenden, auf breiter Datenbasis erfolgten linguistischen Untersuchung des Bedeutungs- und Funktionsgehalts der mittelalterlichen Verwandtschaftsterminologie, wie sie in definitorischen Texten, im theologischen Kontext, in kirchlichen und weltlichen Rechtstexten, in Herrscherurkunden sowie in narrativen Quellen verwendet wurde. Sein methodisches Vorgehen legt Lubich in einem Exkurs nochmals dar (S. 238-253). Ausgehend von der Prämisse, dass den mittelalterlichen Autoren die Unterschiede zwischen den einzelnen lateinischen Termini und deren zugrundeliegendes semantisches System geläufig waren, wurden die Begriffe nicht wahllos, sondern bewusst und gezielt verwendet. Lubich stellt je nach Textsorten unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen fest, die erheblich voneinander abweichen können (Zusammenfassung, S. 124-127). Dabei zeigten sich die normativen Quellen erstaunlich aussageschwach, die Herrscherurkunden und insbesondere die narrativen Quellen hingegen als durchaus aussagekräftig. In den Herrscherurkunden erscheint die Verwandtschaftsterminologie erst ab Mitte des 9. Jahrhunderts in nennenswertem Umfang. So bezeichnet consanguinitas in erster Linie die patrilineare, propinquitas eine kognatische Abstammung, die Titulierung von Schwiegerverwandten als affines ist in den Urkunden nicht nachzuweisen. In den erzählenden Quellen hingegen wird unter consanguinitas konkrete Verwandtschaft sowohl über die weibliche wie auch über die männliche Linie verstanden. Propinquitas lässt sich in frühen Verwendungen neben Vertrautheit/Nähe als Abstammungsgemeinschaft verstehen. Ab der Mitte des 10. Jahrhunderts wird der Begriff für Schwiegerverwandte eingesetzt. Propinqui und affines werden als Helfer der Schwäger dargestellt, wodurch ein ethisch-moralischer Kontext entsteht. Der genealogische Horizont der Begriffe umfasst den Quellen nach in der Regel höchstens zwei Generationen, allerdings wohnt dem Begriff consanguinitas in Zusammenhang mit dem Königtum ein weiterer zeitlicher Rahmen über mehrere Generationen inne. Einen Bindungs- oder Verpflichtungscharakter von Verwandtschaft glaubt Lubich bei der semantischen Untersuchung nicht ausmachen zu können (S. 127).

Insbesondere dieser im semantischen Bedeutungsfeld der mittellateinischen Termini von ihm vermisste Charakter einer politischen Bindungspflicht von Verwandtschaft gibt die Leitlinie für den zweiten, historischen Teil des Buches. Unter dem Titel "Eine Geschichte politischen Verwandtseins" (S. 128-234) konzentriert sich Lubich auf die Bedeutung von Verwandtsein in den herrschenden Schichten, also Königtum und Oberschicht/Adel, sowie deren verwandtschaftliche Beziehungen zueinander. Dabei unterscheidet er zwischen der eigentlichen (Kern-)Familie und der weiteren Verwandtschaft. Die Vorstellung von einer Sippe als genossenschaftlich organisiertem Verwandtenverband, wie sie im 19. Jahrhundert entstand, lehnt er zu Recht ab.

Im Rahmen des Untersuchungsfeldes Adel – Verwandtschaft – Herrschaft nimmt Lubich die Ergebnisse Karl Schmids als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Gegenmodells (S. 146). Schmid sah eine Entwicklung des von ihm als "Sippe" bezeichneten breiten Verwandtenverbands im Frühmittelalter zum agnatischen "Geschlecht" des Hochmittelalters.2 Lubich setzt sich ausführlich mit Schmid und dessen Rezeption in der Forschung auseinander (insbesondere S. 138-146, 220-224). Schmid, so Lubich, ließ das "Vor-Urteil von der modernen Begrifflichkeit Verwandtsein und Gruppenbildung, Verwandtschaftsbewußtsein und Herrschaftsausübung in einer Wechselwirkung denken" (S. 146). In seiner Kritik lehnt er sich inhaltlich an Werner Hechberger an, auf den er ausdrücklich verweist (S. 220 Anm. 450).

Die Entwicklung des Lubichschen Gegenmodells erfolgt auf der Grundlage einer Untersuchung der Wechselwirkung von Herrschen und Verwandtsein im Zeitraum vom 6. bis zum 11. Jahrhundert am Beispiel des Königtums, das im Spannungsverhältnis zwischen der Kernfamilie als herrschaftlich formiertem Haus und den Seitenverwandten betrachtet wird. Der grundlegende Unterschied zwischen merowingischer und karolingischer Herrschaft wird im Streben der Merowinger gesehen, Herrschaft ohne verwandtschaftliche Rückbindung an die Oberschicht auszuüben und die Herrschaft durch Verwandtenmord auf das engste Haus zu konzentrieren (S. 149-164). Bei den Karolingern hingegen spielte Verwandtschaft eine bedeutende Rolle, allerdings wandte auch das neue Herrschergeschlecht Distanzierungsstrategien an. Lubich sieht im Verlauf des 9. Jahrhunderts eine rapide Veränderung von der (wie bei den Merowingern) vorhandenen Konzentration der Herrschaft auf die Kernfamilie. Nun geriet die Verschwägerung als steuerbares Bindungsprinzip in den Blick, was letztlich ein Absinken der Königsmacht und den Aufstieg der propinqui bedeutete. Dieses Heiratsverhalten wurde von Heinrich I. in das System der amicitia eingebettet (affinitas). Primogenitur als Hausordnung und die Heirat mit ausländischen Prinzessinnen (Edith, Adelheid) sollten allerdings wieder eine "schwiegerverwandtenfreie" Herrschaft ermöglichen (213f.).

Der These Schmids, dass das "Geschlechterbewusstsein" des hochmittelalterlichen Adels nach einem lang gestreckten Wandlungsprozess vor allem in einer Traditionsbildung greifbar werde, hält Lubich entgegen, dass im Rahmen seiner Untersuchung über den gesamten Zeitraum keine Neuerungen im Verhältnis von Verwandtsein und Herrschen festzustellen seien (S. 220). Dennoch sieht Lubich im 11. Jahrhundert den Adel, allerdings aufgrund von dessen Orientierung am Königtum, als "enge, patrilinear organisierte und mit dem Bewusstsein eigener genealogischer Tiefe ausgestattete Familienverbände" (S. 219f.). Die Sichtbarwerdung der Dynastien sei auf Veränderungen im Bereich von Herrschen und Repräsentation zurückzuführen. Solches "Hausbewusstsein", über dessen Existenz in früherer Zeit nichts bekannt sei, drücke sich nun zeitgemäß aus, habe aber nicht zu einer geränderten Verwandtschaftsstruktur geführt (S. 225). Ob der adlige Burgenbau, der bisher als deutliches Zeichen adligen Bewusstseins ab dem 11. Jahrhundert verstanden wurde, tatsächlich bereits im 10. Jahrhundert weit verbreitet war (S. 221), wird angesichts der aktuellen Ergebnisse der interdisziplinären Burgenforschung zu diskutieren sein, ebenso die Problematik adliger Zubenennung.

Die Publikation ist äußerst gewissenhaft lektoriert, so dass nur wenige, kaum nennenswerte Versehen auffallen, wie beispielsweise die Aufnahme des Verbrüderungsbuches der Abtei Reichenau unter die narrativen Quellen (S. 265) oder das Zusammenziehen zweier Publikationen Michael Borgoltes zu einem Titel (S. 268).

Die Thesen Lubichs zur politisch-sozialen Lesart von Verwandtschaft werden sicherlich noch zu einer angeregten und spannenden Diskussion führen und den Blick weiter schärfen für die sozialen Bindungsmechanismen, Ausdrucksformen und mentale Bedeutung von Verwandtschaft im Mittelalter.

Anmerkungen:
1 Hans-Werner Goetz, Verwandtschaft im früheren Mittelalter (II) zwischen Zusammenhalt und Spannungen, in: Uwe Ludwig / Thomas Schilp (Hrsg.), Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag, Berlin 2008, S. 547-573.
2 Zu Karl Schmids Forschungsansatz vgl. Einleitung der Herausgeber, in: Karl Schmid, Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewusstsein. Grundfragen zum Verständnis des Adels im Mittelalter. Aus dem Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von Dieter Mertens und Thomas Zotz, Sigmaringen 1998, S. IX-XXVIII.

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