G. Koenen: Traumpfade der Weltrevolution

Titel
Traumpfade der Weltrevolution. Das Guevara-Projekt


Autor(en)
Koenen, Gerd
Erschienen
Anzahl Seiten
602 S., Abb.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jana Wüstenhagen, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Kein Zweifel, Gerd Koenen versteht es großartig, Geschichten und Geschichte miteinander zu verbinden. Der studierte Historiker und Politologe schreibt, wie er einmal zugab, um die eigenen Irrtümer zu verstehen. Dabei schwingt in seinen Arbeiten stets der Anspruch mit, auch das gesellschaftliche Bewusstsein für politisch-ideologische Irrungen und Wirrungen zu schärfen. Dies ist in seinem neuesten Buch nicht anders. Mit Ernesto „Che“ Guevara lenkt er den Blick auf eine Zentralfigur der linken Bewegungen weltweit. Koenen selbst hat „das volle Programm des linksradikalen Aktivismus absolviert“ (Klappentext). Nun will er diesen charismatischen Guerillaführer nicht entzaubern oder romantisieren, sondern ernstnehmen – „ernster allerdings, als vielen seiner kritiklosen Bewunderer lieb sein dürfte“ (S. 7).

Entsprechend macht sich Koenen daran, akribisch den Lebensweg des späteren Commandante Che nachzuzeichnen, ihn als Menschen mit Stärken und Schwächen zu zeigen, als lesebesessenen Teenager, als Frauenschwarm und Familienvater, als Exekutor in der kubanischen Revolution, als philosophierenden Revolutionär und kämpfenden Don Quijote einer neuen Zeit. Auf der Grundlage einer Vielzahl von Quellen entsteht so ein detailreiches Bild vor allem der 1950er- und 1960er-Jahre. An deren Ende wurde Guevaras Projekt einer (Guerilla-)Weltrevolution gegen die USA zum „Fixstern“ der Neuen Linken im Westen.

Auch für den mit der Thematik vertrauten Leser ist es erstaunlich, mit welcher Unkenntnis diese Revolution nicht nur vorbereitet, sondern auch tatsächlich angegangen wurde. Die Beteiligung Guevaras am Befreiungskrieg im Kongo erscheint geradezu als Selbstmordkommando angesichts der Tatsache, dass er die Landessprache nicht beherrschte, die lokalen Gegebenheiten nicht kannte und darüber hinaus von den Kongolesen völlig unerwünscht war. Da stellt sich berechtigterweise die Frage, wie ein solcher Mann zur Leitfigur mehrerer Generationen werden konnte. Koenen selbst sieht einen Grund in der christusähnlichen Verklärung Guevaras durch seine Biografen und Fotografen, durch Politiker und nicht zuletzt durch die westliche Linke.1

Koenens Leistung besteht vor allem darin, nicht einfach eine weitere Che-Biographie auf den Markt gebracht zu haben. Vielmehr stellt er dessen Lebensgeschichte neben die Biographien von Fidel Castro und Tamara Bunke, zwei andere „linke“ Helden. Auch hier folgt Koenen der gleichen Methode. Um die individuellen biographischen Eckdaten herum entwirrt er den Wust der Kultliteratur, synchronisiert die Lebensstationen der drei Guerilleros und setzt sie in Beziehung zu den lokalen, regionalen und globalen Ereignissen des Ost-West-Konflikts. Immer wieder stellt er Querverbindungen her, etwa durch die Vergleiche stalinistischer, castristischer, maoistischer, koreanischer und guevaristischer Revolutionsmodelle. Über die detaillierte Rekonstruktion des Lesestoffes von Guevara und Bunke kann Koenen die komplexen individuellen wie sozialen Vorstellungsstrukturen herausarbeiten und den Weg zur – durchaus divergierenden – Gedankenwelt der drei Revolutionäre freilegen. Hier lassen sich interessante Anschlussmöglichkeiten für die Forschung finden, etwa in der Frage nach Ideentransfers zwischen Europa und Lateinamerika während des Kalten Krieges.

Für Leser, die sich mit der Gesamtthematik auskennen, wirken die Ausführungen zur kubanischen Revolution bisweilen zu detailliert. Gerade weil diese Ereignisse weitgehend bekannt sind, hätte hier auf die eine oder andere ausführliche Schilderung militärischer Operationen oder innenpolitischer Entscheidungen verzichtet werden können. Dagegen erscheint die Geschichte von Tamara Bunke – laut Verlagsankündigung der „zweite rote Faden in der revolutionären Heiligenwelt“ – sehr viel reduzierter.

Das ist in erster Linie der schwierigen Quellenlage zuzuschreiben. Umso höher ist es Koenen anzurechnen, dass es ihm gelingt, auch die Protagonistin der kubanischen Revolution sichtbar zu machen. Als Tochter deutsch-jüdischer Kommunisten 1937 in Argentinien geboren, musste Tamara Bunke – gegen ihren Willen – mit den Eltern 1952 in die DDR ziehen. Dort wurde sie nie heimisch, stellte einen Antrag auf SED-Mitgliedschaft, einen weiteren auf Ausreise nach Argentinien und verließ dann, als dieser nicht gleich genehmigt wurde, unter Nutzung ihres argentinischen Passes eigenmächtig die DDR in Richtung Kuba, wo sie sich zuerst in die Revolution und dann in einen kubanischen Geheimdienstmann verliebte, bevor sie von Che Guevara zur zentralen Verbindungsperson in Bolivien gemacht wurde.

Nach ihrem Tod in einem bolivianischen Hinterhalt wurden vor allem in Lateinamerika, aber auch in der DDR Betriebe, Schulen, Arbeitsbrigaden usw. nach Tamara Bunke benannt. Koenen verfolgt die Entwicklung des Kults unter anderem anhand hierzulande nahezu unbekannter lateinamerikanischer Lyrik. So kann er zeigen, dass der Kult mit einer Mystifizierung von Weiblichkeit auf der einen sowie von männlicher Gewalt und Militanz auf der anderen Seite verbunden war. Bemerkenswert ist, dass der Bunke-Kult gerade in den USA praktische Bedeutung erhielt, indem er sich eng mit der Geschichte der „Symbionese Liberation Army“ verband, die sich wiederum als Teil der guevaristischen Revolution sah (S. 542).

Koenen nimmt die Protagonistin wiederum „ernst“, indem er ihre Vorstellungen, Wünsche und Hoffnungen gegen das offizielle Kultbild stellt. So profiliert er die Unterschiede, die zwischen dem konstruierten Heldenbild von „Tania la Guerillera“ und den Empfindungen der jungen Frau liegen, die in den bolivianischen Bergen Todesangst hatte – genau wie ihre männlichen Mitkämpfer. Die Geschlechterforschung dürfte gerade in dieser revolutionären Praxis noch zahlreiche „weiße Flecken“ entdecken.

Koenen hat sich mit seinem Zugang, historische Sachverhalte solide zu recherchieren und sie zugleich fesselnd zu präsentieren, wiederholt breite Anerkennung erworben. Auch die „Traumpfade“ bieten eine spannende, kenntnisreich recherchierte Lektüre, die zahlreiche Anknüpfungspunkte für weiterführende wissenschaftliche Fragestellungen bietet. Allerdings ist einschränkend zu erwähnen, dass Koenen auf einen Anmerkungsapparat verzichtet, der eine eindeutige Zuordnung der im Text verwendeten Quellen zulassen würde. Das Quellen- und Literaturverzeichnis am Ende des Werks ist zwar vorzüglich organisiert – Koenen reicht dort auch einen kurzen Überblick zur jeweiligen Akten- und Literaturlage nach –, doch bleiben so wichtige Erörterungen wie diejenigen über das Verhältnis der USA zu Lateinamerika unbelegt. Dass der Einfluss der USA auf Kuba als gering einzuschätzen sei, mag im Vergleich mit anderen Regionen noch plausibel sein. Dass die Rückständigkeit der lateinamerikanischen Länder vor allem auf der Innovationsträgheit der nationalen Wirtschaften beruhen soll, erscheint hingegen spekulativ (S. 54).

Trotz solcher Einwände in Details ist Koenen erneut ein Werk gelungen, das Geschichte komplex und verständlich erzählt. Der erste Eindruck, das Buch sei vor allem zur Selbstverständigung der westdeutschen Linken geschrieben worden, erweist sich rasch als vorschnelles Urteil. Wie an einem roten Faden (im doppelten Sinne des Wortes) führt Koenen die Entwicklung von „Tania“ und „Che“ an dem stalinistischen Heldenepos „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski entlang – einem Epos, das beide gelesen hatten. Spätestens hier ergeben sich auch für diejenigen Anknüpfungspunkte, die in der DDR aufgewachsen sind. Für sie war – anders als für Guevara und Bunke – die Saga des sowjetischen Titelhelden Pawel Kortschagin in aller Regel nicht vorbildhaft, sondern lästige Schulpflichtlektüre mitten in den heißen Sommerferien am Ostseestrand auf Rügen.

Anmerkung:
1 Siehe zu dieser Verklärung jüngst auch Stephan Lahrem, Che. Eine globale Protestikone des 20. Jahrhunderts, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder, Bd. II: 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 234-241.