Titel
Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen


Autor(en)
Steinacher, Gerald
Reihe
Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 26
Erschienen
Innsbruck 2008: StudienVerlag
Anzahl Seiten
380 S., SW-Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Nicht erst seit der Verfilmung des Spionage-Thrillers „Akte Odessa“ in den 1970er-Jahren kämpft die Forschung mit der weitverbreiteten Ansicht, dass hinter der Flucht hochbelasteter NS-Funktionäre, darunter nicht wenige gesuchte Kriegsverbrecher und Massenmörder, eine straffe Organisation gestanden habe. NS-Memoirenschreiber, aber auch „Nazijäger“ wie Simon Wiesenthal kolportierten, dass eine Geheimorganisation überlebender SS-Veteranen mit unerschöpflichen Vermögensvorräten dabei sei, sich neu zu formieren, um die Weltherrschaft gleichsam durch die Hintertür ein zweites Mal anzusteuern. In den Hintergrund geriet angesichts spektakulärer Enthüllungen wie im Fall Eichmann oder Barbie dabei die Frage, auf welchen Wegen sich NS-Verbrecher nach dem Krieg der Strafverfolgung entziehen konnten, vor welchem politischen Hintergrund dies geschah, wer die Flucht deckte und welche Einzelinteressen dahinterstanden.

Während die Forschung in den USA schon länger die unkritische Rolle der Nachrichtendienste bei der Anwerbung von Wissenschaftlern aus dem Nazi-Reich thematisiert hat1, war die durch die Politik forcierte Wiederverwendung von NS-Personal in Übersee in der deutschen Diskussion lange nur durch Holger Medings Studie von 1992 wissenschaftlich repräsentiert.2 In den letzten Jahren sind nun wesentliche Aspekte hinzugekommen. Heinz Schneppen hat 2007 die angebliche SS-Geheimorganisation „Odessa“ und ihre vorgeblichen Treffen dekonstruiert sowie 24 Kurzbiographien einiger prominenter NS-Massenmörder vorgelegt, denen tatsächlich die Flucht gelang. Der argentinische Journalist Uki Goñi präsentierte schon 2004 eine Untersuchung zu Argentinien nach 1945 (auf Deutsch 2006 erschienen), die in der These gipfelte, die Argentinier unter Perons Führung seien die Organisatoren hinter den Fluchthelfern gewesen.3 Argentiniens Einwanderungspolitik steht oft exemplarisch für die Präferenzen bei der Aufnahme von Nazi-Flüchtlingen und Kollaborateuren; eine ähnliche Praxis war aber auch in anderen Ländern des Nahen Ostens und Südamerikas anzutreffen. Selbst die USA und Kanada nahmen ab 1946 schwerbelastete Litauer und Ukrainer ins Land auf, Handlanger der Endlösung aus Osteuropa, mit kirchlichen „Persilscheinen“ getarnt als erzwungene und im Heimatland nun unerwünschte Kollaborateure der deutschen Besatzer. Der Fall des Sobibór-Wachmanns Iwan „John“ Demjanjuk beschäftigt momentan wieder die Gerichte.

Gerald Steinacher hat nun eine Untersuchung des „Tatorts in den Alpen“ vorgelegt. Interessen und Motive der Geflüchteten vermischten sich in Südtirol mit denen der katholischen Kirche und von Hilfsorganisationen, mit Überlegungen der Mittlerstaaten (hier besonders Italien) und den Interessen der Zielländer, Präferenzen der regionalen Akteure und Schlepper-Organisationen, die Fluchthilfe als simplen Broterwerb betrachteten, und der US-Geheimdienste, die die Fluchtrouten zur Entfernung nutzlos gewordener Spione aus der europäischen „Operationszone“ selbst nutzten (im Jargon „Rattenlinie“ genannt) und sich dabei wiederum auf Unbedenklichkeitserklärungen der Kirche und Rot-Kreuz-Pässe verließen. Die Nazis entkamen also auf dem Ticket respektabler Hilfsorganisationen, gleichwohl unter Vortäuschung falscher Tatsachen. Die Analyse der vergessenen Region Südtirol, die sich 1945 Hoffnung auf staatliche Unabhängigkeit machte, faktisch jedoch als staatenloses Gebilde ideale Bedingungen für alle bot, die ihre Identität verschleiern wollten, macht den Wert des Buches aus und führt frühere Studien des Autors fort.4 Steinacher bietet damit eine Synthese aller bisherigen Arbeiten zu Einzelinteressen der Beteiligten und stellt sie anhand des alpinen Drehkreuzes in einen transnationalen Zusammenhang.

Neues bringt Steinacher durch die Zusammenführung verschiedener Quellengattungen – Memoiren, Geheimdienstpapiere und administrative Unterlagen von Hilfsorganisationen. Erstmals gesichtet hat er Bestände des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), der Päpstlichen Fluchthilfeorganisation „Pontifica Comissione Assistenza“ und ihres Geldgebers, der US-Bischofskonferenz. Aus all diesen Dokumenten entsteht so in fünf Kapiteln, unterteilt nach den einzelnen Interessengruppen, eine „Handlungskette der Flucht“ (S. 9). Die Herausbildung der „Klosterlinie“, strategisch günstigen Unterschlupfmöglichkeiten auf der Route zu den oberitalienischen Häfen, verdankte sich dem Zufall und der alliierten Internierung von SS-Leuten im Lager Glasenbach bei Salzburg (S. 261): Dort bildeten sich die tragfähigsten Netzwerke und Fluchtgrüppchen, die die Ortskenntnis von Kameraden aus Südtirol und deren Kontakte zum örtlichen Klerus nutzten.

Der Autor weist quellenreich nach, dass es vor dem Hintergrund von Flüchtlingschaos, schlecht funktionierender Verwaltung und Kommunisten-Hysterie im Kalten Krieg nur im Zusammenspiel gelingen konnte, Personen zur Flucht zu verhelfen, aber die Flucht war zunächst eher ein Nebenprodukt im Kalkül der beteiligten Institutionen. In allen beteiligten Organisationen gab es zwar Einzelpersonen, die nachweislich mit den Nazis sympathisiert hatten, einen kruden Antisemitismus vertraten oder aus vermeintlicher Solidarität mit Deutschen handelten. Doch die Hilfsorganisationen, so Steinacher, hatten eigene Motive bei der Fluchtunterstützung. Sie meinten, der Schaden sei beherrschbar und die Vorteile bei der Erreichung ihrer Ziele würden die moralische Schuld wieder aufwiegen. Angesichts des millionenfachen Flüchtlingselends konnte sich das Rote Kreuz einfach nicht dazu durchringen, die Passvergabe einzustellen, nur weil Fälle von Missbrauch ruchbar geworden waren; allerdings verschärfte man die Kontrollen (S. 117). Auch wurden Eigeninteressen vor die Strafverfolgung von NS-Tätern gestellt: So befand sich die katholische Kirche auf einem Kreuzzug zur Re-Christianisierung Europas, und für die „Wiedertaufe“ heidnischer Nazis, darunter nicht wenige ursprünglich evangelische SS-Angehörige, erhielt man eine Schiffspassage. Der Autor nennt diese „Seelenernte“ des Vatikans treffend „Entnazifizierung durch Taufe“ (S. 166). Lohnend wäre nach wie vor eine Untersuchung zu den „Flucht-Kreuzungen“, wo Überlebende des Holocaust mit ihren flüchtigen Mördern eine temporäre Allianz eingingen oder Kirchenstellen beiden Gruppen gleichermaßen halfen – Verbindungen, die Steinacher nur anreißen kann (S. 187).

Moralisch verwerflich bleiben diejenigen Akteure, die Massenmörder schützten, gerade weil sie als skrupellose Funktionäre Wissen erworben hatten. So wussten nicht nur die amerikanischen Arbeitgeber meist genau, wen sie vor sich hatten (S. 215), sondern auch kirchliche Schlüsselfiguren wie die Priester Hudal und Draganovic. Letzterer profitierte darüber hinaus von unklaren alliierten Vorgaben, wie mit faschistischen Ustascha-Funktionären zu verfahren sei (S. 149). Das Fehlen eines Tribunals wie in Nürnberg führte im Fall Kroatien dazu, dass auch die Führungselite, Verwaltungsspitzen und alle Massenmörder im Ausland ein neues Leben anfangen konnten.

Mit Belegen aus Geheimdienst-Beständen wird endlich auch hierzulande die Intelligence History aufgewertet, die den Einfluss der Nachrichtendienste auf politische Entscheidungsprozesse verdeutlicht und in den USA längst eine eigene Forschungsrichtung darstellt.5 Dabei hat sich im Sprachgebrauch mit den Jahren allerdings die früher übliche Unterscheidung verwischt zwischen „demokratischen“ Nachrichtendiensten, die primär der Beschaffung sicherheitsrelevanter Information verpflichtet sind, und Geheimdiensten, die von totalitären Regimes zugleich als Machtmittel zur Kontrolle und Einschüchterung der eigenen Bevölkerung verwendet werden.6 Auch Steinacher spricht der Einfachheit halber meist von „Geheimdienst“, selbst wenn eigentlich ein US-Nachrichtendienst gemeint ist, der sich ehemaliger Gestapo-Leute bediente, die wiederum dem Geheimdienstmilieu zuzurechnen sind.

Angelsächsischer Tradition folgend, ist der Band reich bebildert und in einer leicht verständlichen Sprache geschrieben, was sicher über die Fachwelt hinaus Leser anziehen wird. Die verlegerische Strategie, Endnoten statt Fußnoten zu verwenden, ist für den wissenschaftlichen Gebrauch zwar etwas mühsam, und die Entscheidung, die Kapitel wie einzeln nutzbare Essays nebeneinanderzustellen, führt gelegentlich zu Quellendoppelungen; auch kommt manche Erklärung zu spät. Dies schmälert das Ergebnis aber nicht. Steinacher belegt, dass es ein „Netzwerk aus Weltanschauung, Freundschaften und Geschäftsinteressen“ in der Drehscheibe Südtirol gegeben hat, aber eben keine straff organisierte NS-Geheimorganisation (S. 293). Flüchtlinge profitierten vom weltpolitischen Klima des Kalten Krieges und vom Fachkräftebedarf der Zielländer. Einwanderungswillige mussten in erster Linie qualifiziert sein und in zweiter Linie nicht kommunistisch; eine Vergangenheit als Kriegs- bzw. NS-Verbrecher war kein Hinderungsgrund, allerdings auch nicht das Auswahlkriterium.

Anmerkungen:
1 Christopher Simpson, Blowback. America’s recruitment of Nazis and its effects on the Cold War, New York 1988 (dt.: Der amerikanische Bumerang. NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA, Wien 1988).
2 Holger Meding, Flucht vor Nürnberg? Deutsche und österreichische Einwanderung in Argentinien 1945–1955, Köln 1992.
3 Siehe die Sammelrezension von Ruth Bettina Birn: Rezension zu: Schneppen, Heinz: Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte. Berlin 2007. In: H-Soz-u-Kult, 25.10.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-075>.
4 Gerald Steinacher, Südtirol und die Geheimdienste 1943–1945, Innsbruck 2000.
5 Jürgen Heideking / Christof Mauch (Hrsg.), American Intelligence and the German Resistance to Hitler: A Documentary History, Boulder 1996; Richard Breitman u.a., US Intelligence and the Nazis, New York 2005.
6 Wolfgang Krieger, Die historische Entwicklung der Kontrolle von Geheimdiensten, in: Wolbert K. Smidt u.a. (Hrsg.), Geheimhaltung und Transparenz. Demokratische Kontrolle der Geheimdienste im internationalen Vergleich, Münster 2007, S. 15-29.

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