P. Heberer u.a. (Hrsg.): Atrocities on Trial

Cover
Titel
Atrocities on Trial. Historical Perspectives on the Politics of Prosecuting War Crimes


Herausgeber
Heberer, Patricia; Matthäus, Jürgen
Erschienen
Anzahl Seiten
XXX, 327 S.
Preis
€ 27,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin von Lingen, Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Seit dem Internationalen Militärtribunal (IMT) von 1945 ist es eine der größten Herausforderungen der Weltgemeinschaft, die Verbrechen untergegangener Regime strafrechtlich zu ahnden. Der Sammelband „Atrocities on Trial“ beschäftigt sich mit der Frage, in welcher Weise der Anklagepunkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (in Abgrenzung zu den „klassischen“ Kriegsverbrechen) nach 1945 die Verfolgung von Massenmord, staatlicher Gewalt und Genozid regelte. Der bis 1945 übliche Begriff „Kriegsverbrechen“ musste aufgrund der Erfahrungen der nationalsozialistischen Herrschaft erweitert werden: „Crimes against Humanity“ fand als juristisches Konzept Eingang ins Völkerrecht sowie in nationales Recht. Während man im Deutschen etwas sperrig von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder „Kriegs- und NS-Verbrechen“ spricht, um Gewalt außerhalb von kriegerischen Handlungen abzudecken, hat sich in der englischsprachigen Forschung der Begriff „atrocities“ durchgesetzt.

Für den „Erfolg“ eines Verfahrens war die Kombination aus Aufdeckung der Taten, juristischer Beurteilung und Verankerung im öffentlichen Bewusstsein entscheidend. Bereits im Vorwort weist Michael R. Marrus auf das Scheitern juristischer Ahndung hin, verursacht durch die unklare Zuständigkeit alliierter Gerichtshöfe und eine schwierige Beweislage für Taten, für die es keine Zeugen gibt oder die sich als Verwaltungsakt tarnen. Das primäre Ziel der Prozesse, Angeklagten individuelle Schuld zuzuweisen, führte jedoch zu einer Übergewichtung der rechtlichen Seite. Die Gegenüberstellung der Prozessakten mit politischen und privaten Quellen gibt uns nun den Kontext zurück, in dem „atrocities“ gegen rassistisch oder sozial ausgegrenzte Opfergruppen erdacht, geplant und begangen wurden. Dadurch wird das Bild der Täter differenzierter und ihre Befehlskette transparenter. Das Töten war demnach kein von oben gesteuerter Prozess; die meisten Entscheidungen fielen auf lokaler Ebene bei den „agents of genocide“ (S. XXI). Neben SS und Polizei waren Armee, Arbeitsämter, Gesundheitsbehörden und die Technokraten der NS-Siedlungspolitik aktiv an der Planung von Lagersystem, Ausgrenzung und Mord beteiligt.

Die Verbindung zwischen juristischer und historischer Forschung sowie die Thematisierung bisher vernachlässigter Aspekte machen den Wert des Buches aus, etwa die Erläuterung juristischer Ahndungsformen wie Military Commissions sowie die Frage der Anwendbarkeit von Völkerrecht bei Verbrechen an Zivilisten. Deutlich wird, wie schwer es ist, von „außen“ Verbrechen zu sühnen, die ein Staat gegen Teile der eigenen Bevölkerung an scheinbar neutralen Orten wie etwa Krankenhäusern begangen hat (S. 38). Erst durch das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom November 1945 wurde die Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen vereinfacht. Auch wenn im Vorwort der Völkermord an den europäischen Juden als Referenzrahmen genannt wird, geht es doch nicht allein um den Holocaust, sondern ebenso um Verbrechen im Lageralltag – wie etwa Zwangsarbeitersterilisationen, Menschenversuche im KZ, Euthanasietötungen. Zusammengehalten werden diese Analysen durch den Tatbestand „Crimes against Humanity“.

Der Band gliedert sich in vier Abschnitte. Zuerst geht es um die Planungsphase der Kriegsverbrecherpolitik und die Entscheidung zur Schaffung eines Internationalen Tribunals, zweitens um verschiedene alliierte Verfahren, die das System der Konzentrationslager juristisch erfassten, drittens um gesellschaftliche Reaktionen auf die Aufdeckung der Gräuel und die Auswirkungen der Prozesse auf die nationale Identität sowie viertens um das „Erbe“ von Nürnberg – verstanden als Durchsetzung westlicher Prinzipien, die nach 1990 auch in anderen Teilen der Welt Anwendung fanden, etwa im ehemaligen Jugoslawien oder jüngst in Kambodscha.

Damit die Motivation der Alliierten für das ehrgeizige Prozessprogramm nach 1945 verständlich wird, gibt Jürgen Matthäus einen Überblick zum juristischen Fiasko vor dem Leipziger Reichsgericht 1922. Die Lehre lautete damals, dass „Siegerjustiz“ die einzige Möglichkeit darstelle, vor Gericht den Opfern eine Stimme zu geben. Patricia Heberer, Expertin für Medizinverbrechen, beleuchtet die mörderische Praxis des „Gnadentods“ anhand der Ermordungen von sowjetischen Kriegsgefangenen in Hadamar. Die Anklage im diesbezüglichen „Euthanasie“-Prozess war ein juristischer Trick, denn die Opfer waren keine Deutschen; das Verbrechen galt damit als Kriegsverbrechen. Später gab es jedoch „Euthanasie“-Verfahren auch vor deutschen Gerichten. Lisa Yavnai analysiert die amerikanischen Militärgerichtsverfahren in der US-Zone, die mehrheitlich auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau abgehalten wurden, aber nicht ausschließlich mit KZ-Gräueln zu tun hatten, sondern auch Kriegsverbrechen gegen Flieger und Kriegsgefangene einschlossen. Diesen Prozessen lag das juristische Konzept zugrunde, einen „parent case“ als Blaupause für weitere, ähnlich gelagerte Verfahren zu führen. Das Dachauer Programm wollte im Sinne der Re-education über Verbrechen aufklären (S. 67).

Bei der Ahndung von Medizinverbrechen vor alliierten Gerichten, die im zweiten Teil betrachtet werden, ist die juristische Hilflosigkeit angesichts „medizinischen Tötens“ besonders augenfällig. Jonathan Friedman verdeutlicht das Ziel des US-Prozessprogramms, in 12 Musterprozessen die Schuld der deutschen Gesellschaft anzuprangern. Dieses Ziel wurde jedoch nur zum Teil erreicht, weil im Kalten Krieg der Ahndungswille erlahmte und die Auswahl der Angeklagten nur zum Teil aussagekräftig war. Im Ärzte-Prozess, den Michael R. Marrus vorstellt, wurde durch eine Überbetonung der KZ-Menschenversuche abgelenkt von der verbrecherischen Selektionspolitik des NS-Staates, etwa in der Sterilisations- und Euthanasiepraxis; diese Verschiebung prägte die bundesdeutsche Wahrnehmung der Medizin im „Dritten Reich“ noch für Jahrzehnte (S. 119). Ulf Schmidt zeigt, wie es den Briten im Ravensbrück-Verfahren gelang, die Schuld der NS-Ärzteschaft an Medizinverbrechen zu entindividualisieren. Jonathan Friedman schließt diese Sektion mit einer Bestandsaufnahme zu den Sachsenhausen-Prozessen. Ähnlich wie in Hadamar und der amerikanischen Zone wurde das sowjetische Verfahren zum Ausgangspunkt umfangreicher west- und ostdeutscher Ermittlungen gegen das Lagerpersonal.

Der dritte Teil des Bandes ist der Frage nach der gesellschaftlichen Reflexion gewidmet, die mit der strafrechtlichen Ahndung verbunden war. Das zentrale Konzept US-amerikanischer Kriegsverbrecherpolitik, die „Re-education“ der Bevölkerung durch Information über die Verbrechen, kollidierte vor allem bei den „Täternationen“ mit dem Bedürfnis, die nationale Identität in positiver Weise wieder aufzurichten und eigenes Leiden den NS-Verbrechen gegenüberzustellen (S. 191). Als die Mechanismen zur Verfolgung von Massenmord endlich griffen, waren viele der Täter bereits wieder in den Staatsdienst übernommen worden – eine schwere Bürde. Jürgen Matthäus zeigt am Beispiel des Falles von Georg Heuser, der zuvor mit dem Einsatzkommando 14 für die Judenmorde von Minsk verantwortlich gewesen war, Schwierigkeiten westdeutscher Verfahren. Die öffentliche Wahrnehmung der Täter als treuer Staatsdiener erschwerte nicht nur eine Urteilsfindung, sondern auch die Akzeptanz der Verbrechen. Rebecca Wittmann erläutert in ihrer Analyse westdeutscher KZ-Prozesse die „Gehilfen-Rechtsprechung“ (S. 220f.) und bilanziert, dass das deutsche Rechtswesen auf die Ahndung von Verwaltungs-Massenmord schlicht nicht vorbereitet war. Die Politik versäumte zudem eine klare gesetzliche Regelung der Verjährungsklausel. In Österreich, so kann Patricia Heberer zeigen, hat sich das Opfernarrativ strafrechtlich relativierend ausgewirkt. Die Weigerung, eigene Täterschaft in den Blick zu nehmen, lässt sich an den geringen Verfahrenszahlen ablesen und äußerte sich nicht selten in grotesken Freisprüchen.

Im vierten Teil des Buches geht es um längerfristige Effekte. Richard J. Golsan analysiert die NS-Prozesse der 1990er-Jahre in Frankreich und ihre kathartische Wirkung auf das nationale Gedächtnis als „duty of memory“ (Erinnerungsimperativ, S. 253). Donald Bloxham diskutiert die Bedeutung der Nürnberger Charta und der Genozid-Konvention der UNO von 1948 als völkerrechtlich relevante Kodifizierung von „atrocities“, hebt jedoch hervor, dass vor allem die neuerliche Konfrontation der Welt mit den Gewaltexzessen die Anwendbarkeit dieser Prinzipien schärfte. John K. Roth beschließt den Band mit einem ethischen Essay über die Wiederherstellung abendländischer Werte im Gerichtssaal.

Während des Eichmann-Prozesses wurde der Moment erreicht, wo sich über den Umweg des Gerichtssaals im kollektiven Gedächtnis der Welt „information into knowledge“ wandelte.1 Umgekehrt begünstigen diejenigen Verbrechen das Vergessen, die sich nicht judizieren lassen. Es ist Sache der Forschung, die Blindstellen aufzudecken und den Opfern mit ihrer Geschichte auch einen Teil ihrer Würde zurückzugeben. Der vorliegende Band ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.

Anmerkung:
1 Hannah Yablonka, The State of Israel vs. Adolf Eichmann, New York 2004, S. 234.