J. Eckel u.a. (Hrsg.): Universalisierung des Holocaust?

Cover
Titel
Universalisierung des Holocaust?. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive


Herausgeber
Eckel, Jan; Moisel, Claudia
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 24
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Hammerstein, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK)/Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

„[D]er Holocaust gehört nicht mehr nur Israel oder den Juden, er gehört heute der ganzen Welt.“1 Mit diesen Worten bringt der israelische Historiker Tom Segev eine Entwicklung auf den Punkt, die unter den Schlagworten einer „Globalisierung“ und „Universalisierung“ der Holocaust-Erinnerung viel diskutiert wird.2 Auch der von Jan Eckel und Claudia Moisel herausgegebene Band 24 der „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus“ nimmt sich dieser Thematik an – mit dem Ziel, „die Mechanismen und Effekte zu erforschen, die zu der veränderten Wahrnehmung des Holocaust am Ende des 20. Jahrhunderts führten beziehungsweise von ihr ausgingen“ (S. 10). Acht Fallbeispiele sollen zeigen, „wie der Mord an den europäischen Juden, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur selten als ein zentrales Geschehen des Zweiten Weltkriegs wahrgenommen wurde, in verschiedenen Regionen der Welt, für ganz unterschiedliche Gruppen und in denkbar heterogenen politischen Kontexten zu einem wichtigen Thema werden konnte“ (ebd.).

Der Schwerpunkt der meisten Beiträge liegt auf der Zeit seit den 1990er-Jahren. Bereits zuvor hatten jedoch Ereignisse wie die Veröffentlichung des Tagebuchs der Anne Frank in den 1950er-Jahren oder der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf die Verfolgung der Juden während der NS-Zeit gelenkt. Den Eichmann-Prozess und seine sehr unterschiedliche Rezeption in den belgischen und niederländischen Medien betrachtet Nina Burkhardt in ihrem Aufsatz. Während die Berichte in den Niederlanden eine gesellschaftliche Debatte über die Mitverantwortung der eigenen Bevölkerung auslösten, lässt sich für Belgien keine vergleichbare Wirkung feststellen (S. 34f.). Über Jahrzehnte standen sich dort das wallonische Widerstandsnarrativ und das sich auf die Bestrafung flämischer Kollaborateure beziehende Repressionsnarrativ gegenüber, wie Christoph Brüll in seiner Untersuchung des belgischen Umgangs mit dem Holocaust ausführt. Diese Spaltung der Gedächtnislandschaft verhinderte eine konsensfähige Erzählung; die Erinnerung an die jüdischen NS-Opfer fand keinen Platz (S. 43, S. 48). Erst in den 1990er-Jahren änderte sich der Stellenwert des Holocaust in der belgischen Öffentlichkeit, und er wurde zum Referenzpunkt – vor dem Hintergrund der Wahlerfolge des rechtsextremen Vlaams Blok, des Völkermords in Ruanda und der aufbrechenden Diskussionen um die koloniale Vergangenheit Belgiens im Kongo.

Konfligierende Geschichtsbilder finden sich auch in Ungarn, wie Regina Fritz und Imke Hansen in ihrem Beitrag anschaulich herausarbeiten. Seit 1989 bewegen sich die ungarischen Erinnerungen zwischen einer „apologetischen und zuweilen verharmlosenden ‚Meistererzählung‘“, die die „eigenen“ Opfer des kommunistischen Regimes und die „anderen“ Opfer des Holocaust in Konkurrenz bzw. gleichsetzt, und der „Konfrontation mit der Mitschuld an der Ermordung der ungarischen Juden“ (S. 59, S. 82). Auch wenn sich diese Narrative weitgehend der nationalkonservativen bzw. sozialliberalen Regierung zuordnen lassen, verorten Fritz und Hansen den ungarischen Vergangenheitsdiskurs insgesamt „eher nicht zwischen politischen Flügeln“ (S. 84). Anhand eines interessanten Ausblicks auf internationale Entwicklungen, vor allem auch auf europäischer Ebene, wird deutlich, dass dieser Diskurs vielmehr „im Spannungsfeld von nationaler Selbstfindung und transnationalen Einflüssen“ steht (S. 84).

Mit der Europäisierung und Transnationalisierung der Holocaust-Erinnerung befassen sich insbesondere die Beiträge von Harald Schmid und Jens Kroh am Beispiel der Etablierung des 27. Januar als Holocaust-Gedenktag bzw. der „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research“ (ITF). Als Schlüsselereignis erscheint dabei die Stockholmer Holocaust-Konferenz des Jahres 2000. Schmid sieht darin „die entscheidende Wegmarke für den Expansionsschub des Auschwitz-Gedenkens“ (S. 189). Sein Beitrag gibt einen Überblick zur Einführung und Bedeutung des Gedenktags in verschiedenen europäischen Ländern und bettet das Thema kenntnisreich in den Kontext der Diskussionen über eine europäische Identität und ein europäisches Gedächtnis ein. Gewissermaßen als „Transmissionsriemen der Europäisierung und Transnationalisierung des Gedenkens“ (S. 188) fungierte die ITF. Dieses Netzwerk, dessen 24 Mitgliedsstaaten sich auf der Grundlage gemeinsamer Leitlinien um eine intensivierte Auseinandersetzung mit dem Holocaust bemühen, ist laut Kroh als Reaktion auf das zunehmende Gewicht und Konfliktpotenzial des Themas Holocaust in der internationalen Politik zu sehen. Zugleich stelle es einen „Akteur an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Pädagogik und Politik“ dar (S. 173). Die ITF sei „sowohl Ausdruck als auch Motor der politischen Transnationalisierung der Holocaust-Erinnerung“ (ebd.). Die damit einhergehende partielle Synchronisierung nationaler Erinnerungskulturen sei allerdings mit der tendenziellen Ausblendung anderer Opfergruppen der NS-Vernichtungspolitik und der Relativierung der spezifisch deutschen Verantwortung für den Holocaust verbunden.

Eine interessante Perspektive auf den bundesdeutschen Umgang mit der NS-Zeit bietet der Beitrag von Jacob S. Eder, der die „Holocaust-Erinnerung als deutsch-amerikanische Konfliktgeschichte“ betrachtet. Dabei untersucht er die Einwirkungsversuche der Regierung Kohl auf die Gestaltung des 1993 eröffneten United States Holocaust Memorial Museum. Während es in den USA um die Etablierung des Holocaust als zentralem Bezugspunkt der amerikanisch-jüdischen Identität und der amerikanischen Gesellschaft ging, arbeitete die Bundesrepublik auf die Anerkennung und Vermittlung positiver Aspekte deutscher Geschichte hin (S. 133). Auch wenn manche (An-)Deutungen aufgrund der Quellenlage im Bereich der Vermutungen bleiben (müssen), gibt der Beitrag spannende Einblicke in die bundesdeutsche Geschichtspolitik auch außerhalb ihres Territoriums und zugleich Aufschluss über die Amerikanisierung des Holocaust.3

Um Wechselwirkungen zwischen den USA und Europa geht es auch Jan Surmann in seinem (stellenweise redundanten) Beitrag zur amerikanischen Restitutionspolitik. Diese habe nach dem Ende des Kalten Krieges nicht nur einen Kurswechsel vollzogen, wobei zunehmend die individuellen Opfer in den Mittelpunkt rückten, sondern zugleich als Katalysator für die Auseinandersetzung mit den nationalen Nachkriegsmythen in Europa gewirkt (S. 135, S. 153). Die in den Debatten über das „unfinished business“ (Stuart Eizenstat) immer deutlicher werdende Beteiligung auch der besetzten und neutralen Staaten an der nationalsozialistischen Raub- und Vernichtungspolitik ließ den Holocaust als „ein Ereignis mit tatsächlich weltumspannenden Konsequenzen“ erscheinen (S. 155).

Sozusagen ans andere Ende der Welt begibt sich J. Olaf Kleist mit seinem Beitrag zu Australien, das schon aufgrund der geographischen Distanz einen Sonderfall darstellt; überdies war es „weder durch Kollaboration noch durch Widerstand oder Befreiung an der Geschichte des Holocaust beteiligt“ (S. 87). Schlüssig zeichnet Kleist die Entwicklung von dem bis in die 1970er-Jahre vorherrschenden „Kode des Schweigens“ (Suzanne D. Rutland) zum Holocaust als „einem festen Bestandteil des gesellschaftlichen Bewusstseins“ nach (S. 86). Dabei wurde die Erinnerung der jüdischen Einwanderer und Gemeinden an den Holocaust „[e]rst im Vergleich und als Referenzpunkt […] von anderen Gruppen in Australien als auch für sie selbst relevant anerkannt“ (S. 102) und in der Diskussion um die australischen Verbrechen an den Aborigines zum „Lackmustest des australischen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit“ (S. 104).

Sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas hat der Holocaust also „mittlerweile den Status einer negativen politischen und kulturellen Norm erlangt“.4 Dies illustrieren die Beiträge des Bandes in erhellender und insgesamt überzeugender Weise, wobei sie die „Beharrungskraft nationaler Erinnerungslandschaften“ betonen (S. 24) und vor allem auch gegenwartspolitische Funktionalisierungen der Erinnerung an den Holocaust aufzeigen. Gemessen am Anspruch der Herausgeber, „möglichst vielfältige Themen und Konstellationen [zu] beleuchten, da gerade darin eine Chance liegt, Aufschluss über inter- und übernationale Muster der Erinnerung zu erhalten“ (S. 10), verwundert allerdings die recht ungleichgewichtige Auswahl der Länder und die Nichtberücksichtigung afrikanischer, arabischer oder asiatischer Staaten, obwohl die dortigen Erinnerungsmuster in der Einleitung als gewinnbringende Perspektiven erwähnt werden. Auch wären weitere Aspekte dieses facettenreichen Themas sinnvoll gewesen, zum Beispiel eine länderübergreifende Untersuchung verschiedener Holocaust-Museen oder der Wirkung von Spielfilmen wie „Holocaust“ und „Schindlers Liste“. Diese Einwände zeigen jedoch zugleich, dass der lesenswerte Band zum Weiterdenken anregt und Impulse für künftige Forschungen geben kann.5

Anmerkungen:
1 Tom Segev in einem Interview mit der Wiener Zeitung, 27.5.2006.
2 Vgl. z.B. Daniel Levy / Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001; Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007.
3 Vgl. dazu u.a. Peter Novick, The Holocaust in American Life, Boston 1999; Hilene Flanzbaum (Hrsg.), The Americanization of the Holocaust, Baltimore 1999.
4 Dirk Rupnow, Transformationen des Holocaust. Anmerkungen nach dem Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Transit 35 (2008), S. 68–88, hier S. 68.
5 Der Band schließt – wie in der Reihe „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus“ üblich – mit einem Rezensionsteil, der knapp 50 Seiten umfasst.