Cover
Titel
Gergakome. Ein 'altehrwürdiges' Heiligtum im kaiserzeitlichen Karien


Autor(en)
Held, Winfried
Reihe
Istanbuler Forschungen 49
Erschienen
Tübingen 2008: Ernst Wasmuth Verlag
Anzahl Seiten
XI, 220 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Hülden, Institut für Klassische Archäologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

Gergakome ist ein im karischen Bergland im Dreieck zwischen Alabanda, Stratonikeia und Hyllarima gelegener Ort, der bisher nur eine geringe Beachtung der altertumswissenschaftlichen Forschung auf sich gezogen hat und insofern als weitgehend unbekannt gelten darf. Winfried Held hat dort im Jahr 1994 während seiner Zeit als Referent an der Abteilung Istanbul des Deutschen Archäologischen Instituts eine zwei Wochen dauernde Feldforschungskampagne durchgeführt und legt deren Ergebnisse und damit gleichzeitig seine von der Universität Würzburg angenommene Habilitationsschrift nun im Rahmen der Istanbuler Forschungen vor.

In seiner Einleitung skizziert Held die primär von Historikern und Epigraphikern geprägte Forschungsgeschichte des Ortes, die dem bisherigen wissenschaftlichen Interesse entsprechend kurz ausfällt. Der anschließende, ebenso knappe Abschnitt hat die Beschreibung der geographischen Lage von Gergakome innerhalb seines karischen Umfeldes sowie der lokalen größtenteils rekonstruierten antiken Wegverbindungen zum Inhalt. Es folgt ein 105 Seiten starkes Kapitel, das mit dem Titel „Beschreibung und Rekonstruktion“ überschrieben ist und gut die Hälfte des Buches ausmacht. In ihm findet sich eine reichlich mit Abbildungen und Zeichnungen versehene Materialvorlage, wobei die Trennung zwischen Beschreibung und Interpretation bisweilen durchbrochen wurde. Das gesamte Kapitel entspricht einem in den Text integrierten Katalog und macht den Leser mit dem erfassten Bestand an Befunden in Gergakome vertraut.

Von einer regelrechten Ruinenstätte kann im Hinblick auf den Ort kaum die Rede sein. Vielmehr sind die einzelnen Überreste mehr oder weniger über drei verhältnismäßig weit auseinander liegende Areale verstreut, die von Held als Nord- und Südwestbereich sowie als zentraler Bereich bezeichnet sind. Mit seinem als ebenso rustikal wie eigentümlich zu nennenden Tempelbau stellt sich der letztgenannte Bereich, der überdies durch eine große Terrassenmauer geprägt ist, als der bedeutendste dar. Das übrige Befundrepertoire lässt sich einigermaßen klar auf wenige Gattungen verteilen, denen zumeist ebenso eine gewisse Merkwürdigkeit anhaftet. Neben dem Tempel sind an erster Stelle drei kolossale Statuen zu erwähnen, von denen zwei in dessen unmittelbarer Nähe aufgestellt waren, während die dritte in isolierter Lage den Südwestbereich dominierte. Als weiteres Charakteristikum des Ortes sind einige Quellhäuser von ungefähr gleicher Bauart zu nennen, die teilweise Reliefs zeigen bzw. mit großen griechischen Inschriften versehen sind. Bis auf eine Ausnahme (MARS[Y]AS) lauten diese auf GERGA(S), GERGAKOME oder auf eine Kurzform davon. Großflächige Inschriften, die ebenfalls den offensichtlich mit der Örtlichkeit verbundenen Namen wiedergeben, finden sich zudem auf zahlreichen Felsen der näheren und weiteren Umgebung angebracht. Als weiteres Kuriosum kommen 17 Stelen unterschiedlicher Form hinzu, die sich hingegen auf den zentralen Bereich konzentrieren. Zwei von ihnen flankieren die Statue südöstlich des Tempels, und dort sind auch zwei Felsbecken gelegen, von denen das größere tischartig auf einigen großen Steinblöcken ruht. Während zumindest die Mehrzahl dieser Befunde mit dem kultischen Hintergrund von Gergakome in Verbindung zu bringen ist, finden sich schließlich auch einige Gebäude und Installationen, die einen profanen, also landwirtschaftlichen Charakter aufweisen. Dabei handelt es sich in erster Linie um zwei Dreschplätze sowie um Hinweise auf Pressanlagen, darunter eine moderne. Die Vielzahl an Befunden, die in einem offensichtlich sakralen Zusammenhang stehen, macht freilich das Besondere an Gergakome aus und spricht dafür, in dem Ort vordergründig ein Heiligtum zu erkennen.

Der Frage, wie die Befunde im Einzelnen zu deuten sind und welche Art von Kult ausgeübt wurde, widmet sich Held im folgenden Kapitel. Etwas deplatziert wirkt der erste Unterabschnitt, der sich erneut einigen bautechnischen Fragen zuwendet. Zwei grundsätzliche Aussagen im Hinblick auf Gergakome werden hier allerdings nochmals zementiert: Zum einen sollen die Bauten und Monumente des Ortes mehr oder weniger in einem Zuge errichtet worden sein, und zum anderen soll dies trotz des archaischen Erscheinungsbildes in der Kaiserzeit geschehen sein – beides Auffassungen, die schon Bean vertreten hat. Im folgenden Unterkapitel schließt der Autor einige allgemeine Überlegungen zur kultischen Bedeutung von Stein und Fels in Kleinasien an, um dann zur Deutung der einzelnen Befundgattungen von Gergakome zu kommen.

Zunächst behandelt Held jene Bauten, deren ebenfalls auf Bean zurückgehende Deutung als Quellhäuser er bekräftigt. Daraufhin wendet sich er sich dem zentralen Bau zu, wobei er dessen auch schon ältere Interpretation als Tempel gleichermaßen untermauert. Der folgende Abschnitt nimmt sich einer kleinen Gruppe von Bauten im Nordbereich an, wobei Held den größten von ihnen als zweischiffige Halle rekonstruiert und am ehesten als Übernachtungsplatz für Besucher des Heiligtums deuten möchte. Angesichts des unmittelbar nördlich gelegenen Dreschplatzes dürfte jedoch eine mit diesem in Zusammenhang stehende, mithin landwirtschaftliche Funktion keineswegs auszuschließen sein. Vielmehr lässt sich sogar die Deutung der hier verlaufenden langen Mauer als Temenosmauer des Heiligtums in Zweifel ziehen, da an anderer Stelle entsprechende Pendants fehlen und eine der Felsinschriften, die zur Markierung der Grenzen gedient haben sollen, außerhalb nördlich davon angebracht ist. An dieser Stelle fällt schon auf, dass Held den landwirtschaftlichen Anlagen, die er im folgenden kurz bespricht, nur eine sehr geringe Bedeutung beimisst, obgleich sie – ihre Gleichzeitigkeit vorausgesetzt – die Versorgung des abgelegenen Heiligtums garantiert haben dürften.

Das anschließende Unterkapitel umfasst eine Interpretation der drei Kolossalstatuen. Für die weibliche Statue, sicherlich die Hauptgottheit von Gergakome, lagen zwar bereits ältere, in den Bereich von Kybele/Artemis weisende Deutungsvorschläge vor, Held erweitert diese allerdings dahingehend, dass die Göttin hier eine lokale Verehrung als Meter Gerga erfuhr. Für die zweite Statue kann der Verfasser anhand der Wiedergabe eines Lederriemens im Brustbereich und der Einlassungsspuren für einen Köcher an der Schulter eine Benennung als Apollon glaubhaft machen, wobei die von ihm attestierte motivische Verwandtschaft mit dem Apollon vom Belvedere wohl doch zu weit geht. Die Identifizierung der dritten, bislang ebenfalls ungedeuteten Statue als Dionysos vermag weniger zu überzeugen. Sie beruht im Wesentlichen auf dem Zusammenhang mit dem nur schwer in seinen Details erkennbaren Relief eines Pantherkopfes, das sich auf einem offenbar zur Basis gehörenden Block befindet. Überdies bleibt Held eine plausible Erklärung für die Verbindung mit dem auf einem weiteren Block angebrachten Relief eines Reiters, den er zunächst lediglich vage als Heros, später dann als Zeus Karios anspricht, schuldig. Bei allen drei Statuen ist eine Datierung anhand stilistischer Kriterien unmöglich, weshalb der Verfasser einmal mehr auf die Buchstabenform der mit ihnen verbundenen Inschriften für eine kaiserzeitliche Datierung rekurriert.

Bevor Held weitere Rückschlüsse aus seiner Benennung der Statuen zieht, wendet er sich der Deutung der Stelen, der Quellen und Becken sowie der Inschriften zu. In den erstgenannten möchte der Autor anikonische Gottheiten, sogenannte argoi lithoi, erkennen, wobei dies, wenn überhaupt, wohl nur auf einen Teil der unterschiedlich gestalteten und über den gesamten zentralen Bereich verstreuten Stelen zutreffen mag. Stichhaltige Belege für eine tatsächliche kultische Verehrung der Steine selbst sind nämlich nicht auszumachen, und diejenigen von ihnen, die über Einlassungen an der Oberseite verfügen, könnten etwa auch zur Aufstellung von Reliefs gedient haben. Im Hinblick auf das reichliche Vorkommen von Wasser stellt Held eine sicherlich richtige Verbindung zum Kult der Kybele her. Für die beiden oben schon erwähnten Felsbecken geht er von einer ausschließlich kultischen Funktion im Sinne von Reinigungsbecken aus, was gegenüber einer profanen Deutung als Pressbecken nicht ganz so apodiktisch vertreten werden sollte, weil ihre heutige Lage im Gelände nicht unbedingt der antiken Aufstellung entsprechen muss.

Überhaupt kommt der neben dem sakralen durchaus existierende profane Charakter von Gergakome ein wenig zu kurz. So begründet Held in seinem Abschnitt zu den Inschriften nochmals ausführlich die oben schon erwähnte Deutung von GERGA als lokaler Beiname der Meter oder Kybele, und ebenso verfährt er mit der Interpretation der als Grenzmarkierungen des Heiligtums betrachteten Inschriften. Mit seinen Überlegungen hinsichtlich einer heute verschollenen Inschrift, in der offenbar das Amt eines Stephanephoros und der Begriff der syngeneia zu lesen sind, begibt er sich allerdings auf unsicheres Terrain. Zunächst einmal muss die Nennung eines Stephanephoros nicht zwingend darauf hindeuten, dass Gergakome auf dem Territorium von Alabanda lag. Darüber hinaus hält Held die syngeneia offenbar für eine karische Verwaltungseinheit (S. 151), was dem vielschichtigen und im Übrigen nicht, wie von ihm angenommen, auf den Hellenismus zu beschränkenden Begriff sicherlich nicht gerecht wird. Später möchte er die Bezeichnung sogar auf eine Art Kollektiv von im Geiste verwandten Gelehrten übertragen (S. 179 f.), in denen er die Gründerväter des Heiligtums zu erkennen glaubt. Auf die Problematik dieser Deutungen kann hier nicht näher eingegangen werden, aber es fällt auf, dass Held demgegenüber dem im Ortsnamen enthaltenen Begriff der kome keine Beachtung schenkt. Insofern reduziert er Gergakome im Grunde auf ein Heiligtum und zieht gar nicht in Betracht, dass mit diesem auch eine abhängige oder sogar gleichberechtigte ländliche Siedlung, eben im Sinne einer kome, verbunden gewesen sein könnte. Über den Status des Heiligtums – ob es selbst abhängig oder nicht sogar selbständig war – lässt sich jedenfalls auf der Basis des vorhandenen Befundes kaum etwas aussagen.

Im Folgenden stellt Held Überlegungen zum praktizierten Kult und zu dessen Hintergründen an. Hauptsächlich von der Deutung der drei Statuen sowie der auf Marsyas lautenden Inschrift eines der Quellhäuser ausgehend gelangt er zu dem Schluss, dass in Gergakome neben Kybele bzw. deren lokaler Variante Meter Gerga Apollon und Dionysos verehrt wurden. Als Grundlagen dieser beiden Kulte sollen Mythenversionen gedient haben, nämlich der Wettstreit zwischen Apollon und Marsyas sowie die Geburt des Dionysos, die im nicht allzu weit entfernten Nysa angesiedelt waren und von dort nach Gergakome transferiert worden sein sollen. Verantwortlich für diesen Transfer und die Verknüpfung mit der neuen Örtlichkeit wird die besagte Gruppe von aus Alabanda stammenden Gelehrten („Sophisten“) gemacht, die in der mittleren Kaiserzeit das Heiligtum nicht nur neu gegründet, sondern ihm auch sein bewusst altertümliches Aussehen gegeben hätten. Diesen Vorgang versucht Held vor dem Hintergrund der sogenannten Zweiten Sophistik, aber auch einer karischen Identitätskrise zu erklären, wobei sich die städtischen Eliten Kariens bemüht hätten, ihre Heimatstädte durch den Verweis auf uralte Mythen aufzuwerten. Ein solcher Erklärungsversuch kann sicherlich als sophisticated bezeichnet werden, Held muss allerdings selbst einräumen, dass er für einen Vorgang wie in Gergakome keine einzige antike Parallele beibringen kann. Bei sämtlichen der von ihm angeführten Beispiele für die Erneuerung altehrwürdiger Kulte handelt es sich nämlich um solche, die bereits bestanden, wobei dazu im übrigen anzumerken ist, dass nicht jede bauliche Erneuerung auch der neuen Blütephase eines Kultes entsprechen muss bzw. der Mangel an baulichen Aktivitäten einer Stagnation. Auch die Gründe, die zum Transfer bzw. der Neufassung der Mythen geführt haben könnten, bleiben unklar, zumal sich keine direkte Verbindung zwischen Nysa, das tatsächlich als Ort beider Mythen überliefert ist, und Gergakome herstellen lässt, und ein solcher ‚geistiger Diebstahl‘ in unmittelbarer Nachbarschaft sicherlich ungewöhnlich wäre.

In seinem letzten Kapitel widmet sich Held einigen Befunden im Umland von Gergakome, die zum Teil bereits bekannt waren und zum Teil eher zufällig von ihm entdeckt wurden. Da es sich demnach nicht um eine systematische Untersuchung des Umlandes handelt, fällt der Erkenntniswert für die Deutung des Ortes gering aus. Schließlich fasst der Autor seine Ergebnisse noch einmal kurz zusammen.

Winfried Held hat fraglos eine adäquate Dokumentation des Ruinenbestandes von Gergakome vorgelegt. Ohne Zweifel hat er durch die Verknüpfung mit den beiden Varianten des Apollon-Marsyas-Mythos und der Geburt des Dionysos sowie durch die Verbindung zur Zweiten Sophistik auch eine neue Interpretation des Ortes und seines Kultes zur Diskussion gestellt. In einigen Punkten wirkt diese neue Deutung jedoch reichlich konstruiert, ja nicht einmal besonders ambitioniert und vermag als Gesamtkonzept auch nicht wirklich zu überzeugen. Im Grunde ist daher am Ende festzustellen, dass viele der entscheidenden Fragen, die mit dem seltsamen Ort Gergakome verbunden sind, nach wie vor nicht befriedigend beantwortet sind.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension