N. Colin u.a. (Hrsg.): Der "Deutsche Herbst" und die RAF

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Titel
Der "Deutsche Herbst" und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven


Herausgeber
Colin, Nicole; Graaf, Beatrice de; Pekelder, Jacco; Umlauf, Joachim
Reihe
Histoire 2
Anzahl Seiten
231 S.
Preis
€ 22,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Vowinckel, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Literatur über die Rote Armee Fraktion und den „Deutschen Herbst“ fülle, so hört man es gelegentlich unken, ganze Bibliotheken – womit impliziert wird, der Gegenstand sei überforscht und der RAF werde mehr Bedeutung zugeschrieben, als sie verdiene. Tatsächlich hat die 30. Wiederkehr des „Deutschen Herbstes“ eine Fülle von Publikationen auf den Markt gebracht, von denen die Welt einige nicht gebraucht hätte. Diesen Vorwurf muss sich das deutsch-niederländische (und geschichtswissenschaftlich-germanistische) Team von vier Herausgebern des vorliegenden Sammelbandes indes nicht anziehen. Vielmehr eröffnet der Band Perspektiven, die in zweierlei Hinsicht neu sind: Zum einen erschließen die Beiträge die Außenperspektive der niederländischen Nachbarn auf ein deutsches Phänomen; zum anderen ist es den Herausgeberinnen und Herausgebern gelungen, mit Michael Buback einen Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen, der sich nicht wegen, sondern trotz des persönlichen Bezugs zu Wort meldet. Darüber hinaus führt der Band einen kulturwissenschaftlichen und vergleichenden Ansatz fort, der sich in der Forschung seit einigen Jahren abzeichnet und sich nicht zuletzt im Kontext der Rezeptionsgeschichte der RAF als sehr förderlich erwiesen hat.

Der Band ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste Abschnitt behandelt internationale Aspekte der RAF-Rezeption, der zweite den „Deutschen Herbst“ als Kommunikationsereignis, und der dritte versammelt verschiedene Zeitzeugenberichte. Das große Verdienst des ersten Teils ist es, die deutschen Geschehnisse aus der Perspektive der Niederländer zu beschreiben. Diesem Unterfangen widmen sich die Beiträge von Jacco Pekelder und Janneke Martens, während Beatrice de Graaf in ihrer Untersuchung über Terrorismusbekämpfung in den 1970er-Jahren auch die Vereinigten Staaten als dritte Vergleichsgröße mit einbezieht. Alle drei Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass die Niederländer deutliche Sympathien für die ursprünglichen Ziele der RAF entwickelten – Sympathien, die weniger der terroristischen Ideologie und Praxis geschuldet waren als vielmehr dem Umstand, dass die RAF in ihrer Rhetorik die Bundesrepublik als Ansammlung von Altnazis darstellte und damit ein Bild bediente, das in den Niederlanden ohnehin recht verbreitet war. Antideutsche Affekte wurden verstärkt, und die Sympathien für die RAF ebbten erst ab, nachdem RAF-Mitglieder bei Schießereien in Utrecht einen niederländischen Polizisten getötet und in Amsterdam drei weitere verletzt hatten. Gleichwohl wurden die Reaktionen der Bundesregierung auf den Linksterrorismus in der vergleichsweise liberalen niederländischen Gesellschaft als ‚überzogen’ wahrgenommen, zumal die eigenen Strafverfolgungsinstanzen bei der Bekämpfung der (wenigen) linksterroristischen Anschläge in Holland eher auf Dialog, Reintegration und die Vermeidung von Publicity(!) setzten.

Der Blick auf die Terrorismusbekämpfung der USA ergibt allerdings, dass dort noch weit härtere Maßnahmen ergriffen wurden als in der Bundesrepublik. Dies betonen sowohl Beatrice de Graaf in ihrem strukturell vergleichenden Beitrag zur Bekämpfung politischer Gewalt als auch Ingrid Gilcher-Holtey in einem Aufsatz über spielerische Strategien der radikalen Linken in den USA sowie Bob de Graaff in einem Beitrag, der den Terrorismus der 1970er-Jahre mit demjenigen der Jahrtausendwende („9/11“) vergleicht.

Nachgerade brillant ist der Beitrag von Nicole Colin, die anhand zweier Theaterinszenierungen der letzten Jahre (Michel Deutsch: „La décennie rouge. Mensch oder Schwein“, eigene Inszenierung; Elfriede Jelinek: „Ulrike Maria Stuart“ in der Inszenierung von Nikolaus Stemann) und der damit verbundenen Diskurse die Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Wahrnehmung der RAF aufzeigt. Als Erklärung dafür, dass die RAF in Deutschs Stück didaktisch rekonstruiert wird, während Jelinek sich in postmoderner Dekonstruktion übt, nennt Colin den Umstand, dass in Frankreich noch die Zeitzeugen die Deutungsmacht innehätten, während der deutschsprachige Diskurs zunehmend von einer jüngeren und distanzierteren Generation getragen werde. Über diese These mag man streiten, aber der Vergleich der beiden Stücke ist dessen ungeachtet äußerst erhellend.

Der zweite Teil des Sammelbandes beginnt mit einer knappen, aber umso ergiebigeren Darstellung des Forschungsstands durch Klaus Weinhauer, der den „Deutschen Herbst“ als Kommunikationsereignis analysiert. Es folgen Einzelstudien zur Bedeutung des Körpers bzw. des Todes für die Terroristen (Klaus-Michael Bogdal), über die Ikonografie des RAF-Logos (Rolf Sachsse), die Bedeutung der Auseinandersetzungen um die Haftbedingungen für die RAF und ihre Rezeption in der Öffentlichkeit (Martin Jander), die Rolle Heinrich Bölls im Kontext der 1970er-Jahre (Angelika Ibrügger) und, abschließend, eine Untersuchung der Terrorismusdiskurse im Spiegel der Presse der 1970er-Jahre (Hanno Balz). Dieser Teil verstärkt in seiner Gesamtheit den Trend, die RAF nicht (mehr) vorrangig als politisches Phänomen zu untersuchen, sondern ihre kulturgeschichtliche Bedeutung auszuleuchten – wobei sich vor allem in dem sehr erhellenden Beitrag von Rolf Sachsse die Mikroperspektive auf das RAF-Logo äußerst produktiv mit der Makroperspektive auf staatsfeindliche Kulturen des 20. Jahrhunderts verbindet.1

Im dritten Teil des Bandes gelingt ein schwieriges Unterfangen: Hier wird die wissenschaftliche Perspektive auf die Opfer der RAF mit der Perspektive des Opfers (bzw. eines Angehörigen) verbunden. Nicole Colin eröffnet diesen Teil mit der zugespitzten These, dass „der Versuch, die ‚Opferperspektive’ historisch oder politikwissenschaftlich zu berücksichtigen, definitiv nur da gelingen [könne], wo [...] sich Opfer von Gewalttaten oder ihre Angehörigen öffentlich zu Wort melden und damit gesellschaftliche Diskussionen auslösen oder gar juristische Reaktionen provozieren“ (S. 194). Der von Michael Buback im Kontext der Aufklärung des Mordes an seinem Vater, dem Generalbundesanwalt Siegfried Buback, geleistete Beitrag sei „historisch darum so interessant, weil er die Befindlichkeitsbeschreibungen von Anne Siemens deutlich übersteigt“ (ebd.).2

Tatsächlich spricht Michael Buback nur sehr zögerlich von seiner eigenen ‚Betroffenheit’ und konzentriert sich in seinem Beitrag auf eine Frage, die sowohl von historischem als auch von juristischem Interesse ist: Die Sichtung verschiedener Zeugenaussagen und Prozessunterlagen bringt ihn zu der Annahme, dass sein Vater möglicherweise von dem RAF-Mitglied Verena Becker erschossen wurde, die für diese Tat nie vor Gericht stand und für andere Straftaten nur neun Jahre Haft verbüßt hat. Als Grund für die schonende Behandlung vermutet Buback eine Verbindung zwischen Becker und dem Bundeskriminalamt (BKA), die er zwar erklärtermaßen nicht selbst nachweisen kann, die er aber gern aufgeklärt sähe. Eine Verstrickung des BKA in den Mordfall wäre, so Buback, „nicht allein für uns als Angehörige schwierig zu ertragen, es würde auch generell die Frage aufwerfen, ob die hieran beteiligten Ämter oder Dienste dieselbe Verfassung schützen, für die mein Vater gearbeitet und gelebt hat und für die er und seine Begleiter gestorben sind“ (S. 207). Buback wird hier vom Zeitzeugen zum Historiker und zum Detektiv (die Verbindung zwischen den beiden letzteren hat Carlo Ginzburg einmal eindrücklich beschrieben3). Allerdings möchte Buback den Fall nicht neu aufrollen, „wenn es wirklich nur noch unsere Familie interessiert“ (S. 206). So viel persönliche Bescheidenheit wirkt schon fast beschämend. Es wäre zu wünschen, dass der Sammelband einen Anstoß gibt, dass es dabei nicht bleibt.

Das Verdienst der Herausgeberinnen und Herausgeber ist es in jedem Fall, eine produktive Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Zeitzeugen initiiert zu haben, die sich jenseits von Schuldzuschreibungen, politischen Positionierungen und Betroffenheitspathos bewegt und die moralische, historische und kriminalistische Fragen aufwirft, ohne sie vorschnell zu beantworten.

Anmerkungen:
1 Dieser Text ist auch online verfügbar: <http://www.zeitgeschichte-online.de/portals/_rainbow/documents/pdf/raf/Sachsse2008.pdf>, (20.04.2009).
2 Anne Siemens, Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die andere Geschichte des deutschen Terrorismus, München 2007; rezensiert von Gisela Diewald-Kerkmann in H-Soz-u-Kult: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-131>, (20.04.2009).
3 Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fähre, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: ders., Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 7-57.

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