Titel
Kaiser Wilhelm II. in der Politik seiner Zeit. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist der Moderne


Autor(en)
Straub, Eberhard
Erschienen
Berlin 2008: Landt Verlag
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Bormann, Neuere Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Der 150. Geburtstag Kaiser Wilhelms II. am 18. Januar 2009 hat, wie Jahrestage es so mit sich bringen, die publizistische Beschäftigung mit dem letzten deutschen Kaiser belebt, wobei sich die Debatte auf drei neu erschienene bzw. übersetzte Biographien stützen konnte. Langfristiger angelegt war die nun vollendete Wilhelm-Biographie des deutsch-englischen Historikers John C. G. Röhl, die ein sehr kritisches Bild des Monarchen zeichnet.1 Zudem wurde auch die Arbeit von Christopher Clark, die seit acht Jahren in englischer Sprache vorliegt, ins Deutsche übersetzt.2 Die hier vorzustellende Wilhelm-Biographie Eberhard Straubs, herausgegeben von der Gesellschaft für Wilhelminische Studien e.V. und gestaltet in den Farben schwarz, weiß und rot, stellt den Versuch dar, das dominierende negative Urteil über den letzten deutschen Kaiser grundlegend zu revidieren.3 Entsprechend warb der Landtverlag mit der Ankündigung, Straubs Wilhelm-Biographie könne als Gegenentwurf zum soeben vollendeten Werk Röhls gelesen werden. Diese Erwartung erfüllt Straub lediglich insofern, als seine Biographie im Gegensatz zu Röhls Arbeit kurz und kaiserfreundlich, im Übrigen quellenarm ist. Inhaltlich vermag seine Deutung nicht zu überzeugen.

Innerhalb der insgesamt sechs chronologisch geordneten Kapitel schildert der Verfasser zunächst in zwei Kapiteln sehr ausführlich Kindheit, Jugend und das junge Mannesalter des späteren Kaisers, die Jahre, in denen Wilhelm auf sein Amt vorbereitet wurde. Die an bürgerlichen Idealen orientierte Erziehung verurteilt Straub als einem Monarchen unangemessen. Überhaupt bewertet er den Liberalismus, den er als „diffuse Geisteshaltung“ abqualifiziert, äußerst schlecht. So sei es der „Zeitvertreib aller unverstandenen Liberalen: zu kritisieren, zu räsonieren und alles besser zu wissen“ (S. 119). Die militärische Ausbildung im Ersten Garderegiment hingegen beurteilt Straub positiv: Sie sei eine hohe Schule der Courtoisie und sogar der Liebenswürdigkeit gewesen (S. 81).

Die folgenden beiden Abschnitte sind der Innenpolitik der wilhelminischen Zeit im weiteren Sinne gewidmet. Als Gegenentwurf zu Röhl widerspricht Straub vor allem dessen Charakterisierung der Herrschaft Wilhelms als „Persönliches Regiment“. Der Versuch „begabter Könige“, ein solches innerhalb des Verfassungsrahmens zu etablieren, sei nichts Außergewöhnliches. Dennoch werde „eine solche Absicht nur Kaiser Wilhelm II. als schockierende und höchst beunruhigende Bemühung vorgeworfen“ (S. 165f.). Anders als Röhl und mit gutem Grund hebt Straub Wilhelms Abhängigkeiten von parlamentarischen Mehrheiten oder der Bürokratie hervor. Als wichtigste Einflussmöglichkeit blieb dem Kaiser jedoch die Entscheidungsgewalt in der Personalpolitik. Zwar konzediert Straub der gängigen und mit zahlreichen Quellen belegten Forschungsmeinung, dass Wilhelm „unter Umständen seinen Launen und Neigungen“ (S. 167) folgte, zugleich betont er aber die hohe Qualität der Entscheidungen, dass kein Reichskanzler „unfähig oder ungeschickt“ gewesen sei und dehnt dieses Urteil auch auf andere Spitzenbeamte aus.

Manche Deutung Straubs ist durchaus originell. So erklärt er die schon zeitgenössisch beklagte Nervosität des Kaisers, sein Schwanken oder seine „Plötzlichkeit“ als den Versuch, „die Einwände der jeweiligen Gegner seiner vom Reichskanzler formulierten Politik zu bedenken, manchmal aufzugreifen und im Meinungsbildungsprozess zu berücksichtigen“ (S. 151). Wilhelms Eingriffe in Verwaltungstätigkeiten, die die Betroffenen oftmals verzweifeln ließen, versteht Straub als Reaktion auf eine „Abschottung der Behörden und Ministerien“, die „in halbgöttlicher Selbstherrlichkeit jede Vorstellung kollegialer Zusammenarbeit verloren“ (S. 168). Während Zeitgenossen sich – wie später die Historiographie – über die Existenz einer „Kamarilla“, die einen privilegierten Zugang zum Monarchen besaß, weitgehend einig waren, glaubt Straub in den Klagen über diese Konstellation nur eine Absicht zu erkennen: den Wunsch, „selber in den innersten Kreis um den König und Kaiser vorzustoßen“ (S. 177). Nach Straub war Wilhelm ein Monarch, der über den Dingen stand, der zwischen den sich in Detailfragen verheddernden Ministern und Bürokraten zu vermitteln suchte und der das Deutsche Reich in eine der „großartigsten Epochen“ (S. 15) der deutschen Geschichte führte.

Im fünften Kapitel zur wilhelminischen Außenpolitik – überschrieben mit dem Titel „Wilhelm der Friedfertige“ – betont Straub zu Recht, dass es nicht der Kaiser, sondern dessen Regierung war, die den Kurs des Deutschen Reiches bestimmte. Viele Unzulänglichkeiten, zum Beispiel der oft bemängelte Zick-Zack-Kurs, sind weniger dem Kaiser als insbesondere Bernhard von Bülow anzulasten, der für zwölf Jahre die Außenpolitik leitete. Die von Wilhelm initiierte deutsche Flottenpolitik diskutiert Straub hingegen nur im Rahmen der innenpolitischen Analyse. Dort würdigt er sie als integrierendes Moment. Ihre verhängnisvolle außenpolitische Wirkung thematisiert er hingegen nicht. Die von Straub implizit vertretene These, der Kaiser habe es in den meisten Fällen besser gewusst als seine Reichskanzler und das Auswärtige Amt, ist hingegen nicht zu belegen. Man muss sicher nicht so weit wie Röhl gehen und dem Kaiser die Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch 1914 zuschreiben. Denn letztlich gehörte Wilhelm nicht zu den Befürwortern eines Präventivkriegs.4 Aber ganz sicher haben beispielsweise seine oft martialischen Reden – man denke nur an die so genannte „Hunnenrede“5 – den außenpolitischen Diskurs des Kaiserreichs negativ beeinflusst und die Bereitschaft zu radikalen Lösungen gestärkt.

Der Kriegskaiser, dem das letzte Kapitel gewidmet ist, war für Straub ein sozialer Volkskaiser. Übereinstimmend mit der deutschen Propaganda des Ersten Weltkrieges erscheint Wilhelm als Einiger des Volkes. Entgegen Straubs Deutung war der berühmte Ausspruch des Kaisers, er kenne keine Parteien mehr, allerdings keineswegs als Integrationsangebot an die früheren „Reichsfeinde“ gedacht, sondern als Erneuerung des monarchischen Führungsanspruchs, hinter dem sich das Volk nun sammeln sollte. Tirpitz und Hindenburg, die im Weltkrieg gegen die zivile Reichsleitung und den Kaiser opponierten, deutet der Verfasser als in Bismarcks Tradition stehende Vorläufer der konservativen Revolution. Tatsächlich war es vor allem die Neue Rechte, die schon vor Kriegsausbruch die Herrschaftslegitimation des Kaisers konsequent in Frage stellte und die Nation zum obersten Leitstern politischer Entscheidungen machte.6 Leider stellt Straub allerdings nicht die Frage, welchen Anteil Wilhelm selbst an dieser Entwicklung gehabt hat. Entsprechend einseitig ist sein Urteil, dass die „Zerstörung der deutschen Politik“ (S. 323) – was auch immer damit gemeint sein soll – mit dem Sturz Bethmann Hollwegs eingesetzt habe. Im Sommer 1917 sei demnach die Ausgangslage für das Deutsche Reich noch günstig gewesen, ein umsichtiger Friede mit dem revolutionären Russland hätte den europäischen Frieden einleiten können: „Hindenburg und Ludendorff führten Deutschland in die Katastrophe“, so Straub. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die Katastrophe für Deutschland und Europa schon im Juli/August 1914 begann und die damals verantwortlichen Männer eben der Kaiser und sein Reichskanzler gewesen sind. Hindenburg und Ludendorff und ihre verhängnisvolle Politik sind erst durch den Krieg möglich geworden.

Der Versuch Straubs, die Politik Wilhelms einer stringenten Deutung zu unterwerfen, scheitert daran, dass Wilhelm II. in Wirklichkeit nicht in der Lage war, eine zielgerichtete Politik über Jahre zu verfolgen, die ein Reflexionsniveau vorausgesetzt hätte, das er nach Quellenlage nie erreicht hat. Zu flüchtig war seine Beschäftigung mit politischen Fragen, zu groß seine Abneigung gegen intensives Aktenstudium, zu lästig schienen ihm die Vorträge seiner Kanzler und Minister, als dass er sie regelmäßig ertragen hätte. Wilhelm II. war kein großer Kaiser, wie dies aus der Darstellung Straubs hervorzugehen scheint. Seine Reden und Taten haben gerade auf dem Feld der Außenpolitik mehr Schaden als Segen angerichtet und im Innern hat er eher entzweiend als einigend gewirkt. Sicher, er war nicht nur ein Kind seiner Zeit, die er wie kein zweiter verkörperte. Er gestaltete sie auch durch zahlreiche konkrete Eingriffe, beispielsweise im Bereich der modernen Technik, mit.7 Darin liegen die Gründe für seine lange ungebrochene Popularität in weiten Teilen der Bevölkerung, und dies noch einmal zu betonen, ist ein Verdienst der Biographie Straubs. Dennoch ist die Bilanz Kaiser Wilhelms alles in allem negativ und der Rehabilitierungsversuch Straubs vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern.

Anmerkungen:
1 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900-1941, München 2008.
2 Christopher Clark, Die Herrschaft des letzten Deutschen Kaisers, München 2008; englisch: Christopher Clark, Kaiser Wilhelm, London 2000.
3 Straub steht damit in der Tradition des im letzten Jahr verstorbenen Nikolaus Sombart, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996.
4 Vgl. hierzu auch Clark, Kaiser, S. 197-202.
5 Vgl. Röhl, Wilhelm, S. 110ff.
6 Vgl. hierzu J. R. Smith, A People’s War. Germany’s Political Revolution 1913-1918, Lanham 2007.
7 Vgl. Wolfgang König, Wilhelm II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt, Paderborn 2007.