I. Haar u.a. (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften

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Titel
Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen - Institutionen - Forschungsprogramme - Stiftungen


Herausgeber
Haar, Ingo; Fahlbusch, Michael, unter Mitarbeit von Matthias Berg
Erschienen
München 2008: K.G. Saur
Anzahl Seiten
846 S.
Preis
€ 198,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Wagner, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Geschichte völkischer Strömungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften hat sich seit etwa zwei Jahrzehnten zu einem inzwischen ebenso tief wie breit umgegrabenen Forschungsfeld entwickelt. Nachdem sich der 42. Historikertag in Frankfurt am Main 1998 eingehend und teilweise spektakulär mit den einschlägigen Vergangenheiten einiger Leitfiguren der bundesdeutschen Geschichtswissenschaften beschäftigt hat, kann man geradezu von einem veritablen Forschungsboom sprechen. Die Erträge dieser Forschung in einem Handbuch zu bündeln, den Forschungsstand an einem Ort zusammenzufassen und den Interessierten einen soliden Ausgangspunkt für eigene Fragen und Themen zu liefern, muss da als überaus sinnvolles – freilich angesichts der Vielfalt von Aspekten und der Fülle einzuarbeitender Literatur auch als ein extrem anspruchsvolles – Unterfangen gelten. Ingo Haar und Michael Fahlbusch – ausgewiesene Experten und nicht zuletzt Trendsetter des Forschungsfeldes – haben sich dieser Herausforderung gestellt und über 80 Autorinnen und Autoren gewonnen. Jeder, der einmal das Vergnügen hatte, einen Sammelband zu konzipieren, Mitschreibende zu finden, zu motivieren, bei der Stange zu halten und durch Kritik zur Optimierung ihrer Beiträge anzuhalten, ahnt, welche Arbeit das bedeutet haben muss. Das Ergebnis sind 846 eng bedruckte Seiten mit mehr als 140 Artikeln über Personen, Institutionen und Felder völkischer Wissenschaft in Deutschland zwischen Weimarer und früher Bundesrepublik.

An ein solches Werk kann man beckmesserisch herangehen: Natürlich wird man in so vielen Texten so vieler Autorinnen und Autoren Fehler finden, und man kann immer behaupten, unverständlicher Weise fehle genau jener Aspekt, jenes Thema und jene Person, über die man selbst zufällig hervorragend Bescheid weiß und die man daher für den Nabel der (eigenen) Welt hält. Etwa 40 ursprünglich geplante Artikel sind auf dem langen Weg von der Idee zum Buch auf der Strecke geblieben, berichten eingangs die Herausgeber. Und vor allem bei der Darstellung der nicht so leicht zu fassenden Grundkategorien völkischer Wissenschaft klaffen in der Tat einige schmerzhafte Lücken. So findet man zum Beispiel zwar einen Artikel zur „Volksgemeinschaft“, aber keine Beiträge zu den ebenso zentralen Kategorien „Deutschtum“, „Volkstum“, „Volksdeutsche“ oder „Umvolkung“, obwohl die Herausgeber in ihrem Vorwort explizit darauf hinweisen, letzteres sei eine wichtige Kategorie. Dafür findet man mitunter Themen, für deren Aufnahme ins Handbuch nur gesprochen haben dürfte, dass es einen schreibwilligen Autor gab. Warum man beispielsweise die Anstalt für Germanische Volks- und Rassenkunde in Hannover kennen sollte, obwohl diese nur einige Monate im Jahr 1943 existierte und unklar bleibt, was da eigentlich getrieben wurde, ist mir ebenso unverständlich wie die Funktion des Artikels über den am 9. November 1923 beim Münchner Hitlerputsch ums Leben gekommenen Max Erwin von Scheubner-Richter. Dessen Rolle als Augenzeuge des türkischen Genozids an den Armeniern ab 1915 ist bemerkenswert, und Nationalsozialist war er auch, aber was verbindet ihn mit völkischer Wissenschaft?

Da das Buch in mehrjähriger Arbeit entstanden ist, dürften die Texte einiger Autoren gemessen am aktuellen Forschungsstand schon leicht veraltet gewesen sein, als endlich die letzten Texte eintrafen. So scheint es etwa dem Beitrag über „Ostforschung“ ergangen zu sein, der zu seinem Schaden nicht nur die bahnbrechende Studie von Corinna Unger nicht erwähnt oder erkennbar benutzt hat.1 Überhaupt haben einige Autorinnen und Autoren, die selbst in der Detailforschung stecken, es allzu oft vorgezogen, auf von ihnen entdeckte Archivalien statt auf die einschlägigen Publikationen anderer Forscherinnen und Forscher der letzten Jahre hinzuweisen. Das mag Sachkunde en detail dokumentieren, geht aber an den Bedürfnissen der wichtigsten Zielgruppe eines Handbuches, die in aller Regel Basisinformationen und Orientierung in einem inzwischen schwer überschaubaren Forschungsfeld sucht, vermutlich etwas vorbei. Auch die Schwerpunktsetzungen mancher Autoren verdanken sich eher ihren speziellen Forschungsinteressen als einem weiteren Überblick. So hat mich etwa die rechtshistorische Schlagseite des Artikels zur „Volksgemeinschaft“ nicht überzeugt. Hier und an anderen Stellen – beispielsweise beim allzu detaillierten, mit zwölf Seiten deutlich überdimensionierten Artikel über die Stiftungen des Hamburger völkischen Kaufmanns Alfred C. Toepfer – hätten die Herausgeber ihre redaktionelle Verantwortung konsequenter wahrnehmen können.

Diese und manch andere Kritik im Detail kann man anmelden, kein Zweifel – aber auch kein Wunder bei einem solchen Werk. Das eigentlich Wichtige aber ist: Unbeschadet einzelner Missgriffe, fragwürdiger Interpretationen – aus Werner Conzes Texten herauszulesen, dieser habe „auch nach 1945 die Judenverfolgung weiter (ge)rechtfertigt“ (so Werner Lausecker, S. 103) ist denn doch überzogen – und Auslassungen erfüllt das Handbuch im Wesentlichen seine Dienstleistungsfunktion: Es liefert zumeist solide Grundinformationen, taugt als Nachschlagewerk zu seinem Themenfeld und bietet den Interessierten sinnvolle Ausgangspunkte für weitere Recherchen und Lektüren. Wenn es grundsätzlich etwas zu monieren gibt, dann ist es der doch etwas abgegriffene Gestus der Entlarvung und des Verfechtens der schlimmen Wahrheit gegenüber einer Phalanx von Verdrängern und Verharmlosern, den manche Beiträgerinnen und Beiträger an den Tag legen. Dass die Pionierinnen und Pioniere auf diesem Forschungsfeld – wie zum Beispiel die beiden Herausgeber – mit vielen Widerständen zu kämpfen hatten, ist wahr, wird aber selbst nun langsam zu einem Phänomen der Wissenschaftsgeschichte. Vor allem aber: Den Blick auf die Entwicklung und den Stand der einschlägigen Forschung schärft es nicht unbedingt, wenn man all jene, die andere Interpretationen vertraten oder vertreten als man selbst, moralisch zu disqualifizieren statt argumentativ zu widerlegen versucht. Die Shoa durch eine „kumulative Radikalisierung“ oder die Dynamik der nationalsozialistischen „Polykratie“ zu erklären, ist wissenschaftlich ganz gewiss unzureichend, aber solche Interpretationen unter der Rubrik „apologetische Sichtweise“ zu subsummieren (so die Herausgeber, S. 8), ist denn doch intellektuell etwas schlicht.

Die Rezension mit dieser Kritik zu beenden, würde aber dem Buch nicht gerecht. Es zustande gebracht zu haben, ist eine große Leistung seiner Herausgeber. Es kann der weiteren Forschung als Basisstation dienen und wird interessierten Studentinnen und Studenten als Einstiegs- und Nachschlagewerk zu seinem Themenfeld von gutem Nutzen sein. Und genau das sollte ein Handbuch eben vor allem sein: brauchbar.

Anmerkung:
1 Corinna Unger, Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1945–1975, Stuttgart 2007.

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